Janna und die Prinzessingeschichte

von Annika Hensel

 

Janna (4;8 Jahre alt) ist über unsere Quote für hoch begabte Kinder in die Kita gekommen und wurde auch bereits (extern, wir testen nicht selbst) positiv auf Hochbegabung getestet.

Dabei erreichte sie in der Skala intellektueller Fähigkeiten (SIF) einen Gesamtstandardwert von 134 und einen entsprechenden Prozentrang von 99, also zeigt nur ein Prozent der Kinder ihres Alters in diesem Bereich gleich gute oder bessere Leistungen.
In der Skala einzelheitlichen Denkens (SED) erreichte sie einen Standardwert von 93, also 7 Prozent der gleichaltrigen Kinder können hier gleich gute oder bessere Leistungen erzielen.
Ihre Leistungen in der Skala ganzheitlichen Denkens (SGD) sind mit einem Standardwert von 142 und einem dazugehörigen Prozentsatz von >99 zu benennen. Dementsprechend schneiden weniger als ein Prozent der Kinder dieses Alters gleich gut oder besser ab. Folglich liegt bei Janna eine Hochbegabung vor.
In der Fertigkeitsskala (FS) erreichte Janna einen Standardwert von 98, nur 2 Prozent besitzen gleich gute oder bessere Fertigkeiten.

Die qualitative Beurteilung ihres Arbeits- und Kontaktverhaltens in der Testsituation ergab Folgendes:

Aufmerksamkeit: sehr gut konzentriert und motiviert,
Kontaktverhalten: gut kontaktfähig,
Ausdauer: gut ausdauernd,
Arbeitsgenauigkeit: sorgfältig, genau,
Arbeitstempo: (angemessen) schnell, zügig.

Vorüberlegungen

In der Kita beobachten wir, dass Janna ein sehr phantasiereiches Kind ist und Geschichten jeglicher Art liebt. Diese Geschichten erlebt sie förmlich und erfindet gerne etwas zu den Geschichten hinzu.
Um ein Projekt zu gestalten, das voll Jannas Bedürfnissen entspricht, liegt es also nahe, ein Projekt im Bereich Geschichten zu beginnen oder eine Geschichte als Theaterstück einzuüben.
Da Janna aber schon vor kurzem Mitglied unserer Theater-AG war, will ich ihr eine neuartige Herausforderung bieten.

So biete ich Janna an, eine Geschichte mit ihr zu schreiben.
Außer Janna wähle ich noch Leona (4;6 Jahre) und Christin (5;4 Jahre) aus. Für die Beiden entscheide ich mich, da Leona auch sehr aufgeweckt ist und Janna mit ihr eine Gleichaltrige bei dem Projekt hat, die in mancherlei Hinsicht auf Jannas Entwicklungsstand ist.
Christin ist älter als die Beiden, sie ist ein sehr intelligentes Kind, das Buchstaben liebt und schon vieles gerne schreiben möchte. Hier sehe ich die Möglichkeit, durch Christins Begeisterung für das Schreiben, Janna eine neue Herausforderung zu bieten, bei der sie direkt einen Interessenspartner hat, zumal ich schon beobachtet hatte, dass Janna sich für Buchstaben interessiert. Außerdem ist Christin ein sehr besonnenes Kind, das etwas Ruhe und System in unsere Runde bringen wird.

1. Treffen

Zu unserem ersten Termin hole ich die Drei aus ihrer Gruppe ab und erzähle ihnen, dass ich es toll fände, gemeinsam mit ihnen eine Geschichte zu schreiben. Zu dieser Geschichte könnten wir dann auch Bilder malen. Mit der Geschichte und den Bildern könnten wir dann zusammen ein Buch erstellen, und zwar mit Hilfe eines Programms auf meinem Computer.

Die Drei sind begeistert und wir überlegen gemeinsam, wie wir nun vorgehen wollen. Janna ist direkt wieder mit voller Phantasie dabei und erfindet alle möglichen Handlungen.
Dies geht uns anderen zu schnell und so schlage ich vor, dass wir uns zuerst einmal überlegen, um wen es in der Geschichte gehen soll – also wer die Hauptperson der Geschichte sein soll.

Janna schlägt eine Prinzessin Lillyfee vor, die von einem Wolf namens Wolfi gefressen wird. Das finden die beiden Anderen toll. Christin schlägt vor, dass es dann auch Lillyfees Eltern geben muss, einen König und eine Königin. Dem stimmen auch alle zu und Janna fordert, dass die Prinzessin auch einen Bruder haben muss, der Marco heißt – wie ihr Bruder. Die beiden Anderen sind einverstanden. Dann regt Janna an, dass es noch einen Drachen namens Kokosnuss geben müsse und ein Einhorn.

Ich schlage vor, dass wir es dabei belassen und uns erst mal überlegen, wie die Geschichte starten soll. Die Drei sind einverstanden. Also legen wir los und überlegen uns gemeinsam folgenden Anfang:

Die Prinzessingeschichte

Es war einmal eine Prinzessin, die Lillyfee hieß. Sie lebte in einem wunderschönen neuen Schloss in Rheinberg.

Auf Rheinberg kam Janna. Als ich sie frage, ob sie wisse, dass es die Stadt Rheinberg wirklich gibt, antwortet sie: „Klar, ich bin ja schon mal da gewesen“.

Dieses Schloss hatte auch einen Namen, der „Rhein“ lautete. Diesen Namen hatte das Schloss, weil es direkt am Rhein stand. Lillyfee wohnte zusammen mit ihrer Mama und ihrem Papa, der Königin und dem König, und ihrem kleinen Bruder Marco in diesem Schloss.

Ich merke, dass die Konzentration bei uns Vieren nachlässt, und schlage vor, am nächsten Tag mit dem Erfinden weiter zu machen, aber jetzt noch ein Bild zu malen, das zu dem ersten Teil unserer Geschichte passt.

Die Drei sind einverstanden. Jede von ihnen malt ein Bild. Dabei fällt mir aber schon auf, dass Janna wenig Spaß am Malen hat.

2. Treffen

Zu Beginn unseres zweiten Treffens lese ich den Mädchen erst einmal das schon geschriebene Stück vor. Und sofort sind sie wieder bei der Sache und Leona erfindet weiter:

Hinter dem Schloss war ein wunderschöner Wald, in dem es viele alte Bäume und liebe Tiere gab.

Janna fährt fort:

Auch ein Drache mit Namen Kokosnuss lebte dort. Kokosnuss flog durch den Wald, als der König und die Königin und ihre beiden Kinder spazieren waren.

Alle Ideen sind von den Kindern, ich helfe ihnen lediglich bei den Formulierungen, indem ich das, was sie erfinden, in klare Sätze fasse, sie dann aber auch frage, ob diese Formulierung so richtig sei.

Gleichzeitig war der Wolf Wolfi unterwegs auf der Suche nach etwas zu essen. Der Wolf war sehr gruselig, denn seine Lieblingsspeise waren Königstöchter mit Entenspinat und Currysoße.

Auch heute malen wir wieder zum Abschluss ein passendes Bild, aber außer Christin ist augenscheinlich keine richtig bei der Sache. Zwar malen Leona und Janna auch etwas, aber keinen Wolf. Janna malt einen „Himbeerbaum“, der ja auch thematisch zum Abschnitt mit dem Wald passt.
Hier kommt mir der Gedanke, dass Janna vielleicht nicht gerne malt, weil ihre Bilder ihren Ansprüchen nicht genügen.

