Entwicklungsberichte zum Kita-Abschluss

von Alexa Kreitlow

 

Über die Jahre haben wir unser selbst entwickeltes Raster für den Entwicklungsbericht immer wieder verbessert. Ausgehend von mehreren vorliegenden Mustern für solche Berichtsbögen, habe ich vor etlichen Jahren einen ersten Entwurf verfasst. Jährlich wurde er auf Grund neuer Erfahrungen und Gedanken aller Kolleginnen immer weiter optimiert.

Nun sind wir richtig zufrieden und möchten den Bogen vorstellen und zur Verfügung stellen, damit andere Kitas, sofern sie wollen, auch damit arbeiten können.

Und so arbeiten wir damit:

In das Raster tragen die Kolleginnen über die gesamte Kita-Zeit des Kindes Beobachtungen ein. Inzwischen steht in jeder unserer drei Gruppen ein Computer; das vereinfacht die Sache enorm, weil aufschlussreiche Beobachtungen und Einschätzungen zeitnah eingetippt werden können.

Für Elterngespräche haben wir so jederzeit eine solide Grundlage, die auf konkreten Beobachtungen beruht.

Gegen Ende der Kindergartenzeit wird dann auf dieser Grundlage der abschließende Bericht formuliert. Die Gruppenleiterin unserer großen Kinder und ich als freigestellte Leiterin teilen uns diese wichtige Aufgabe.

Der fertige Bericht ist dann Grundlage für das Abschlussgespräch mit den Eltern. Sie erhalten damit eine Einschätzung ihres Kindes, die sie der Schule geben können, wenn sie das für sinnvoll halten und das Vertrauen zur aufnehmenden Lehrerin groß genug ist.

Eine diesbezügliche Scheu beobachten wir nicht nur bei den Eltern der Kinder, deren Entwicklungsbericht nicht so eindeutig gut ausfällt wie der von Nora (siehe unten). Auch ihre Eltern mussten sich erst überwinden, da sie mit ihrem Kind „nicht angeben“ wollten.

Unser Team findet aber, dass die Berichte für die aufnehmende Schule in jedem Fall hilfreich sind, sofern die Lehrkraft damit gut umgehen kann.

 

Beispiel: Die Entwicklungsberichte von Nora / Victor

Nora – der Name wurde geändert – ist in unserem Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung früh als besonders begabtes Kind aufgefallen.
Victor – auch sein Name wurde geändert – hatte immer wesentlich mehr Schwierigkeiten als Nora, aber auch er ist ein liebenswertes und interessantes Kind.
Selbstverständlich erstellen wir genauso sorgfältige und detaillierte Berichte auch für alle anderen Kinder.

Die beiden Berichte wurden zur besseren Lesbar- und Vergleichbarkeit für das Handbuch ineinander gefügt.
Name des Kindes:  Nora / Victor (Die Namen wurden geändert.)

Alter:  Nora ist zum Zeitpunkt des Berichts 5;11 Jahre alt, Victor ist 6;1 Jahre alt.          

Beobachtungszeitraum: August 2007 – Juli 2012 (für beide Kinder gleich)

 

Emotional-soziale Entwicklung

Gefühlslage, Grundstimmung, Temperament:

Nora ist ein freundliches und aufgeschlossenes Kind. Meistens kommt sie gut gelaunt in den Kindergarten. Sie ist ein eher ruhiges Kind, kann aber in Kombination mit ihren Freundinnen auch ausgelassen sein. Manchmal zieht sie sich zurück, denn sie liebt Zeit und Ruhe für sich.

Victor ist mit seinen Freunden zusammen meist ausgelassen und wild. Alleine kann er ganz in sich versunken sein und ist dann in seiner eigenen Welt.

Er reagiert oft impulsiv und ist leicht erregbar. Seine Grundstimmung ist als unbeständig zu beschreiben. Oft ist er kompromisslos, auch mit sich selbst. Seine Gefühle können sehr schnell wechseln.

Mit einem Jahr litt Victor an Affektkrämpfen, die er heute jedoch nicht mehr hat.

 

Eigene Gefühlsansprechbarkeit:

Nora zeigt deutlich, wenn ihr etwas Freude macht oder etwas nicht gefällt. Sie lässt sich nicht einfach von Stimmungen der Gruppe mitreißen, sondern zeigt die eigene Befindlichkeit unabhängig von der Meinung der anderen.

Victor: Ideen und Vorschläge zur Gestaltung des Tages, die an ihn heran getragen werden, empfängt er oft skeptisch und distanziert. Anfänglich war er nur der Beobachter und machte bei Aktivitäten oft nicht mit. Es ist sehr schwer, Victor zu motivieren, vor allen Dingen wenn Aktivitäten nicht unbedingt seinem Interesse entsprechen. Er kann unzugänglich und unbelehrbar sein. Entspricht aber etwas seinem Wissensdurst, ist er schnell dabei und kann sich begeistern.

 

Erlebnisfähigkeit:

Nora hat eine tiefe Erlebnisfähigkeit bei Themen, die sie interessieren. Bestimmte Aktivitäten nehmen sie ganz gefangen, z.B. die Beschäftigung mit bestimmten Büchern oder Rollenspiele. So organisierte sie ihre eigene Hochzeit mit ihrem Kindergartenfreund und steckte den ganzen Kindergarten mit ihren Hochzeitsvorbereitungen an.

