gehalten beim Symposium „Kompetente Erziehung für kompetente Kinder“ am 8.11.03 in Düsseldorf. Veranstalter des Symposiums waren die Freie Schule Düsseldorf und die DGhK Rhein-Ruhr.
Originalton eines hoch begabten Mädchens, 11 Jahre, 7. Klasse eines Düsseldorfer Gymnasiums, das am frühen Nachmittag grade aus der Schule zurück gekehrt ist:
„Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute hin gegangen bin??? Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute 6 Stunden gesessen habe??? Soll ich dir mal sagen, was ich da heute gelernt habe??? Nichts! Wieder mal: Nichts!!!“
Dauer-Frustration, die sich in Wut äußert. Wut auf die Schule, die Lernbedürfnisse nicht erfüllt, die zum Absitzen des Unterrichts und zu viel zu viel Anpassung zwingt. Gut, wenn die Wut so klar gefühlt und geäußert wird. Gut, wenn die Wut sich konstruktive Bahnen sucht und zu Mut wird: Mut, mit 11 Jahren Sprachkurse an der Volkshochschule zu besuchen, später ins Internat zu ziehen und noch später ins Ausland zu gehen, um zu lernen.
Aber wie viel besser erscheint es mir, wenn die Schule sich ändert, wenn die Schule auch hoch begabten Schülerinnen und Schülern vor Ort so viele Anregungen und geistigen Herausforderungen bietet, dass die Kinder und Jugendlichen sich dort wohl fühlen und ihre Kräfte effektiv fürs Lernen verwenden können.
Wie das gehen kann, habe ich an der Braunschweiger Christophorusschule gesehen. Aber Braunschweig, Rostock und Königswinter (die Standorte der Christophorusschulen mit Hochbegabtenförderung) sind weit – und deshalb begrüße ich die Initiative zur Gründung der Freien Schule in Düsseldorf. Ich möchte alle Beteiligten zu ihrer Idee, zu ihrem Konzept und zu der bisher geleisteten Arbeit beglückwünschen.
Warum heißt mein Vortrag „Mut zum freien Lernen und Lehren“?
Weil Lehrer und Schüler Mut brauchen, um vom Üblichen abzuweichen und ungewohnte Wege zu gehen. Aber auch, weil es verschiedene Ängste gibt, die die Lernprozesse hoch begabter Kinder hemmen und behindern können. Zur Überwindung dieser Ängste brauchen die Kinder eigenen Mut und beständige Ermutigung durch Eltern und Lehrer.
1.) Da ist zunächst die Angst vor dem Anders-Sein; die Angst vor Ausgrenzung, vor Ablehnung; die Angst davor, als überheblich zu gelten, nicht verstanden zu werden.
Jawohl, hoch begabte Kinder sind anders; sie haben von klein auf andere Spiel- und Lernbedürfnisse als durchschnittlich begabte Kinder, und zwar vor allem in den Bereichen, in denen ihre Hochbegabung liegt. Manche Tätigkeiten, die anderen Kindern viel Spaß machen, reizen sie nicht. Anderseits fühlen sie sich zu Tätigkeiten hingezogen, die Andere noch nicht oder überhaupt niemals interessieren.
Was hilft gegen diese Angst?
Der Mut von Erwachsenen, mit diesen Unterschieden offen und klar umzugehen. Die Ermutigung, auch intellektuelle Stärken bei sich selbst und bei Anderen Wert zu schätzen und frei zu entwickeln. Damit hoch begabte Kinder zu ihren oft ungewöhnlichen Interessen und Gedanken stehen können, ohne sie zu verbergen oder zu verleugnen, brauchen sie eine Schule, die Begabungsunterschiede, unterschiedliche Lernwege und ungleiches Lerntempo als Tatsachen begreift und damit umgehen kann.
Dies gelingt um so leichter, wenn nicht nur ein hoch begabtes Kind einsam und verstreut in der Klasse sitzt, sondern wenn mehrere das Lernklima mitbestimmen.
2.) Da ist weiter die Angst vor negativen Reaktionen aus der Umwelt. Die Angst vor Unverständnis und Isolation. In vielen Fällen – gerade in ländlichen Regionen – kommt das Benennen von besonderen Fähigkeiten und Lernbedürfnissen des Kindes einem Outing gleich, mit allen möglichen unsicheren und belastenden Reaktionen aus Verwandtschaft und Bekanntschaft.
Das Kind auf eine besondere Schule zu schicken, schafft Erklärungsbedarf, und längst nicht Alle werden es verstehen und gut heißen.