3. Treffen

Auch bei diesem Treffen sind die Mädchen voll motiviert, die Geschichte weiter zu schreiben, und sie wollen sie zu Ende bringen, damit wir dann mit dem gemeinsamen Schreiben am Computer loslegen können. So geht die Geschichte weiter (und diesmal kommt die Geschichte richtig in Schwung und die drei Mädchen zeigen sie große Ausdauer):

Während die Königsfamilie so weiter spazierte, kam Lillyfee eine tolle Idee: Sie wollte Blumen pflücken, weil ihre Mama heute Geburtstag hatte. Also ging sie langsamer als die Anderen, um nach Blumen zu gucken.

Als sie welche sah, bog sie ohne die Anderen ab. Dies sah Wolfi, der Wolf, und lief ihr hinterher.
Als Lillyfee eine Pause machte vom Blumenpflücken, sah Wolfi das und überlegte nicht lange und fraß Lillyfee einfach auf.
In der Zwischenzeit merkte die Königsfamilie, dass Lillyfee nicht mehr bei ihnen war, und alle machten sich große Sorgen. Also gingen sie Lillyfee suchen und sahen gerade noch, wie der Wolf Lillyfee fraß.
Da war die Königsfamilie so traurig, dass alle weinten, außer Marco.
Dann kam dem König aber die Idee, den lieben Drachen Kokosnuss und Einhorn um Hilfe zu bitten.
Also rief die ganze Familie laut das Einhorn und den Drachen Kokosnuss herbei:
„Kommt bitte schnell, liebes Einhorn und lieber Kokosnuss!“
Und da kamen auch schon der Drache Kokosnuss und das Einhorn herbei gelaufen.
Die Königin berichtete, was passiert war. Da schnappte sich der Drache den Wolf und hielt ihn fest und das Einhorn prickelte mit seinem spitzen Horn den Bauch vom Wolf auf. Und da sprang Lillyfee aus dem Bauch heraus.
Da sprach das Einhorn: „Wolfi, fresse nie wieder Menschenkinder mit Entenspinat und Currysoße, sonst schnappt dich der Drache und verschlingt dich sofort!“
Da lief der Wolf so schnell er konnte fort.
Nun waren alle glücklich und gingen zusammen zurück zum Schloss und feierten den Geburtstag von der Königin.

Ende

Über Jannas Idee mit dem Prickeln amüsieren sich alle Drei königlich.

Bei der heutigen Malaktion bestätigt sich, warum Janna nicht gerne malt. Als ich vorschlage, sie könnten ja den Drachen oder das Einhorn malen, weigert sich Janna. Sie erklärt, dass sie weder einen Drachen noch ein Einhorn malen könne.

Ich vermute, sie nimmt die Tiere anders wahr, als sie in der Lage ist, diese zu malen. Da ihr dieser Unterschied auffällt und ihre Zeichnung dann nicht so aussieht, wie sie das Tier wahrnimmt, lässt sie es lieber direkt sein.

Auch Leona äußert sich so, was zum einen ähnlichen Grund haben mag, aber zum anderen hat sie so auch einen Grund, mit Janna Quatsch zu machen. Janna bietet mir jedoch sofort eine Lösung an und fordert mich auf, ein Einhorn für sie zu malen, das sie dann ausmalen könnte. Dies mache ich und sage den Mädchen, dass ich auch nicht so gut malen kann wie andere Erwachsene und dass dies ja auch okay sei, meine Bilder seien ja schließlich auch schön, wenn auch nicht perfekt.

4. Treffen

Wir lesen noch mal die Geschichte, um zu überprüfen, ob alles so ist, wie wir es wollten. Alles wird für gut befunden.

Nun zeige ich den Kindern, wie das Einscannen von Bildern geht.
Janna meint, dass die Walze das Bild kopiert, aber dann nicht ausspuckt, sondern dem Computer gibt, und dann sieht man es auf dem Bildschirm.

5. Treffen

Heute zeigt ich den Kindern im Computer das Fotobuch-Programm, und jede von ihnen tippt einen Teil der Geschichte. Als die Kinder nach einer längeren Weile keine Lust mehr haben, verabreden wir, dass ich den Rest fertig mache und ihnen dann aber noch mal alles zeige, bevor ich die Bestellung abschicke. So machen wir es.
Gemeinsam suchen die Mädchen dann noch das Design für das Cover aus. Dies macht den Dreien sichtlich Spaß.

6. Treffen

Das Buch ist uns zugesandt worden, Janna, Leona und ich schauen es uns an – Christin ist leider in Urlaub. Beide Mädchen sind sichtlich begeistert und fordern mich sofort auf, es vorzulesen. Sie hören sehr aufmerksam zu und schauen sich alles genau an.

Dann gebe ich Beiden ihr Exemplar und die Freude ist riesig, sie bedanken sich und Janna schenkt mir den Stein (ein Dino-Ei), den sie von ihrem Freund geschenkt bekam. Das sagt sie auch, sie findet, ich hätte ihn verdient, sie könne sich ja einen neuen suchen.

Zuletzt bitte ich Janna und Leona, mir zu sagen, wie sie unser Projekt fanden. Sie gucken sich an, strahlen mich dann an und sagen: „Sehr schön“. Und als Antwort auf die Frage, was sie denn gelernt haben, sagt Janna lachend: „Drachen malen“.

Reflexion

Mir war es wichtig, Janna bei dem Projekt in ihren Begabungen zu fördern, aber auch die Kleingruppe so zusammen zu stellen, dass Janna die richtigen Partner hatte. Dies ist mir mit Christin und Leona gut gelungen. Leona ist auch sehr phantasiereich und quirlig, wie Janna. Sie sind, wie vierjährige Mädchen halt sind, lustig und quirlig und manchmal albern.
Christin ist bedacht und dadurch, dass sie älter ist, kann sie Jannas Ideen besser nachvollziehen. Oft hat sie Janna begrenzt, wenn diese zu wild erfand und deswegen schwer Struktur in die Sache zu bringen war.

Jannas Bedürfnisse wurden, denke ich, durch das Projekt angesprochen; allerdings könnte Janna ganze Romane schreiben, so viel fällt ihr ein. Wenn ihr jemand hilft, dies zu strukturieren, dann hat man ein ganzes Märchenbuch.

Jannas Freund sah das Buch und wollte direkt auch eines haben. Ich schlug vor, dass er ja auch mal bei einem Buchprojekt dabei sein kann. Dies wollte er aber nicht, er wollte ein Exemplar des Buches der Mädchen. Aber Janna war schon dabei, eine Piratengeschichte für ihn zu erfinden.

Außerdem war mir wichtig, alles von Anfang bis zum Ende mit den Mädchen gemeinsam zu machen – vom Schreiben über das Malen bis hin zur Bestellung, so konnten die Kinder viele neue Erfahrungen machen.

Dies war glücklicherweise auch möglich, da meine Kolleginnen und mein Kollege mir den Rücken frei hielten, damit ich mehr Zeit für die Mädchen hatte. Ansonsten hätte ich aus Zeitgründen manches bestimmt doch alleine gemacht.
Da zeigt sich, wie wichtig es ist, dass das Thema Hochbegabung gut im Team verankert ist und die Kollegen einander unterstützen, wenn mal etwas Aufwändigeres für eine Kleingruppe gemacht wird.

 

Datum der Veröffentlichung: März 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.

Beziehungsaufbau zu einem hoch begabten Fünfjährigen

von Annika Hensel

 

Ausgangssituation

Ben (5;6) kam vor zwei Monaten zu uns in die Kita. Vorher besuchte er einen anderen Kindergarten. Da es dort aber einige Schwierigkeiten mit Ben gab, wandten sich seine Eltern an uns. Ben fiel dort durch seine Aggressionen auf, hauptsächlich durch üble Beschimpfungen, aber auch durch Handgreiflichkeiten anderen Kindern gegenüber.
Schon zu diesem Zeitpunkt war den Eltern und Erzieherinnen Bens kognitiver Entwicklungsvorsprung gegenüber Altersgenossen aufgefallen; zudem war durch verschiedene Stellen attestiert worden, dass Ben hoch begabt sei.