Victor hat eine intensive und tiefe Erlebnisfähigkeit. Bestimmte Aktivitäten oder Themen nehmen ihn so gefangen, dass er Fragen bis ins kleinste Detail stellt. Zum Beispiel in den Bereichen Weltall, Autos oder Natur. Auch wenn er alleine Bücher betrachtet, ist er oft gefangen von den Bildern und entwickelt eigene Theorien und Geschichten.

 

Soziale Bindungsfähigkeit:

Nora kam mit einem Jahr in unseren Kindergarten. Ihre Eingewöhnung verlief unproblematisch und sie konnte schnell intensive Bindungen zu den Erzieherinnen und Kindern herstellen. Schnell hatte sie eine feste Freundin gefunden, diese Freundschaft war sehr intensiv. Obwohl ihre Freundin schon seit 2 Jahren nicht mehr in unserem Kindergarten ist, redet sie noch viel von ihr. Nora besitzt eine ausgereifte Bindungsfähigkeit, sie ist in der Lage, länger dauernde emotionale Wechselbeziehungen einzugehen.

Victor kam mit 1 Jahr in unseren Kindergarten. Nach einer, für sein Alter, sehr kurzen Eingewöhnungszeit konnte Victor schnell Kontakt zu den Erwachsenen herstellen und Bindungen aufbauen.
Der Kontakt zu den Kindern gestaltete sich schwieriger. Im Umgang mit anderen Kindern ist er nach wie vor sehr kompromisslos. In den ersten Jahren hatte er einen älteren Freund, der sein Vorbild war. Mittlerweile hat er einen kleinen Freundeskreis. Manchmal ist er seinen Freunden aber auch zu anstrengend und sie ziehen sich zurück. Er steht ihren Interessen und Abneigungen verständnislos gegenüber. Oft mangelt es an sozialer oder emotionaler Gegenseitigkeit. Trotzdem ist er in der Gruppe ein beliebtes Kind.

 

Selbstwertgefühl:

Nora kennt ihre eigenen Stärken und Schwächen und kann dementsprechend selbstbewusst handeln. Sie neigt dazu, hohe Anforderungen an sich selbst zu stellen.

Sie war schon als Kleinkind sehr selbstbewusst und konnte sich immer gut durchsetzen.

Victor ist sehr selbstbezogen und kämpft für seine Rechte. Er tendiert dazu, sehr hohe Ansprüche an sich selbst zu stellen. Die hohen Ansprüche sind auch häufig mit Versagensängsten gekoppelt, was dazu führt, dass Victor es vermeidet, schwierige Aufgaben anzugehen. Läuft etwas nicht routinemäßig wie immer, zeigt er sich oft unsicher und will nicht daran teilnehmen. Zum Beispiel bei Ausflügen gibt es immer wieder Probleme, so dass er dann einen anderen Verknüpfungspunkt sucht, damit er nicht mitgehen muss, auch wenn das Ziel seinem Interesse entspricht.

 

Sozialverhalten:

Nora pflegt feste Freundschaften in der Gruppe, sie zeigt ihre Sozialkompetenz durch ihre Führungsfunktion und ihr Organisationstalent. In Spielgruppen leitet und strukturiert sie meistens das Geschehen. In Konfliktsituationen wirkt sie vermittelnd und zeigt Mitgefühl. Sie ist tolerant und hilfsbereit.

Der Gruppenwechsel zu den 25 ältesten Kindern fiel ihr anfänglich schwer. Mittlerweile kann sie mit dem Energiepotential der Gruppe besser umgehen und hat auch hier ihren Stand gefunden.

Victor: Als Kleinkind fiel es ihm schwer, mit Gleichaltrigen zu interagieren. Auch heute zeigt er noch mangelndes Verständnis für soziale Signale.

In seinem Spiel will er meistens der Anführer sein und ist in seinem Verhalten sehr dominant. Kann er seinen Willen bei anderen Kindern nicht durchsetzten, ist er sehr herausfordernd oder lange Zeit missgestimmt. Bei Konflikten reagiert er immer impulsiv.
In seiner sozialen Kommunikation und Interaktion besitzt er ein mangelndes Einfühlungsvermögen. Er nimmt nur selten oder nur flüchtig Blickkontakt auf. Es fehlt ihm oft an Empathie für die Gefühle anderer Personen, er erkennt nicht, dass eine Entschuldigung einer anderen Person helfen könnte, sich besser zu fühlen.

Erwachsenen gegenüber kann er sehr höflich sein. „Danke“ und „Bitte“ sind für ihn selbstverständlich.

In der Großgruppe hat Victor Probleme sich einzuordnen. Bei gemeinsamen Aktionen zieht er es vor, seine eigenen Wege zu gehen. Er ist eigenwillig, möchte seine eigenen Ideen umsetzen und möglichst viel selber bestimmen.

Regelmäßige alltägliche Dinge im Gruppengeschehen scheinen ihn oft zu stören oder zu langweilen, wie Morgenkreis, Mittagessen oder Zähne putzen. Er würde lieber sein begonnenes Spiel weiterspielen. Es braucht viel Überzeugungskraft und Erklärungen, ihn jeden Tag dazu zu bringen, diese alltäglichen Dinge zu verrichten.