Andererseits kann das bloße Vorhandensein von Institutionen, die erklärtermaßen die Bedürfnisse hoch begabter Kinder Ernst nehmen, dazu beitragen, die Situation mittelfristig selbstverständlicher erscheinen zu lassen. Die Schule ermöglicht Kontakt und Austausch zu anderen „Betroffenen“, was auf Kinder und Eltern unmittelbar entlastend wirkt. Trotzdem brauchen die Ersten, die eine solche Schule in der Region gründen und besuchen, viel Mut und gegenseitige Stärkung, um Ignoranz und Ablehnung zu verkraften.
Etliche Eltern werden diesen Weg vorziehen, weil sie wissen, wie Kraft raubend es ist und wieviel Mut immer wieder aufgebracht werden muss, um sich mit einer Schule auseinander zu setzen – oft auch noch erfolglos auseinander zu setzen -, die Hochbegabtenförderung gar nicht oder nur halbherzig in ihrem Programm hat.
3.) Da ist die Angst von Eltern, ihr hoch begabtes Kind könnte zum Außenseiter und Eigenbrötler werden, es könnte keine Freunde finden.
Dieser Angst ist nicht beizukommen, indem das Kind zur Anpassung gedrängt wird. Ermutigend sind positive Gruppenerfahrungen, das Suchen nach „wirklichen“ Freunden, das erfolgreiche Zusammenarbeiten auch mit ähnlich Begabten und Interessierten. Sie brauchen – außer den vielen anderen Kindern – auch andere Hochbegabte, um genügend Anregungen zu erhalten und auch geben zu können.
In der Regelschule – oder auch schon im Kindergarten – machen hoch begabte Kinder immer wieder die Erfahrung, dass sie besser davonkommen, wenn sie allein spielen oder arbeiten, weil sie nur so ihre Ideen bis zum Ende verfolgen können: so wird die Grundlage für Eigenbrötelei gelegt.
Ermutigend zur Zusammenarbeit ist für hoch begabte Kinder ein Unterricht, vor allem ernsthafte fächerübergreifende Projektarbeit, die auf einem hohen Niveau stattfindet. Wichtig und förderlich ist auch die Möglichkeit zur selbstbewussten Präsentation der allein oder gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse. Das ermöglicht Erfolgserlebnisse, die auch hoch begabte Kinder zu Teamfähigkeit hinführen.
4.) Da ist die Angst der Lehrer und Eltern vor Ausnahmen von der Regel, vor der Eigenwilligkeit des Kindes. Auch das Kind, das schon das Pensum der 3. Klasse rechnen kann, muss als Hausaufgabe die Rechenkästchen der 1. Klasse machen, auch wenn dies sinnlos ist.
Ein Ernst nehmen der kindlichen Anstrengungsbereitschaft ist dies nicht. Gelassenheit und Großzügigkeit gegenüber unterschiedlichen Begabungen können Erwachsene und Kinder entwickeln, wenn der individuelle Lernprozess jedes Kindes den Unterricht ausfüllt und bestimmt. Hier wird für Schüler und Lehrer die gut begründete Ausnahme, der eigene Lernweg, das eigene Lerntempo zur Regel.
5.) Da ist bei Eltern und Lehrern die Sorge, dass das hoch begabte Kind die so genannten Sekundärtugenden (Fleiß, Ausdauer, Sorgfalt, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten usw.) nicht lernt, wenn es nicht zur Anpassung an das Durchschnittsniveau bereit ist.
Es soll Frustrationstoleranz erwerben und Ausdauer und Sorgfalt auch beim Erlernen von Dingen zeigen, die es längst kann. Eine absurde Situation. Die enorme Frustrationstoleranz, die das hoch begabte Kind schon aufbringt, indem es jeden Tag wieder in die Schule geht, die ihm wenig gibt, wird unterschätzt.
Und außerdem: Ob das Kind über Ausdauer, Sorgfalt und Kommunikationsfähigkeiten verfügt, lässt sich dort beobachten, wo das Kind auf seinem Niveau lernen darf – zum Beispiel beim Intelligenztests, oder auch, wie ich beobachten durfte, bei Gruppenangeboten für hoch begabte Kinder.
Die Sekundärtugenden oder wie sie heute oft genannt werden: die personalen Kompetenzen können nicht gelernt und verinnerlicht werden, so lange die Grundstimmung des Kindes depressiv oder aggressiv getönt ist, weil ihm Wichtiges vorenthalten und verweigert wird. Der Bereich der Hochbegabung – oder die Bereiche der Hochbegabung – müssen beständige Wertschätzung und emotionale Bestätigung erfahren und dürfen nicht als pädagogische Rute missbraucht werden.
6.) Da ist weiter die Angst vor einseitiger Entwicklung und Defiziten in Bereichen, in denen das Kind nicht hoch begabt ist. So wird oft erst „das Andere“, was dem Kind schwerer fällt, gefordert, ehe es sich mit seiner Domäne beschäftigen darf. Eine pädagogische Methode, die nicht funktioniert.