 

… kurz gefasst…

Der fünfjährige hoch begabte Ben hat in einer ersten Kita negative Erfahrungen gemacht, die seine Grundstimmung „verdorben“ haben.
Die Autorin erfährt nun, dass ein Kind dann nicht durch einfache Ansprache für ein Projekt zu gewinnen ist. Es muss ein Kennenlernprozess voran gehen, in dem das Kind Vertrauen in die Person und die Gesamtsituation aufbauen kann.
Relativ früh im IHVO-Weiterbildungskurs fand der hier beschriebene Prozess statt – und wir (Hanna Vock und Arno Zucknick) sind der Autorin dankbar, dass sie zugestimmt hat, einige der recht umfangreichen Anmerkungen der Kursleitung (kursiv gesetzt) mitzuveröffentlichen.

Im Anschluss wird ein erstes gezieltes kleines Förderprojekt beschrieben, das Ben zu einem „Experten für Ausflüge“ macht.

Als die Eltern nun erfahren hatten, dass unsere Kita „Integrativer Schwerpunktkindergarten für hoch begabte Kinder“ ist, wünschten sie für Ben einen Platz in unserer Kita. Sie erhofften sich hier eine bessere Förderung, aber vor allem mehr Verständnis für Ben. Damit wir ihren Sohn „aus Hochbegabungsgründen“ aufnehmen konnten, baten wir die Familie, Ben auf Hochbegabung testen zu lassen. Die Testung, die Barbara Teeke durchführte, bestätigte Bens Hochbegabung.

Somit kam Ben in unsere Kita und lebte sich augenscheinlich schnell ein. Dies bestätigten auch seine Eltern. Sie freuten sich, dass Ben zu seiner alten Fröhlichkeit zurückgekehrt war, die er in der anderen Einrichtung verloren hatte. Auch zeigte er sehr bald viel weniger Aggressionen.

Vorüberlegungen zum Projekt mit Ben

Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Ben (als freigestellte Leiterin) noch nicht gut, denn ich hatte mich zu Anfang meines Weiterbildungskurses mit einem anderen Kind befasst. Ich nahm mir also vor, zunächst Kontakt zu ihm aufzubauen und mit ihm die verschiedenen Fragebögen, die wir für unsere erste Beobachtung benutzt haben, zu bearbeiten.
(Siehe: Interessen-Fragebogen für den Kindergarten und
Beobachtungen mit dem Beobachtungsbogen nach Huser und Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung.)

So erhoffte ich mir, Ben besser kennen zu lernen und seine Interessen heraus zu finden. Uns würde dann bestimmt eine Sache einfallen, mit der wir uns tiefer gehend beschäftigen könnten.

Anmerkung der Kursleitung:
Möglicherweise lag der Fehler, der den vollen Erfolg zunächst verhindert hat, schon hier: Wie Du selbst erwähnst, gab es bisher kein „Gemeinsam“ zwischen Dir und Ben. Bei Kindern, die schon aus ihrer Sicht schlechte Erfahrungen mit Erzieherinnen gemacht haben, ist es oft nötig, dass das Kennenlernen behutsam erfolgt, und es braucht seine Zeit.
Erst wenn das Kind glaubt, Dich wirklich einschätzen zu können und Dich für o.k. hält, kann ein Beziehungsaufbau einsetzen und allmählich Gemeinsamkeit entstehen. Diese Gelegenheit hättest Du ihm zunächst geben sollen, zum Beispiel durch gemeinsame Erlebnisse beim erst später stattfindenden Ausflug. Hier hätte er auch die Möglichkeit gehabt, Dich unverbindlich und „am Stück“ zu beobachten und sich ein Bild zu machen.

Aus diesem entstehenden Projekt wollte ich mir dann ein genaues Ziel überlegen, um Ben kognitiv zu fördern.

Kontaktaufnahme zu Ben

Da ich als freigestellte Leitung der Kita nicht im Gruppengeschehen bin, überlegte ich mir, wie ich anders an Ben herantreten könnte; denn Ben war kein Kind, das von sich aus Kontakt zu mir suchte.
So sprach ich ihn nach dem Mittagessen an, bei dem ich, wie häufig, in Bens Gruppe dabei war. Die Situation erschien mir günstig, da Ben neben mir saß und augenscheinlich unschlüssig war, was er nun nach dem Essen machen sollte. Also fragte ich ihn, ob er Lust habe, etwas mit mir zu machen. Dies bejahte er, wirkte dabei aber etwas unschlüssig.

Ich schlug ihm vor, wir könnten doch ein Interview machen, damit wir uns besser kennen lernten. Als Ben dies hörte, war er überhaupt nicht begeistert und wollte auch nichts mehr mit mir machen. Auch meine Versuche, ihm zu erklären, worum es ging, oder auch der Vorschlag, wir könnten etwas anderes machen, halfen nicht. Ben blieb dabei, er wolle nichts mit mir machen. Dies verkündete er ziemlich bestimmt und verschwand dann in den Flur.

Anmerkung der Kursleitung:
Es wäre im Sinne der obigen Anmerkungen vermutlich besser gewesen, ihn zu fragen und ihm die Initiative zu überlassen. Also ihm das Signal zu senden: Es interessiert mich, was Dich gerade interessiert / Es geht um Dich, nicht um ein Interview.
Der Vorschlag des Interviews war für ihn vermutlich zu unvermittelt und zu unüberschaubar. Hoch begabte Kinder haben oft ein hohes Bedürfnis nach Selbstbestimmung und ein feines Gespür dafür, wann sie sich gedrängt fühlen. Und sie wollen genau wissen, was man von ihnen will.
Du hättest zum Beispiel sagen können: Ich hätte Lust, mit Dir zusammen etwas zu spielen, denn ich möchte Dich kennenlernen. Was könnten wir zusammen spielen?

Überrascht blieb ich mit meiner Kollegin zurück. Diese erklärte mir dann aber, dass mich dies nicht wundern müsse, diese Reaktion sei ihnen von Ben bekannt und sei auch nicht persönlich zu nehmen.

Anmerkung der Kursleitung:
Genau. Wir glauben auch, dass es nichts mit Deiner Person zu tun hat, sondern wohl eher damit, wie Du auf ihn zugegangen bist.

Also dachte ich mir zunächst nichts dabei und schob seine Ablehnung auch auf seine möglicherweise schlechte Tagesverfassung.
Zwei weitere Annährungsversuche an Ben, mit dem Vorschlag er könne etwas mit mir und – wenn er möchte auch – mit Freunden zusammen machen, schlugen fehl.

Jedes mal reagierte Ben ähnlich wie beim ersten Mal: Er wies mich sehr bestimmt mit viel Druck ab. Auch meine beiden Kolleginnen konnten sich nicht erklären, warum Ben nicht mit mir arbeiten wollte.

Anmerkung der Kursleitung:
Vielleicht hat er sich gewundert und konnte es sich nicht erklären, warum Du immer wieder gerade mit ihm was machen wolltest. Vielleicht war es ihm suspekt 😉

Ein Grund hierfür, dachte ich, sei meine Position den Kindern gegenüber, da ich keine direkte Bezugsperson für Ben bin. Weil er ja erst kurz in unserer Kita war und viele neue Beziehungen aufbauen musste, schien mir logisch, dass er jetzt nicht noch wen kennen lernen wollte, zumal ja seine ersten Erfahrungen mit Erzieherinnen nicht glücklich gelaufen waren.