 

Moralische Gefühle:

Nora besitzt einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Sie kennt und befolgt Regeln und hilft diese in der Gruppe umzusetzen. Sie erzieht konstruktiv mit. Sie zeigt viel Verständnis für die Gefühle, Gedanken und Fähigkeiten anderer Kinder. Sie hat hohe ethisch-moralische Ansprüche.

Victor hat einen großen Drang nach Gerechtigkeit, in Bezug auf seine eigene Person oder seine Freunde. Bei Ungerechtigkeit kann er schnell die Fassung verlieren. Oft ist er sehr sensibel, und besonders wenn es um Kritik geht, sehr verletzlich. Oft fühlt er sich ungerecht behandelt und es fällt ihm schwer, mit Tadel umzugehen.

Er kennt die Regeln im Kindergarten sehr gut. Teilweise legt er sie sich aber so aus, wie sie ihm am besten passen. Er testet Grenzen immer wieder aus.

 

Willenssteuerung:

Nora hatte schon einen frühen Drang zu Selbststeuerung und Selbstbestimmung.

Sie ist  willensstark und versucht ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Wenn sie sich etwas vornimmt, bringt sie dies auch meistens zu Ende, denkt auch zu einem späteren Zeitpunkt daran, es fortzuführen. Bei Rollenspielen möchte sie meistens die Anführerin sein, manchmal fällt es ihr schwer, sich den Spielanweisungen anderer unterordnen.

Victor: Seine Willensstärke ist erstaunlich groß und er versucht immer wieder, seine eigenen Interessen mit Argumenten durchzusetzen. Stichhaltige Argumente von anderen kann er nicht akzeptieren.

 

Sprache

Erstes Sprechen:

Nora sprach schon auffallend früh. Mit 2 Jahren und 7 Monaten konnte Nora Mehrwortsätze sprechen. Sie verstand schon die Präpositionen und bildete Formen der Vergangenheit.

Victor wächst mit zwei Sprachen auf.
Mit 3 Jahren sprach er in Deutsch schon recht deutlich, hatte aber mit der Grammatik manchmal Schwierigkeiten. Er konnte sich aber schon früh neue und auch schwierige Wörter merken. Er benutzte sie auch im richtigen Zusammenhang.

 

Sprachbereitschaft:

Nora: Ihre Sprachbereitschaft war immer sehr hoch. Sie teilt sich gerne in Worten mit und liebt Diskussionen und Debatten.

Victor: Seine Sprachbereitschaft war von Anfang an auffällig groß. Bei Themen, die ihn interessieren, kann er lange und detaillierte Reden halten. Er missachtet dabei aber oft, ob der Zuhörer an diesem Thema interessiert ist. Er kann dann seinen Sprechwunsch nicht unterdrücken, wenn ein anderer etwas zu dem Thema sagen möchte (z.B. im Morgenkreis).

 

Aussprache, Tempo:

Nora spricht flüssig und in einem angenehmen Tempo und besitzt eine sehr klare Aussprache.

Victor: Seine Aussprache ist manchmal sehr deutlich und dann wieder ganz undeutlich. Oft sind die Sprechgeschwindigkeit und die Lautstärke unangepasst oder ungewöhnlich.

 

Melodik, Mimik:

Nora: Die Melodik in ihrer Stimme verleiht ihren Erzählungen Spannung und macht sie interessant.

 

Wortschatz, Grammatik, Inhalt:

Nora: Ihre Sprachinhalte beziehen sich auf den Kontext und sind korrekt formuliert. Auffällig ist ihr großer  Wortschatz, den sie sicher einsetzt. Sie gebraucht auch Wörter, die Gleichaltrige oft nicht verstehen.

Victor besitzt einen auffällig großen Wortschatz. Er benutzt präzise und differenzierte Wörter, die Gleichaltrige oft nicht verstehen. Lange Zeit verwechselte er die Artikel. Mittlerweile benutzt er eine gute Grammatik und kann nun sicher die Artikel einsetzen. Er besitzt ein sehr gutes Sprachverständnis.

 

Denkprozesse, Denkeigenschaften

Denkbereitschaft:

Nora besitzt eine sehr hohe Denkbereitschaft. Sie kann äußerst interessiert sein und auch selbstständig neue Gedanken zu bestimmten Themen einbringen.

Victor besitzt eine sehr hohe Denkbereitschaft, aber nur bei Themen, die ihn tatsächlich interessieren. Er kann dann äußerst interessiert sein und auch selbstständig neue Gedanken zu dem Thema einbringen.

Teilweise langweilen ihn aber Themen, die die Gruppe gerade beschäftigen.

 

Auffassungsfähigkeit:

Nora besitzt eine auffallend schnelle und ganzheitliche Auffassungsgabe, mit viel Neugierde. Neue Regeln von Gesellschaftsspielen begreift sie überraschend schnell.

Victor: Er besitzt eine auffallend schnelle und ganzheitliche Auffassungsgabe, mit viel Neugierde. Oft macht er einen abwesenden Eindruck, er hört jedoch zu und merkt sich alles genau.

 

Fantasie, Vorstellungskraft:

Nora: Ihre Vorstellungskraft und Fantasie sind sehr gut ausgeprägt. Oft stellt sie Fragen, die Einsichtstiefe, unkonventionelles Denken und gedankliche Verknüpfungen aufzeigen und die für ihre Altersstufe unüblich sind.