Erst dann, wenn dem Bereich der Hochbegabung genügend Zeit, genügend Raum, genügend Anregung zu Teil geworden ist, ist das Kind entspannt genug, um sich auch den weniger befriedigenden Dingen zuzuwenden.
Die Frage ist: was ist genügend Zeit oder Anregung?
Schwer zu beantworten. Wahrscheinlich sehr viel mehr, als man gemeinhin denkt. Wenn Hochbegabte ihre Ängste ablegen, Freunde finden (Kinder oder Erwachsene) mit derselben Wellenlänge, dann zeigen sie oft ein atemberaubendes Entwicklungstempo und eine zeitlich sehr umfangreiche Zuwendung zu ihrer Domäne oder zu spannenden Projekten, die zu ihrem Entwicklungsstand passen. Alles Andere wird zum Außerdemnoch und zum Nebenbei.
Von spannenden, herausfordernden Projekten und fächerübergreifendem Unterricht wird in der Regelschule viel geredet, und es finden recht wenig statt. Hier hat die Freie Schule enorme Möglichkeiten.
7.) Da ist die Angst vor Überforderung – der Überforderung des Kindes und der Eltern und Pädagogen. Erfahrungen aus meiner Beratungszeit zeigen: Lehrer zeigen nach Gesprächen guten Willen, sie erhöhen den Schwierigkeitsgrad. Das sechsjährige Kind muss nicht mehr mit der Klasse mitrechnen: 7+5, sondern darf 17+15 rechnen. Vielleicht kann es das aber auch schon lange und möchte nun wissen, was 17 geteilt durch 15 ist und was das Komma im Ergebnis eigentlich bedeutet. Der wohlmeinende Versuch des Lehrers läuft ins Leere. Er fühlt sich durch die weitere Unlust des Kindes bestätigt, dass nicht die zu leichten Aufgaben die Ursache von Schwierigkeiten waren – sondern vielleicht der Druck, den die Eltern ausüben. Was für ein fataler Irrtum.
Um den Entwicklungsstand des Kindes auszuloten und daran anzuknüpfen, sind eine entsprechende souveräne Einstellung des Lehrers, aber auch kleine überschaubare Lerngruppen nötig. Dann kann auch die Angst vor dem ungewöhnlichen Lerntempo der Kinder abgebaut werden.
8.) Und dann ist da noch die Angst vor dem Loslassen. Hoch begabte Kinder zeigen ein frühes komplexes Urteilsvermögen über die Situationen, in denen sie sich befinden. Dieses Urteilsvermögen und der Drang nach Selbstbestimmung wollen anerkannt sein.
Eine Bitte an die Eltern: Halten Sie Ihr Kind nicht zurück, wenn es die Welt erkunden und sein Glück suchen will. Lassen Sie die Kinder in die nahe und ferne Welt gehen. Das bringt auf lange Sicht die größte Nähe.
Manche psychische Schwierigkeiten und Blockaden, mit denen sich hoch begabte Kinder plagen, haben ihren Ursprung in einer langen Erfahrung von Verwirrung und Frustration. Manchmal beginnt schon im Kleinkindalter oder im Vorschulalter etwas gründlich schief zu laufen.
Deshalb setze ich mich dafür ein, dass Hochbegabung schon im Kindergarten erkannt wird und Erzieherinnen lernen dürfen, hoch begabte Kinder im Kindergarten angemessen zu fördern. …
Es ist wichtig für hoch begabte Kinder und ihre Eltern, dass es immer mehr kompetente Schulen und Kindergärten zur Hochbegabtenförderung gibt. Im Bereich Schule kann die Freie Schule Düsseldorf für die Region ein Lichtblick werden.
Kinder, die mit anderen hoch begabten Kindern zusammen lernen können, haben es leichter, ihre Lernbedürnisse anzumelden und durchzusetzen. Ihren Mut können die Kinder in einer Schule, in der frei und unbehindert gelernt werden kann, besser und effektiver einsetzen. Sie müssen sich nicht in (oft erfolglosen) Kämpfen um das Allerselbstverständlichste (Förderung entsprechend ihrem Entwicklungsstand) verschleißen, sondern können ihre Kräfte an interessanten Fragen erproben.
Eltern können ihre Fragen und Gedanken in einem hochbegabungsfreundlichen Schulklima unbedrängt und auf einem hohen Niveau einbringen. Lehrerinnen und Lehrer können in der Klasse und im Team effektive und befriedigende Arbeit leisten, ohne isoliert jeden Tag gegen Schema F, Pausenklingel, Fächergrenzen, zu große Klassen und Vorurteile gegenüber eigenwilligen Kindern anzukämpfen.
Bei all dem wünsche ich der Freien Schule Düsseldorf Unterstützung und gutes Gelingen!