Anmerkung der Kursleitung:
Dieser Erklärungsversuch erscheint uns nur teilweise plausibel: Da er schlechte Erfahrungen gemacht hat, ist er vorsichtig geworden und will genau prüfen, ob wieder die alten Muster auftauchen. Insofern teilen wir Deine Einschätzung.
Aber die Erklärung: Jetzt, zu dieser Zeit, will er vielleicht nicht noch mehr neue Menschen kennen lernen, geht uns in derDeutung zu weit. Wir glauben eher, dass hoch begabte Kinder ständig auf der Suche nach möglichen Partnern sind, sofern sie noch nicht weitgehend resigniert haben. So schlimm steht es aber unserer Einschätzung nach mit Ben noch nicht; das zeigt ja auch sein eher zutrauliches Verhalten beim späteren Ausflug.

Außerdem kam mir auch der Gedanke, dass es sein kann, dass Ben mich nicht mag und deswegen keine Lust hat. Dies verneinten meine Kolleginnen aber, sie seien sich sicher, dass dies nicht so sei. Zumal Ben auch bei manchen Angeboten ihrerseits in gleicher Weise reagierte.
Also entschied ich mich, Ben weiter zu beobachten, aber ohne ihn zu stören.

Die nächste Gelegenheit bot sich bei einem Gruppenausflug. Die Gruppe machte zu diesem Zeitpunkt ein Piratenprojekt und nun sollte eine Flaschenpost in den Rhein geworfen werden. Als zusätzliche Aufsichtsperson fuhr ich mit und hatte Ben in meiner Gruppe.

Beim Ausflug fiel mir auf, dass Ben mir gegenüber durchaus offen war. Wir unterhielten uns viel und Ben akzeptierte mich voll als Bezugsperson, hielt sich zum Beispiel ohne Gegenwehr an meine Regeln.

Anmerkung der Kursleitung:
Jetzt war ihm wohl Deine Position und Rolle hinreichend klar.

Wenige Tage später kam ich in mein Büro und fand ein Bild, das Ben für mich gemalt hatte.

Anmerkung der Kursleitung:
Man könnte es so interpretieren, dass er damit, nachdem er Dich beim Ausflug etwas näher kennengelernt hat, ausdrücken wollte: Ich mag Dich und Du bist interessant für mich.

Nun war ich mir sicher, dass meine oben genannten Gründe nicht (oder aber nicht nur) der Grund für Bens Verweigerung sein konnten.

Anmerkung der Kursleitung:
Ja, aber in der Zwischenzeit ist ja auch was passiert… Wie würdest Du reagieren, wenn Jemand, den Du zwar schon gesehen hast, aber noch gar nicht kennst, auf Dich zukommt und sagt, was er mit Dir machen möchte. Es ist oft hilfreich, sich an Stelle des hoch begabten Kindes einen Erwachsenen vorzustellen. Wie würde ich mit dem umgehen, und welche Reaktion würde ich erwarten?

Von Beginn an hatte ich das Gefühl, dass Ben keine Lust hatte, etwas Besonderes mit mir zu machen, da er immer der Besondere der Gruppe ist und das aber nicht mehr möchte.

Bei einem Treffen der IHVO-Schwerpunktkitas bei Hanna (Vock) in Bonn berichtete ich ihr von meinen Erlebnissen mit Ben. Sie bestärkte mich darin, an Ben dran zu bleiben und diese Arbeit über seine Verweigerung zu schreiben.

Anmerkung der Kursleitung:
Ohne Haare spalten zu wollen …, aber „Verweigerung“ ist hier zu viel gesagt. Er hat doch lediglich Angebote, die ihm irgendwie nicht geheuer waren, nicht angenommen.

Da ich wie oben beschrieben, das Gefühl hatte, Ben wolle nicht etwas mit mir machen, weil er befürchtete, so wieder einen Sonderstatus zu bekommen, startete ich weiterhin keine neuen Versuche für ein Projekt.

Um Ben aber weiter beobachten zu können, aß ich zum Beispiel häufiger in der Gruppe und suchte im Alltäglichen den Kontakt zu ihm. Das funktionierte auch sehr gut und mehr und mehr suchte Ben auch den Kontakt zu mir.

Anmerkung der Kursleitung:
Also: erst Beziehungsaufbau, dann gemeinsames Projekt. Der fehlende oder unzureichende Beziehungsaufbau ist übrigens auch einer der Hauptschwächen von Kursen außerhalb der Kita, zum Beispiel bei Kinderunis und ähnlichem.

Bei der Beobachtung Bens fiel mir auf, dass er in der Gruppe gut angekommen ist und gute Freundschaften pflegt. Nur noch selten kommt es zu aggressiven Ausbrüchen. Ich beobachte, dass Ben seine Freundschaften sehr genießt und sich in seiner Person insgesamt angenommen fühlt.

Anmerkung der Kursleitung:
Das ist eine große Bestätigung für Eure Kita! Grüße an alle!

Sich nicht angenommen und dazugehörig zu fühlen, war meines Erachtens eines der Hauptprobleme in der anderen Kita. Bens psychische Bedürfnisse wurden dort nicht hinreichend erfüllt und es gab niemanden, der seine Denkweise nachvollziehen konnte. Um aber zur Gruppe dazu zu gehören, passte er sich sehr stark an. Dadurch entstand bei ihm ein sehr starker innerer Druck, der sich in Aggressionen nach außen und in Niedergeschlagenheit zeigte.

(Siehe auch: Dauerfrustration.)

Durch den Wechsel der Kita erfuhr Ben eine neue Offenheit ihm gegenüber. Zum einen ist er zu Kolleginnen in die Gruppe gekommen, die nicht nur die Ausbildung beim IHVO gemacht haben, sondern auch über viele Jahre Berufserfahrung verfügen. So erlebt er in unserer Einrichtung eine andere Haltung Begabungen gegenüber – und dies nicht nur in seinem Fall, sondern für alle Kinder. Dies erklärt meiner Meinung nach auch, dass es Ben jetzt insgesamt besser geht und dementsprechend auch seine destruktiven Seiten seltener zu Tage treten.

Daneben beobachte ich aber, dass Ben immer noch gerne Dinge versteckt, von denen er meint, sein Gegenüber könne sie nicht verstehen. So kam er an einem Tag zu mir ins Büro gelaufen. Man merkte, dass er eigentlich nicht damit gerechnet hatte, mich hier anzutreffen, und überrascht war.

Er hatte einen Jutesack mit Halbedelsteinen in der Hand, der ihm halb aus der Hand rutschte. Ich bewunderte seine schönen Steine, was ihm sichtlich gut gefiel. Er setzte an, mir zu erzählen, dass er damit was Verbotenes vorhabe, hielt inne und verschwand.
Ich hatte das Gefühl, dass er mir eigentlich gern erzählt hätte, was er mit den besonderen Steinen vor hatte, aber aus Angst, nicht richtig verstanden zu werden und möglicherweise Sanktionen zu erfahren, ließ er es.

Abschließend denke ich, dass Ben ähnliche Erfahrungen gemacht hat, wie Till aus dem Artikel von Dr. Barbara Schlichte-Hiersemenzel. (Siehe Literaturverzeichnis.) Bens Hochbegabung wurde von seinen Eltern und seinem Umfeld schnell erkannt. Mit dieser Tatsache ging seine Familie positiv um. Dann kam Ben in den Kindergarten, der ihm als gut für ihn versprochen wurde. Dort merkte er schnell, dass dem nicht so war. Im ersten Kindergarten fand er keine Kinder, die seine Interessen und Gedanken nachvollziehen konnten. Er merkte, dass er anders ist, und fing an sich anzupassen. Mit traurigen Konsequenzen für seine seelische Verfassung.

In unserer Kita erlebte Ben eine neue Situation, die ihm gut tut, trotzdem lässt ihn seine Angst anders zu sein noch nicht los und er passt sich an und will keine Sonderrollen haben.