Victor: Seine Vorstellungskraft und besonders seine Fantasie sind sehr gut ausgeprägt. Oft stellt er Fragen, die Einsichtstiefe, unkonventionelles Denken und gedankliche Verknüpfungen aufzeigen und die für seine Altersstufe unüblich sind. Er erstellt unglaubliche „was-wäre-wenn“-Konstrukte mit logischen Folgerungen.

 

Logisch-mathematische Fähigkeiten:

Nora hatte schon sehr früh eine Vorliebe für Puzzles und erkannte schnell die Zusammenhänge. Nora kann gut abstrahieren und das Gelernte auf viele Situationen übertragen. Sie begreift abstrakte Denkmuster schnell und kreiert zum Teil selber Erklärungsmodelle. Auch allgemein kann sie sich Dinge außerordentlich gut vorstellen. Im Zahlenraum bis 10 kann sie schon kleine Rechenaufgaben im Kopf lösen. Nora kann teilweise schon die Uhr lesen.

Victor hatte schon sehr früh großes Interesse an Buchstaben und Zahlen. Er begreift abstrakte Denkmuster schnell und kreiert zum Teil selber Erklärungsmodelle. Er sucht bei Überlegungen immer Verknüpfungen zu Bekanntem und kann Wissen von Teilbereichen übertragen. Er überrascht immer wieder mit sehr unkonventionellen Gedanken.

Victor ist ein mathematisch denkendes Kind, er zählt gerne verschiedenste Dinge aus eigenem Antrieb und fragt nach höheren Zahlen oder der Unendlichkeit. Er spielt gerne mit Zahlen oder ordnet nach Größen. Er hat eine gute mathematische Intuition. Er kann schon im Zwanziger-Bereich im Kopf rechnen.

 

Gründlichkeit, Tempo:

Nora: Sie folgt beim Denken ihren spontanen Einfällen. Sie kombiniert mitunter sehr schnell, und fast immer folgerichtig. Nora hat ein hohes Lerntempo – Neues wird schnell beherrscht und es muss schnell wieder etwas Neues her.

Victor: Entspricht etwas seinem Interesse, dann wird darüber sehr gründlich bis ins kleinste Detail nachgedacht. Victor kann sehr schnell denken und gleichzeitig zahlreiche Aspekte berücksichtigen. Dennoch besitzt er auch ein vorauseilendes, sprunghaftes Denken und kann sehr ungeduldig sein.

 

Urteilsfähigkeit, Einsicht, Objektivität: 

Nora: Sie kann Situationen oder einen Sachverhalt gut einordnen und nachfolgend vernünftig handeln, z.B. ob sich etwas mit den Regeln der Gruppe vereinbaren lässt oder nicht. Bei Tadel zeigt sie sich einsichtig, aber auch verletzlich und sehr sensibel.

Eigene Fehler kann sie sich nur sehr schwer eingestehen.

Victor fordert immer genaue Erklärungen für getroffene Entscheidungen, trotzdem hat er Probleme, sich einsichtig zu zeigen oder sich mit Kompromissen zu arrangieren. Seine Willenstärke steht dem Annehmen können von logischen Argumenten oft im Weg. Er nimmt Anweisungen oder Abmachungen wörtlich und nutzt unpräzise Formulierungen zu seinen Gunsten aus.

Victor bezieht viele Dinge auf sich, es fällt ihm schwer, unvoreingenommen und frei von subjektiven Einflüssen zu denken und zu handeln.

 

Lernen

Wahrnehmung:

Nora besitzt eine ausgeprägte Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit. Oft ist sie die stille Beobachterin in der Gruppe. Sie hat ein feines Sensorium für die Befindlichkeit von anderen und sich selbst.

Ihre Wahrnehmung ist in allen Sinnesbereichen gut entwickelt. Das Hören ist für sie besonders wichtig, z.B. bei Geschichten oder Liedern.

Manchmal ist es ihr auch zu laut in der Gruppe.

Victor entgeht nichts, was in der Gruppe geschieht, auch wenn er ganz versunken in seinem Spiel ist. Er hat eine gute  Detailwahrnehmung und eine hohe sensorische Empfindlichkeit. Manches ist ihm sehr unangenehm, z.B. schmutzige Teller anfassen oder enges Sitzen zwischen zwei Kindern zu ertragen.

 

Gedächtnisleistung:

Nora: Das Einprägen von Inhalten verläuft bei Nora umfangreich und sehr genau. Sie kann sich etwas ganz genau (in allen Einzelheiten) merken. Besonders Gedichte, Liedtexte oder Reime kann sie erstaunlich schnell auswendig. Sie verblüfft zum Teil durch ihr ausgesprochen gutes Lang- und Kurzzeitgedächtnis. Sie erinnert zum Beispiel kleine Details von einmal gehörten Geschichten, oder sie weiß häufig noch wortwörtlich, was bei einem Gespräch abgemacht worden ist.

Victor: Er besitzt eine verblüffende Gedächtnisfähigkeit. Er hat ein ausgesprochen gutes Lang- und Kurzzeitgedächtnis. Er erinnert sich zum Beispiel an kleine Details von einmal gehörten Informationen oder er weiß häufig noch wortwörtlich, was bei einem Gespräch abgemacht worden ist.

 

Konzentration und Aufmerksamkeit:

Noras Konzentration und Aufmerksamkeit sind bemerkenswert. Im Morgenkreis in der Großgruppe von 25 Kindern fällt es ihr nicht schwer aufmerksam zu sein und sich zu konzentrieren. Es entgeht ihr nie etwas, das besprochen wurde. Sie besitzt eine große Ausdauer und Belastbarkeit bei Aufgaben, die sie sich selbst gestellt hat.

Victor: Entspricht etwas seinem Interesse, kann er hoch motiviert sein und beschäftigt sich deutlich länger als gleichaltrige mit Dingen, die einen langem Atem fordern. Zum Beispiel mit Sachbüchern oder Computerspielen.

 

Antriebsprozesse

Interessen:

Noras Interessen sind breit gefächert und vielfältig. Sie hat großes Interesse am Musizieren und Singen. Alle Bastelaktivitäten nehmen sie gefangen. Es gibt keinen Tag, an dem sie nicht ein Bild gemalt hat. Auch an Bewegungsangeboten nimmt sie sehr gerne teil, besonders tanzen bereitet ihr viel Freude. Pferde sind Noras Leidenschaft. Rollenspiele mit ihren Freundinnen zum Thema Pferde machen ihr außerordentlichen Spaß. Sie verbringt sehr viel Zeit mit Büchern aus unserer Bibliothek.

Victor entwickelte auf bestimmten Sachgebieten, wie zum Beispiel Natur, Weltall, Körper, Technik, Dinosaurier und Computer, ein umfangreiches Wissen. Dieses wurde aus eigenem Antrieb und als Ergebnis eines ausgeprägten Langzeitinteresses angeeignet. Sowohl Informationsbreite wie Informationstiefe sind Indikatoren für seine Neugierde, ein effektives Langzeitgedächtnis und für seine damit verbundene Problemlösefähigkeit.

 

Lernmotivation:

Nora lernt Neues, weil es ihr besondere Freude macht und sie mit Stolz erfüllt. Die Anerkennung der Erwachsenen ist ihr wichtig. Sie selbst hat hohe Ansprüche an das Ergebnis der eigenen Tätigkeit. Sie besitzt eine große Freude am Speichern und Verarbeiten von Informationen. Sie fordert immer wieder neue intellektuelle Herausforderungen ein, da sie in ihrer kognitiven Entwicklung für ihr Alter schon sehr fortgeschritten ist.

Bei Victor liegt ausschließlich eine intrinsische Motivation vor, so handelt er um der Tätigkeit willen. Die Handlung selbst bereitet ihm Freude und Zufriedenheit, aber nur wenn er selbst die Inhalte bestimmt und diese seinem wirklichen Interesse entsprechen. Dann ist er zu Höchstleistungen fähig. Lernangebote, die für alle bestimmt sind, um alltägliche Dinge zu lernen, verweigert er oft.

 

Motorik

Vitalität:

Nora ist ein sehr zartes Kind, jedoch voller Lebenskraft und überaus beweglich.

Victor ist ein gesundes und kraftvolles Kind mit viel Energie. Mit Bestimmtheit geht er seinen Tag an. Seine Spielvorhaben verfolgt er mit Entschiedenheit, Kraft und Nachdruck.

 

Grobmotorik:

Nora liebt und braucht Bewegung. Sie lernt schnell neue Bewegungsabläufe und ist erfolgreich in Spiel und Sport. Sie besitzt ein hohes Körperbewusstsein und ist sehr geschickt in ihrer Grobmotorik.

Victor ist sehr bewegungsfreudig und bewältigt alle grobmotorischen Anforderungen in unserem Außengelände. Dennoch wirkt seine gesamtkörperliche Koordination eher ungelenk, es fiel ihm schon immer schwer, seine eigenen Kräfte einzuschätzen. Er kletterte schon sehr früh und hatte niemals Angst. Dadurch brachte er sich selbst oft in gefährliche Situationen. Auch scheint er sich nicht auf seine Muskelspannung verlassen zu können. Manchmal wirkt er sehr schlaff und liegt häufig auf dem Boden. Dann wieder scheint er sich über längere Zeit in einem Spannungszustand zu befinden.

 

Feinmotorik:

Nora: Ihre feinmotorischen Fähigkeiten waren schon sehr früh ausgebildet. Mit 3 Jahren konnte sie schon sehr detailliert und überaus ordentlich Bilder ausmalen. Beim Weben konnte man feststellen, wie geschickt sie ist.

Victor fällt es sehr schwer, gezielte koordinierte Bewegungen auszuüben, die die Handgeschicklichkeit betreffen. Seine Stifthaltung ist sehr verkrampft. Er hat Probleme sich anzuziehen und Reißverschlüsse zu betätigen. Er vermeidet diese Dinge eher als sie zu üben. Feinmotorik kann man durch Üben verbessern, doch die Motivation zum eigenen Handeln ist eine wichtige Voraussetzung dafür, diese ist bei  Victor wenig vorhanden.

 

Handlungseigenschaften, -ausführungen

Nora: In ihrem Tun ist Nora immer konzentriert und gründlich. Bittet man sie, kleine Dinge zu erledigen, ist sie sehr verlässlich. Auch Ämter in den Gruppen übernimmt sie gerne und ist sehr verantwortungsbewusst.