Anmerkung der Kursleitung:
Weiß er denn überhaupt schon, was eine positive Sonderrolle (zum Beispiel neidlos bewundert werden, für kluge Ideen geschätzt werden, als „Erklärer“ vieler Dinge in der Gruppe anerkannt zu sein) ist und wie die sich anfühlt? Es wäre sicher gut, wenn er das bald kennenlernen könnte.

Perspektive

Ben wird im Sommer unsere Kita verlassen und zur Schule gehen. Ich denke, die Entscheidung von Bens Eltern war richtig, ihm vor der Schule noch mal die Möglichkeit zu geben, eine andere Ausgangssituation vor dem Schuleintritt zu bekommen.

Mein Projekt ist ein ganz anderes geworden, als ich es mir vorgestellt hatte und als das, was die Kurs-Aufgabe eigentlich vorsah. Insofern kann ich sagen, dass mein Ziel, Ben in einem speziellen Projekt kognitiv zu fördern, noch nicht erreicht wurde, wobei er im Zusammenhang mit dem Piratenprojekt der Gruppe hier auch viel erlebt hat. Viele Teile des Projektes hat er sehr bereichert.

Meinem daraufhin veränderten Ziel, Ben zu beobachten, um zu verstehen, warum er sich verweigert, bin ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen doch deutlich näher gekommen, wobei Ben bestimmt auch hier noch die ein oder andere Überraschung für uns bereit hält.

Und so ging Bens Förderung weiter:

Verkehrsexperten

Ausgangsituation

Bei meiner bisherigen Arbeit mit Ben kristallisierte sich heraus, dass es für Ben sehr gut wäre, noch häufiger die Erfahrung zu machen, dass besonderes Wissen etwas Tolles ist und bei mir und uns in der Einrichtung sehr geschätzt wird.

Deswegen entschied ich mich, Ben zu einem Experten für ein Thema zu machen. Die Rolle als Experte in der Gruppe ermöglicht es Ben, sein Wissen in die Gruppe einzubringen. So erlebt er, dass es etwas Wertvolles ist, schlau zu sein und dass er selber, aber auch andere, davon profitieren können, wenn er vieles besonders gut weiß.
Eine Möglichkeit, hierbei auch die sozialen Kompetenzen zu fördern, fand ich in der Auseinandersetzung der Experten mit dem Thema Ausflüge, da hierbei nicht nur „Fachwissen“, wie Verkehrsregeln zum Beispiel, wichtig sind, sondern auch soziale Fragen.

Um ihm positive Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit anderen Kindern zu ermöglichen, überlegte ich, wer ein guter Partner im Projekt sein könnte. Ich entschied mich für Janna. Sie ist, so wie Ben, über die Hochbegabtenquote in unsere Kita gekommen. Mehr dazu lesen Sie in:
Janna und die Prinzessingeschichte.

Ziele für Ben

Mein Ziel ist nicht an erster Stelle der inhaltliche Input, denn Ben bekommt zur Zeit viele inhaltliche Impulse durch das große Gruppenprojekt und einige Arbeitsgruppen, die er besucht. Vielmehr will ich im Beziehungsaufbau zu Ben seine Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Dies soll ihm zeigen, dass ich ihn so mag, wie er ist und gerne Zeit mit ihm verbringe. Als positiven Effekt erhoffe ich mir, dass Ben – durch die Angenommenheit bei mir und in der gesamten Einrichtung – zu mehr innerer Gelassenheit gelangt und dadurch natürlich auch sensibler anderen gegenüber sein kann.

Eine Liste mit allem Wichtigen

Ich ging mit meinem Anliegen auf die Beiden zu. Im Gespräch stellten wir fest, dass wir im Kindergarten viele Ausflüge machen und dass die Erzieherinnen Experten brauchen könnten, die sie bei den Ausflügen unterstützen. Die Beiden bekundeten Interesse, solche Experten zu werden, und waren begeistert dabei.

Wir gingen ins Büro, damit wir dort in Ruhe arbeiten konnten. Zunächst fragte ich, ob sie wüssten, was ein Experte ist. Und ich war nicht wirklich überrascht, als Ben ganz exakt antwortete:

„Ein Experte ist jemand, der sich mit einem Thema besonders gut auskennt.“

Wir sprachen darüber, dass vor und bei Ausflügen vieles beachtet werden muss. Um den Überblick zu behalten, holten wir uns ein großes Plakat, auf dem wir alles festhielten, was uns einfiel.

Ich war erstaunt, dass die Beiden ohne mein Zutun – Ben nahm die Zügel in die Hand und ich musste nur aufschreiben, was sie sagten – alles Wesentliche zusammentrugen:

    • Man muss auf seinen Rucksack aufpassen.
    • Man muss aufpassen, dass einem selber und auch den Freunden nichts passiert.
    • Man muss aufpassen, dass keiner verloren geht.
      Man muss die Kinder zählen (am Anfang und auch mal zwischendurch).
    • Man muss gleiche T-Shirts anziehen oder Schärpen.
    • Man muss Karten für den Hals mit Adressen haben und umhängen.
    • Man muss die Verkehrsregeln beachten:
      – Nach links und rechts gucken, bevor man über eine Straße geht.
      – Man darf nur über eine Straße gehen, wenn alles frei ist.
      – Nur bei Grün über eine Straße mit Ampel gehen.
      – Rot = man darf auf gar keinen Fall gehen / die Autos fahren.
      – Gelb = Vorwarnung / Achtung, gleich wird es rot.
      – Grün = man darf gehen / fahren.
      – Man darf nur auf dem Bürgersteig gehen, außer man überquert eine Straße.
    • Man darf beim Ausflug nichts abpflücken oder kaputt machen, weil das Anderen gehört und die sonst traurig sind.
    • Man muss auf die Erwachsenen hören.
    • Man muss immer bei der Gruppe bleiben.
    • Man darf nicht rumtrödeln.
    • Bei Ausflügen darf man nicht zanken, hauen beißen oder so ähnliche Sachen, obwohl der Y. das immer macht.
    • Man muss Essen und Trinken mitnehmen.
    • Pflaster und Verbandssachen müssen mitgenommen werden und auch ein Handy.
    • Wenn man verloren geht, muss man der Polizei seinen Namen sagen und wo man wohnt. Nur der Polizei.

Als den Kindern (und auch mir) nichts Weiteres einfiel, überlegten wir, wie wir fortfahren wollten und beschlossen, zu dritt einen kleinen Ausflug zu machen, um zu gucken, ob wir vielleicht doch noch etwas vergessen hatten.

Ein Ausflug zur Probe

Genauso machten wir es dann am übernächsten Tag.
Die Gruppe hatte morgens ein Buch gelesen, in dem stand, wie man Popcorn machte. Also zogen wir los, um im Supermarkt Maiskörner zu kaufen. Auch dabei überließ ich den Kindern das Kommando.
Sie fanden allein den Weg zu dem ihnen bekannten Supermarkt und kauften auch weitgehend selbstständig ein.

Anfänglich war unsere Aufmerksamkeit noch beim Thema Ausflug und dem Thema Straßenverkehr. Die Beiden überlegten, was sie in ihrer Liste vergessen hatten, und kamen am Ende zu dem Schluss, dass sie komplett ist.

Wir haben über die Verkehrsregeln gesprochen und darüber, dass es wichtig ist, sich immer daran zu halten, da sonst Gefahr droht. Auch fiel uns auf, als wir an der Grundschule vorbei liefen, dass dort Poller mitten auf der Straße stehen. Nachdem wir den Begriff Poller geklärt hatten, überlegten wir, warum diese dort stehen. Die Kinder fanden die Antwort: Damit kein Auto an dieser Stelle durchfahren kann, da viele Kinder aus der Schule raus kommen und auch oft nicht aufpassen, weil sie sich so freuen, wenn die Schule aus ist.