Victor: Wenn sich Victor etwas in den Kopf gesetzt hat, kann er eine sinnvolle Planung erstellen und sorgt für eine gute Umsetzung, seine Ausdauer bei der Erreichung seiner Ziele ist bemerkenswert. Wenn ihn etwas nicht interessiert, arbeitet er flüchtig und ohne Ausdauer. Er fordert dann vehement Unterstützung und braucht viel gutes Zureden.

 

Besondere Fähigkeiten, Talente:

Nora hat eine ausgeprägte körperlich-kinästhetische Intelligenz. Sie ist sehr aktiv, verinnerlicht neue Bewegungsabläufe wie z.B. Choreografien sehr schnell und verfügte bereits früh über eine ausgeprägte Mimik und Gestik. Ihre Hand-Auge-Koordination ist sehr gut, ebenso ihre Grob- und Feinmotorik. Sie hat ein sehr hohes Körperbewusstsein.

Auch besitzt sie eine hohe musikalisch-rhythmische Intelligenz. Schon als Kleinkind reagierte sie auf Musik im Besonderen und Klänge im Allgemeinen in besonderer Weise. Melodien und Rhythmen erkennt sie schnell, Musik begleitet ihren Alltag. Sie musiziert gern von selbst, setzt sich mit Melodien und Rhythmen selbstständig auseinander.

Ihre hohe sprachliche Intelligenz äußert sich durch einen für ihr Alter ungewöhnlich großen Wortschatz und eine sehr gute Ausdrucksweise.

Victor besitzt ein großes Wissen und Interesse an physikalischen, technischen und chemischen Abläufen. Er zeigt eine Faszination für alle Arten von Experimenten mit Elektrizität, Technik, Flüssigkeiten, usw. Er beschäftigt sich zum Teil auch mit Fragen zu Planeten und vor allen Dingen zu Computerspielen. Er ist an Naturphänomenen wie Wasser, Steinen, Tieren, Wetter, Umwelt, stark interessiert und nimmt genau wahr, was abläuft. Er versucht die Natur zu verstehen.

 

Sonstige Beobachtungen:

Nora: In den fünf Jahren, in denen Nora unsere Einrichtung besucht, hat uns ihre Entwicklung viel Freude bereitet. Wir sind davon überzeugt, dass sie außer ihrer besonderen Intelligenz auch noch viele versteckte Talente und Fähigkeiten besitzt. Ihre liebenswerte und freundliche Art machen sie zu einem ganz besonderen Kind.

Wir wünschen ihr, dass ihre Lernfreude in der Schule noch lange anhalten wird.

Victor unterscheidet sich sehr von anderen Kindern in seinem Alter. Er besitzt in dem Bereich Mathematisch-logische Intelligenz sowie im Bereich Naturalistische Intelligenz überdurchschnittliche Fähigkeiten. Mit seiner besonderen Willensstärke stand er sich selbst und gemeinsamen Aktivitäten oft im Weg, so dass eine Zusammenarbeit schwierig war. Aber seine Höflichkeit Erwachsenen gegenüber hat ihn immer zu einem sehr liebenswerten Kind gemacht. Es war sehr spannend, seine Entwicklung zu begleiten, und von seinen guten Ideen und besonderen Einfällen haben alle Kinder der Gruppe profitiert.

 

Verantwortlich für den Inhalt des Berichtes:

Datum, Unterschrift:

 

Siehe auch: Unser „Brückenjahr“

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2012
Copyright ©  Alexa Kreitlow, siehe Impressum.

 

Buchstabenprojekt in Kleingruppenarbeit

von Lucy Rüttgers

 

Bei mehreren Kinder meiner Gruppe entdeckte ich ein verstärktes Interesse an Buchstaben, als ich gezielt dahingehend beobachtete. Gespräche mit den Kindern vermittelten mir ihren Wunsch: Lesen und Schreiben lernen.

Edith (Name geändert) (5;0), die ich in meiner ersten Praxisaufgabe (im IHVO-Zertifikatskurs) gezielt beobachtet hatte, war auch dabei.

Dies war, als sie 4;7 Jahre alt war, ihre spontane Antwort im Interessen-Fragebogen für den Kindergarten auf die Frage: „Was hast du schon einmal gemacht, worauf du richtig stolz bist?“

Einstieg ins Projekt

Für den Einstieg ins Projekt nutzten meine Kollegin und ich unseren „Morgenkreis“. Ziel war es, in der Kindergartengruppe alle interessierten Kinder anzusprechen, unabhängig von ihrem Alter. Das Ergebnis waren (aus unseren beiden Gruppen) 19 interessierte Kinder, die am Buchstaben-Projekt teilnehmen wollten. Wir bildeten vier Kleingruppen. Zwei Kleingruppen begleitete meine Kollegin, zwei betreute ich. Wir organisierten es so, dass jedes Kind an jedem zweiten Tag mit seiner Kleingruppe dran war.

… kurz gefasst …

Die Autorin greift das Interesse etlicher Kinder an Buchstaben nicht nur nebenbei auf, sondern führt eine Angebotsreihe in einer Kleingruppe mit sechs Kindern dazu durch. Besonders ein Mädchen (5;0) zeigt einen großen Lerneifer. Es zeigt sich im Laufe der Zeit, dass dieses Kind fast immer noch weiter lernen möchte, wenn die anderen schon gesättigt sind und sich nicht mehr konzentrieren können.

Das Mädchen Edith wird selbstsicherer und genießt die kognitive Förderung.

Im Folgenden konzentriere ich den Bericht auf die Gruppe, in der Edith war. Die Gruppe bestand zunächst aus fünf Kindern: drei leistungsstarken Kindern (meiner Einschätzung nach), kombiniert mit zwei etwas schwächeren. Edith war mit gerade fünf Jahren die Jüngste in dieser Gruppe.

Die Vorbereitungen zum Projekt, den roten Faden, gestalteten meine Kollegin und ich gemeinsam. Der konkrete Projektablauf  war dann von den jeweiligen Kindern, ihren Kenntnissen, Fertigkeiten, Interessen, Wünschen und Ideen abhängig.

Die Kinder

Edith, zu Beginn des Projektes gerade fünf Jahre alt geworden, ist ein ruhiges, unauffälliges, schüchternes, vorsichtiges Mädchen. Obwohl ihre Selbstsicherheit durch unseren intensiven Kontakt und meine große Aufmerksamkeit in den letzten drei Monaten (während meiner ersten Praxisaufgabe) sichtlich gewachsen ist, braucht sie weiter viel emotionale Unterstützung.

Ihrem Vorwissen und ihren Buchstabenkenntnissen entsprechend, musste Edith in eine Gruppe mit älteren Kindern, um gleiche Interessenspartner zu finden. Gut wäre die Kombination mit drei anderen Mädchen, was aus organisatorischen Gründen nicht möglich war. So ist zur emotionalen Unterstützung von Edith ihre Spielpartnerin Nele mit in die Gruppe gekommen. Nele ist zwei Monate älter als Edith, und ihren Wissensstand über Buchstaben konnte ich nicht richtig einschätzen.

Weiterhin war Lotte (5;10) dabei. Für die Eltern stand zeitweise die Frage der Einschulung, sie entschieden sich aber dagegen. Dann waren da noch Ole (6;11) und sein Freund Max, der erst 5;6 war. Bei ihm vermutete ich auch eine besondere Begabung und war auf seinen Wissensstand sehr gespannt. Für ihn war die Anwesenheit seines Freundes Ole sehr wichtig.

Siehe auch: Förderung in Kleingruppen – Möglichkeiten und Vorteile

Erstes Angebot

Am Anfang stand ein Gespräch über die Wünsche und Erwartungen der Kinder. Dabei stellte sich heraus: Bis auf Nele (5;2), die mit Buchstaben spielen und deren Namen lernen wollte, hatten alle anderen Lesen- und Schreibenlernen als Ziel.

Anschließend haben wir anhand von etwa 20 cm großen Buchstaben (von Kindern im Freispiel ausgeschnitten) über den Unterschied von Namen und Klang der Buchstaben gesprochen und es mit Beispielen ausprobiert.

Dabei erkannte ich: Buchstaben benennen ist den Kindern geläufiger als der Klang. Sie können das Alphabet zum größten Teil schon auswendig – sprechend oder singend – deshalb haben wir geübt, den Klang der Buchstaben zu sprechen. Wir haben geübt, genau zu hören und zu sprechen, zum Beispiel mit Worten, bei denen der jeweilige Buchstabe am Wortanfang steht.

Dabei kamen, um es übersichtlich zu halten, zunächst nur acht Buchstaben zum Einsatz, darunter die Anfangsbuchstaben der Kindernamen.

Zum Schluss legte jedes Kind aus den Buchstaben seinen Vornamen.

Dauer: etwa 35 Minuten.

Wie verhielt sich Edith?

Edith wirkte auf mich still und zurückhaltend, unsicher der Gruppe gegenüber. In ihrem Wissen war sie dagegen sicher. Sie kannte fast alle Buchstaben mit Namen und Klang. Sie nahm das Angebot ernsthaft und konzentriert wahr und hatte für Blödeleien kein Verständnis.

Zweites Angebot

Jedes Kind erhält ein Heft und kann durch die gesamte Kita gehen, um Buchstaben, Worte und Sätze zu sammeln und abzuschreiben. Alle Kinder erscheinen hoch motiviert. Anschließend haben wir die Ausbeute gemeinsam angeschaut.

Die Kinder sollten ihr Ergebnis den anderen zeigen und, wer kann und will, die gesammelten Buchstaben vorlesen. Nele, Max und Ole haben wenig und undeutlich geschrieben. Sie trauen sich nicht vorzulesen, da sie viele Buchstaben noch nicht kennen.

Edith und Lotte haben viel geschrieben, Lotte etwas mehr, Edith dafür viel genauer und exakter.

Beide lesen ihre Buchstaben genau vor (mal den Buchstaben-Namen, mal den Buchstaben-Klang). Lotte liest schneller, Edith mit mehr Sorgfalt. Edith weiß einen Buchstaben nicht, ich gebe ihr den Tipp: der dritte des Alphabets, sie zählt ihn am Alphabet ab und nennt ihn.

Gemeinsame Abschlussüberlegung: Wie geht’s am nächsten Tag weiter?

Biete an: Wer noch weiter machen möchte, kann noch bleiben – es möchte keiner mehr.

Drittes Angebot

Wie am Vortag gemeinsam beschlossen: Buchstaben aus Werbezeitschriften ausschneiden und aufkleben – einzelne Buchstaben, Namen, Wörter oder Sätze, ganz nach Belieben.
Ich denke, so sind schwächere Kinder nicht überfordert und leistungsstärkere haben die Möglichkeit, ihren Bedürfnissen entsprechend zu powern.