Auf unserem Rückweg unterhielten wir uns über verschiedene Dinge. Das Thema Ausflüge war inhaltlich ausgefüllt und abgehandelt.
Natürlich gibt es noch viele Möglichkeiten, sich mit dem Thema auseinander zu setzten, ich spürte aber, dass das Thema Ben anfing zu langweilen, da er schon sehr viel wusste und ihm dies erstmal reichte. Janna erzählte unterwegs von Ausflügen mit ihrer Familie. Ben lief vor, als Janna erzählte, fragte aber vorher immer, bis wohin er laufen dürfe und hielt sich dann auch an die Vereinbarungen.

Am folgenden Tag schlossen Janna, Ben und ich das Projekt ab, indem die Beiden mit meiner Unterstützung ihre eigene Experten-Urkunde am Computer machen durften. Außerdem stellten Ben und Janna im Stuhlkreis den anderen Kindern der Gruppe unser Plakat vor, was sie sehr souverän machten.

Reflexion

Ich denke, das Augenmerk nicht auf den inhaltlichen Input, sondern auf den vertrauensvollen Beziehungsaufbau zu Ben zu legen, war richtig.

Bens auch körperliche Annäherung zu mir – er kommt öfters zum Kuscheln -, zeigt mir, dass er Vertrauen und Zuneigung zu mir gewonnen hat. Ich denke, mittlerweile hat Ben die emotionale Festigung und das Selbstbewusstsein, um auch andere Kinder mit ihren Besonderheiten akzeptieren zu können.
Wenn man Ben mit dem Kind vergleicht, das vor einem Jahr zu uns kam, dann ist deutlich spürbar, dass er entspannter ist als damals. Als er kam, war er unruhig und unsicher. Wenn man mit ihm sprach, konnte er einem nicht in die Augen sehen. Wenn etwas nach seinem Empfinden nicht richtig lief, reagierte er verbal und auch körperlich aggressiv.

Heute ist er entspannt. Er schaut einem in die Augen und sucht Nähe. Dies ist gegenüber Kindern wie Erwachsenen so, er hat einige Freundschaften geschlossen.
Ich denke, er weiß, dass er seinen Raum bekommt und nicht darum kämpfen muss. Deswegen kann er auch Anderen gegenüber gelassener sein.

Wenn Ben seine Gedanken früher nicht umsetzen konnte, wurde er aggressiv – mittlerweile kann er sich auch gut zurücknehmen und warten, bis er an der Reihe ist. Dies zeigte er auch bei der Auflistung der Punkte, die man bei einem Ausflug beachten muss. Janna schweifte häufig vom Thema ab und erzählte zum Beispiel von Wölfen. Dies machte Ben offenbar nichts aus. Er malte derweil auf dem Plakat und wartete ab, bis er etwas beitragen konnte und wollte.

Auch die Auflistung der Punkte zeigt, dass Ben Gefühle Anderer einzuschätzen weiß und sich im vertrauten Kreis auch dazu äußern kann. Bei der Klärung der Frage, warum man unterwegs nichts abpflücken oder kaputt machen darf, erklärte er, weil derjenige, dem die Sache gehöre, dann traurig sei.
Dass er dies jetzt zeigen kann, hängt bestimmt auch damit zusammen, dass Ben sich nicht mehr so viel mit sich selbst und seinen negativen Gefühlen und dem damit zusammenhängenden negativen Verhalten auseinander setzten muss. So ist er auch freier, sich über die Gefühle Anderer Gedanken zu machen.

Dies bestätigt auch ein vor kurzem geführtes Gespräch mit beiden Eltern. Meine Kolleginnen und ich baten um dieses Gespräch, um Bens Eltern abschließend zur Kindergartenzeit ein Feedback zu geben über Bens Entwicklung. Wir berichteten über unsere Beobachtungen, dass er entspannter ist und ausgeglichener. Dies bestätigten seine Eltern, sowie dass er nun Freundschaften pflegt.

Manchmal verfällt er noch in alte Verhaltensweisen, zum Beispiel als nun die ersten neuen Kinder eingewöhnt wurden. Dies verunsicherte ihn, aber meine Kollegin konnte durch ein langes Gespräch mit ihm herausfinden, dass er Angst hat, dass keine Zeit mehr für ihn da ist.

Aussichten für Ben

Diese Angst konnte meine Kollegin ihm nehmen, indem sie ihm erklärte, dass sie auch in Zukunft noch Zeit für ihn hat, und direkt Verabredungen mit ihm traf.
Außerdem bestärkten wir die Eltern noch einmal darin, konsequent gegenüber Ben zu sein und sich weiterhin ihrer Rolle als seine Eltern bewusst zu sein. Häufig verfällt besonders Bens Vater in eine Kumpelrolle, die Ben aber nicht die nötige Sicherheit gibt. Dann wird er unsicher, unzufrieden und unruhig.
Abschließend ermunterten wir sie, sich gern weiterhin an uns zu wenden, wenn Ben in der Schule ist. Über dieses Angebot freuten sie sich sehr und waren sich sicher, es anzunehmen. Gerade auch, weil sie viele Ängste mit dem Schulstart verbinden, was unter anderem an Bens Vorverurteilung in unserem Stadtteil liegt, die durch seine früheren Verhaltensweisen bedingt ist.

Mein Anteil

Natürlich sind viele Fortschritte, die Ben machte, hauptsächlich durch die Arbeit meiner Kolleginnen in seiner Gruppe und die damit verbundenen kognitiven Inputs zurück zuführen.

Nicht unwichtig war aber auch, dass es mir gelungen ist, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Ben aufzubauen. Dies ging nur, weil ich mich viel mit Ben beschäftigt habe und der Kontakt auch weiterhin eng ist.

Er kommt häufig auf mich zu, um mir Dinge zu erzählen. Außerdem kommt er auch regelmäßig in mein Büro und möchte dort Zeit bei mir verbringen. Wir klären dann verschiedene Dinge, zum Beispiel hat Ben einmal erklärt, wie der Drucker funktioniert: „Der Computer schickt dem Drucker einen Befehl, nämlich einen Zahlencode. Und dann fährt eine Rolle über das Blatt und an der Rolle ist eine Walze, die hin und her läuft und die Buchstaben draufdrückt.“

Insofern habe auch ich zu Bens Fortschritten direkt beigetragen – und natürlich auch dadurch, dass ich den Kolleginnen beständig ein Umfeld schaffe, das es ermöglicht, intensive Begabten- und Hochbegabtenförderung zu betreiben (unter anderem auch durch Verbesserung der finanziellen und damit personellen Basis).

Siehe auch:
Bessere Möglichkeiten für Kitas durch Stiftungsgelder

Als weitere gezielte Förderung für Ben plane ich, mit Ben und drei anderen Kindern ein kleines Bibelstück für einen Gottesdienst vorzubereiten.

Hier lesen Sie, wie es weiter ging:

Die Geschichte des Philippus.

Bitte lesen Sie in diesem Zusammenhang auch:
Dauerfrustration wegen und Unterforderung und Unverständnis

Erste Annäherung an ein schwieriges Kind

Hans fasst Vertrauen

 

Datum der Veröffentlichung: März 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.

Die Geschichte des Philippus

von Annika Hensel

 

Nachdem es mir in den letzten Monaten gelungen war, zu dem fünfjährigen Ben „einen guten Draht zu finden“

(siehe: Beziehungsaufbau zu einem hoch begabten Fünfjährigen), bot es sich zu seiner weiteren Förderung an, gemeinsam ein biblisches Theaterstück für den nächsten Familiengottesdienst einzustudieren.

Ich wandte ich mich an Ben und fragte ihn, ob er Lust habe, bei einem Stück mit zu machen. Dies bejahte er.
Da die Gottesdienste immer durch Themen des Kirchenjahres bestimmt sind, galt es, ein Stück für einen Tauferinnerungsgottesdienst zu finden. Deshalb entschieden ein Kollege und ich uns für das Stück „Philippus und der Kämmerer – oder ein Afrikaner wird getauft.“

 

… kurz gefasst …

In der Kita der Autorin wird immer mal wieder Theater gespielt und es gibt auch eine gruppenübergreifende Theater AG. Der fünfjährige Ben wechselte erst spät in diese Kita und konnte also noch nicht auf viele Erfahrungen mit Theaterspiel zurückgreifen.
Die Autorin beschreibt, dass der hoch begabte Junge und seine ebenfalls sehr begabten Mitspieler trotzdem schnell vorankommen und wenige Proben brauchen.

Das Stück handelt von Philippus, einem Prediger in Jerusalem, der die Botschaft Jesus Christus verkündet, und einem Äthiopier, der nach Jerusalem kommt, um zur Gemeinschaft der Christen zu gehören.

Dieser reiche Äthiopier kommt nach Jerusalem und wird dort aufgrund seiner Andersartigkeit abgewiesen. Doch dann trifft er auf Philippus, der ihm seine Fragen beantwortet und ihn schließlich tauft.

Das Stück wird von einem Erzähler vorgelesen, und die Kinder stellen die Handlung pantomimisch dar.

In einem Theaterstück sah ich eine gute neue Herausforderung für Ben. Zum einen für seine kognitiven und personalen Fähigkeiten, da er während des gesamten relativ langen Stückes (das etwa 10 Minuten dauert) genau zuhören und geduldig auf seine Einsätze aufpassen muss. Zum anderen wäre es eine Herausforderung für seine sozialen Fähigkeiten, weil er auf seine Mitspieler acht geben muss. Außerdem muss er sich in die Emotionen seiner Rolle einfühlen, um sie gut darzustellen.

Neu ist die Herausforderung für Ben insofern, da er bisher keine solche Gelegenheit hatte. Von den Erzieherinnen in seinem alten Kindergarten wurde er aufgrund seiner Probleme nicht in so etwas eingebunden. Und auch bei uns gab es bisher keine Gelegenheit.
Es war auch mein Ziel, weitere Kinder für das Stück auszusuchen, mit denen es möglich war, auf Bens Niveau zu arbeiten. Dies war mir wichtig, um ihn nicht durch häufige Wiederholungen zu frustrieren.
Dies gelang mir, indem ich einen weiteren sehr begabten sechsjährigen Jungen für die zweite Hauptrolle und zwei sehr begabte vierjährige Jungen für die Nebenrollen der Tempeldiener und Passanten auswählte.
(Hier muss vielleicht angemerkt werden, dass die Autorin einen „Integrativen Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung (IHVO-Zertifikat)“ leitet.)

Probe 1

Bei der ersten Probe las ich den Kindern zunächst das Stück vor. Anschließend ließ ich die Kinder berichten, was sie gehört hatten. Ben und Rafael berichteten den Inhalt der Geschichte zu gleichen Teilen. Ich konnte mich davon überzeugen, dass alle vier Kinder den Inhalt gut verstanden hatten.

Deshalb konnten wir das Stück jetzt schon mal in den vorgesehenen Rollen (Ben/Philippus, Rafael/Äthiopier, Mats und Jorgos/Diener und Passanten) durch und überlegten, wie man die Szenen darstellen musste.

Da die Geschichte mit einer Beschreibung des Philippus beginnt, entschieden wir, dass dieser in der Mitte der Bühne stehen muss. Und da er predigt, meinte Ben, müsse er die Arme seitlich heben. So legten wir es fest.

Dann folgt eine Sequenz, in der Philippus mit einem Ball spielen, dann etwas trinken soll und danach durch Gottes Stimme auf die Straße zwischen Gaza und Jerusalem geschickt wird.

Wir stellten gemeinsam fest, dass dies gut nachzuspielen ist. Jedes Kind hatte tolle Ideen und trug etwas dazu bei. Ben legte fest, dass man bei der Aufführung  in der Kirche ohne echten Ball spielen und nur so tun muss als ob. Rafael hatte gute Ideen, wie Ben das Spielen und das Horchen auf Gottes Stimme darstellen konnte. Ben nahm die Tipps gut an.

Dann folgte die Sequenz in Jerusalem, in der Rafael den Äthiopier und Mats und Jorgos die Nebenrollen spielten. Auch hier hatten alle Kinder gute Ideen, wie wir was umsetzten, so dass wir schnell alles festgelegt hatten.
Ben meinte, dass wir einen Tempel und eine Kutsche brauchten.

Rafael stellte die Handlung direkt sehr gut dar und Mats und Jorgos setzten das Vorgegebene prima um.

Am Ende wandte sich Rafael an mich und äußerte den Wunsch, dass er gerne Bens Rolle haben wollte. Ich sagte, dass wir Ben fragen müssten. Also fragte Rafael ihn. Ben konnte Rafaels Wunsch gut nachvollziehen und tauschte ohne Zögern mit ihm.
Dies überraschte mich sehr, ich hatte eher damit gerechnet, dass er das nicht wollte. Früher wäre das nicht möglich gewesen. Denn Ben gefiel die Rolle des Philippus augenscheinlich sehr gut, deswegen hätte er früher seine Rolle unbedingt behalten wollen.

Damit beendeten wir die erste Probe. ich finde es eine starke Leistung von Ben, eine Rolle, die er selbst gern spielt, so einfach abzugeben.

Probe 2

Bei der zweiten Probe machten wir unseren ersten richtigen Durchlauf, und zwar in den getauschten Rollen.

Es gelang sehr gut, so als hätten wir es schon oft geprobt.

Die Kinder setzten alles Besprochene gut um und waren begeistert bei der Sache. Sie waren konzentriert und zu keiner Zeit abgelenkt.

Beim zweiten Durchlauf war dies nicht mehr so. Besonders Ben war unkonzentriert und verpasste seine Einsätze. Auch setzte er die Handlung nicht mehr so schön um wie im ersten Durchlauf. Ich stellte dies fest und beendete die Probe, da ich annahm, dass Ben aufgrund der Wiederholung unkonzentriert war.

Ich sah ein: Ben und auch die anderen hatten keinen weiteren Durchlauf nötig.

Wir beendeten die Probe mit der Planung der nächsten. Es wurde beschlossen, dass wir uns neben einem weiteren Durchlauf um die Requisiten und Kostüme kümmern würden.

Probe 3

Ich schlug den Kindern vor, Kostüme aus unserer Theaterkiste zu nehmen, und wir suchten gemeinsam die passenden aus. Ben wählte ein rotes Gewand aus Samt, da dies seiner Meinung nach gut passte, weil der Kämmerer ja reich sei und Samt früher sehr teuer war.

Rafael suchte sich ein grünes Gewand aus, weil das fröhlich aussah und nach Meinung der Jungen gut zu Philippus passte. Und Mats und Jorgos erhielten blaue Anzüge, ähnlich Uniformen.

Dann suchten wir eine Kutsche für den Afrikaner. Wir entschieden uns für unseren Bollerwagen, den wir mit brauner Pappe beklebten, auf die wir Holzlatten malten. Jorgos hatte die Idee, als Zugtier einen großen Esel (ein großes Kind) aus einer der Gruppen zu engagieren.

Ben sagte, er bräuchte eine Schriftrolle und diese müsse alt aussehen. Deswegen müssten wir gelbes Papier nehmen. Dies bejahte ich und wir holten gemeinsam beigefarbenes Tonpapier. Wir rollten es auf zwei Holzstöcke auf, die wir vom Außengelände holten.

Aber es sah nach der Meinung der Kinder noch nicht alt genug aus. Also schlug ich vor, wir könnten das Papier ein bisschen anflämmen, wie bei einer alten Schatzkarte. Das fanden die Jungs toll und wir beendeten die Probe auf dem Außengelände, wo ich das Papier unter der Aufsicht der Jungs anflämmte.

Probe 4 – Generalprobe

Die vierte Probe war auch schon unsere Generalprobe und fand in der Kirche statt. Dies kam einerseits dadurch, dass Rafael zwischendurch krank wurde und andererseits auch aus dem Grund, dass die Kinder das Stück schon so gut beherrschten, dass sie weitere Proben eher frustriert hätten, als dass sie etwas gebracht hätten.

Wir legten gemeinsam die Standorte der Szenen rund um den Altar fest und Rafael hatte noch die tolle Idee, dass er auf seinem Weg auf der Straße nach Gaza durch das Publikum gehen könnte. Dies beschlossen wir und starteten unseren Durchlauf mit Kostümen, Mikrofon für mich und allem drum und dran.

Es funktionierte wieder wunderbar. Ohne jede Hilfe meines Kollegen, dessen Aufgabe es war, den Kindern behilflich zu sein, was Einsatz und Gesten betraf, während ich vorlas.
Der zweite Durchlauf funktionierte wieder nicht so gut. Dies lag, denke ich, neben der ungeliebten Wiederholung auch an der Anwesenheit unserer Pfarrerin, mit der besonders Ben nicht gerechnet hatte und was ihn ein wenig nervös machte.

Deswegen erklärte ich den Kindern, dass dies ganz gut sei, denn dann seien sie schon ein bisschen auf die Vorführung und die dann volle Kirche vorbereitet. Das wirkte auf alle beruhigend, besonders auf Ben. Er meinte: „Dann bin ich ja schon Zuschauer gewohnt.“ Bisher kannte er das nur von Aufführungen in der Gruppe.

Aufführung

Am Gottesdienstmorgen trafen wir uns eine halbe Stunde vor Beginn. Die Kinder zogen die Kostüme an und mein Kollege schwärzte Bens Gesicht. Alle Kinder waren gut drauf und freuten sich, und auch Ben war nur ein wenig nervös. Dann setzten wir uns. Als wir an der Reihe waren, standen wir auf gingen auf unsere Plätze.

Ich begann vorzulesen und alles funktionierte gut – leider kam nur ein Kleinkind immer wieder an den Altar und spielte an Bens Kutsche herum. Das lenkte Ben ab, so dass er seinen Einsatz einmal leicht verpasste.

Das Tolle an dieser Situation war allerdings, zu sehen, wie entspannt Ben dabei war. Vor nicht langer Zeit hätte er das Kind wahrscheinlich lauthals verscheucht, und dies mit einem Vokabular, das nicht in eine Kirche passt. Jetzt versuchte er das Kind leise aber beherzt loszuwerden. Schade, dass die Eltern des Kleinkindes die Situation nicht erfassten und nicht hilfreich reagierten. Aber es war trotzdem ein toller Erfolg!

Reflexion

Die schwierige Frage, ob Ben so weit ist, bei einem Theaterstück in der vollen Kirche mitzuwirken, hat sich damit beantwortet und die damit verbundene Entscheidung, dies zu tun, war richtig.

Es war sehr schön zu sehen, dass Ben, der an Weihnachten noch das Stück seiner Freunde in der Kirche gestört hatte, weil er vorher geärgert worden war, trotz der Störungen so toll reagiert und dementsprechend gespielt hat.

Er hat bei der ersten Probe, als Rafael seine Rolle wollte, auf diese verzichtet und gesehen, dass es Rafael wichtiger war als ihm selber, den Philippus zu spielen.

 

Der aggressive und verstörte Junge, der vor einem Jahr in unsere Kita kam, ist richtig einfühlsam und aufgeschlossen geworden.

Das Theaterstück war außerdem ein angemessener Abschluss seiner Kindergartenzeit.

Mehr zu Ben lesen Sie hier:

Beziehungsaufbau zu einem hoch begabten Fünfjährigen

Beruhigung durch kognitiven Zugang

 

 

Datum der Veröffentlichung: Februar 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.

Kinder denken sich eigene Geschichten aus

Wenn vierjährige Kinder sowohl die Motivation als auch das Vermögen haben, sich eigene Geschichten auszudenken – auch wenn sie dabei auf ihnen bekannte Figuren und Versatzstücke zurückgreifen – dann ist das bemerkenswert und verdient Unterstützung.

 

 

Beruhigung durch kognitiven Zugang

von Annika Hensel

 

Der fünfjährige (getestet) hoch begabte Ben hatte in der Kita einen Unfall. Als er an der Reckstange auf dem Außengelände kletterte, ist er abgerutscht und mit dem Gesicht auf den Boden geknallt. Seine Nase blutete stark und er schrie vor Schmerz und Schreck.

Ich war zufällig gerade in der Nähe und als erste bei ihm. Ich versuchte ihn zu beruhigen, trug ihn vom Außengelände rein und setzte mich mit ihm hin. Eine Kollegin brachte eine Mullbinde, um die starke Blutung zu stoppen.

Ben war sehr aufgelöst und schrie und weinte, weil es so stark blutete. Immer wieder schrie er: „Das blutet!“.

Da ich weiß, dass man Ben vieles sehr gut erklären kann, sagte ich ihm, dass es gut wäre, wenn er sich beruhigen würde, da dann sein Herz auch wieder langsamer schlagen würde. Das Herz pumpe ja das Blut durch den Körper – und die Nase würde bestimmt schneller aufhören zu bluten, wenn das Herz nicht so stark pumpen würde.

Er verstand es sofort und ich konnte spüren, wie er versuchte, sich zu beruhigen, was ihm trotz seiner spürbaren Angst auch gut gelang.

Trotzdem blutete seine Nase immer noch stark, deshalb beschlossen ein Kollege und ich, den Krankenwagen zu rufen. Dies versuchte ich Ben vorsichtig zu sagen. Er war aber bei dem Gedanken außer sich vor Angst und schrie, dass kein Krankenwagen kommen solle – nur die Mama.

Wieder erklärte ich ihm, dass eine Kollegin die Mama schon angerufen hat und dass ich es auf keinen Fall zulasse, dass wir ohne seine Mama ins Krankenhaus fahren. (Wir wussten, dass sie sehr schnell da sein konnte, da sie in der Nähe arbeitet.)

Er beruhigte sich etwas, aber es war mehr nötig.

Mir wurde noch mal deutlich klar, dass Ben durch seine Hochbegabung vieles wesentlich besser einschätzen kann, als andere Kinder seines Alters. Deswegen kann er auch die möglichen Konsequenzen eines Unfalls besser abschätzen und dies bereitet ihm dementsprechend auch mehr Angst als anderen Kindern.

Das Wissen über Bens Hochbegabung half mir auch jetzt, ihn mit sachlichen Erklärungen zu beruhigen. Ich erklärte ihm, dass ich ihn nicht einfach alleine ins Krankenhaus fahren lasse und dass ich das auch gar nicht darf, weil ich einen Vertrag mit seinen Eltern geschlossen habe, in dem steht, dass wir immer auf ihn aufpassen, wenn er im Kindergarten ist. Und viele andere Dinge über den Krankenwagen und die Untersuchung im Krankenhaus erklärte ich ihm außerdem.

Natürlich hatte er weiterhin Angst, aber keine Panik mehr. Er klammerte sich an mir fest und wartete ab, bis seine Mama da war. Obwohl die Sanitäter vor seiner Mutter ankamen, wurde er nicht mehr panisch.
Schlussendlich wurde deutlich, welch große Angst Ben vor dem Krankenhaus hat, aber auch, dass man ihm mit sachlichen Erklärungen helfen kann, seine Ängste zu verringern.

Mehr zu Ben:

Siehe auch:
Ängstlichkeit und Vor-Sicht bei hoch begabten Kindern

 

Datum der Veröffentlichung: Februar 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.