Edith arbeitet langsam, aber sehr genau und setzt zweimal ihren Namen zusammen. Dann kommt ein Spiel, das die Kinder sich gewünscht haben: Aus zehn Buchstaben (20 cm groß, aus Pappe geschnitten) versuchen die Kinder mit verbundenen Augen einen bestimmten Buchstaben zu ertasten. Das ist für die Kinder kein Problem, macht ihnen aber Spaß.

Für den nächsten Projekttag kündige ich an, dass sie eine Lesetabelle kennen lernen werden, als Hilfestellung zum selbstständigen Lesenlernen.

Edith sagt daraufhin bestimmt: „Ich will Lesen lernen.“

Alle Kinder dürfen dann in das heißgeliebte Turnzimmer. Nur Edith möchte mit mir allein noch weiter machen, sie zieht das Lernen mit mir allein dem Turnzimmer vor!
Wir besprechen die für das nächste Mal vorgesehene Lesetabelle. Sie benennt die Begriffe und die Laute (den Klang) der Buchstaben. Bei einigen unklaren Bildern braucht sie Hilfe. Dann schreibe ich ihr folgende Wörter auf, und sie liest!

Bild, Tag, Tanne, Wolke, Tafel. Die drei letzten waren fur sie etwas schwieriger zu lesen,  aufgrund der Zweisilbigkeit.

Danach wollte sie dann aufhören und auch zu den anderen ins Turnzimmer gehen!

Viertes Angebot

An diesem Tag habe ich Linus (sechs Jahre alt) angeboten, als Gast in dieser Buchstabengruppe mitzumachen. Nach meinen neusten Beobachtungen (er kann schon teilweise lesen) passt Linus besser zu dieser fortgeschrittenen Gruppe.
Zu Beginn des Angebots habe ich jedem Kind eine Lesetabelle gegeben, die nur Großbuchstaben enthielt. Alle Kinder vollzogen meine Erklärungen interessiert nach und waren hoch motiviert, die Buchstaben mit Hilfe der Bildmotive zu benennen.
Obwohl Edith diese Tabelle nun schon kannte, waren ihre Konzentration und Motivation davon nicht negativ beeinflusst.
Bisher waren den Kindern hauptsächlich die Großbuchstaben vertraut. Da aber nun ein Spiel anstand, in dem ebenso Kleinbuchstaben vorkommen, ergänzte ich bei den Kindern zunächst die Lesetabelle. So konnten sie neben den ihnen schon bekannten Großbuchstaben jetzt selbstständig die entsprechenden Kleinbuchstaben ablesen.

Dann spielten wir ein Leselernspiel mit Tieren. Zum Spielmaterial gehörten kleine Kärtchen mit einem Bild; auf einem Kärtchen war zum Beispiel ein Zebra dargestellt. Dasselbe Motiv existierte jeweils noch einmal auf einer großen Karte, unter dem Bild war das zugehörige Wort geschrieben, also im Beispiel „Zebra“. Diese große Karte war in Streifen geschnitten, und zwar so, dass auf jedem Streifen ein Buchstabe des Wortes und ein Teil des Bildes zu sehen war.
Die Kinder zogen ein Kärtchen und puzzelten dann das dazugehörige Bild zusammen. Nun konnten sie versuchen, das entstandene Wort, also den Tiernamen, zu lesen.
Buchstaben, die sie nicht erkennen konnten (vor allem waren das die Kleinbuchstaben), sollten sie auf der Lesetabelle suchen.

Für Edith war das kein Problem! Edith hatte jetzt innerhalb der Gruppe an Selbstsicherheit gewonnen. Sie traute sich neuerdings zu,  laut zu lesen, und sie meldete Wünsche an.
Jedes Kind legte drei Tiere.
Nach dem Abschluss des Angebots entschieden Edith und Linus, dass sie noch weiter machen wollten. Auf meine Frage an Linus, ob er gerne weiter mit dieser Gruppe arbeiten würde, sagte er ganz spontan: „In allen!“
Edith und Linus verstanden sich während des weiteren Angebots ausgesprochen gut, obwohl sie ansonsten im Kita­-Alltag keinen Kontakt haben. (Edith spielt mit den Mädels und Linus mit den wilden Jungs.)
Aufgabenstellung war nun, mit den Nikitin LOGO ­Buchstabenwürfeln selbstständig beliebige Wörter zu schreiben. Edith schreibt <Roller> und <Edith>. Beim Vorlesen liest sie jeden einzelnen Buchstaben und reiht sie nach und nach zum Wort zusammen – mit deutlicher, klarer Aussprache und hoher Konzentration.
Linus findet das langweilig und will hoch motiviert <Fettsack> schreiben. Er schreibt dann mit etwas Unterstützung: <FÄTSAK> und <PO>.

Fünftes Angebot

Linus nimmt jetzt immer in dieser Gruppe teil, womit es nun sechs Kinder sind. Auch diesmal besteht das Angebot aus einem Buchstabenspiel.
Es wird eine Buchstabenkarte in die Mitte gelegt, darauf steht ein großer Druckbuchstabe,  auf den Kartenecken ist der zugehörige Kleinbuchstabe abgebildet. Rechts und links neben die Karte soll je ein Bild gelegt werden, dessen Bezeichnung mit diesem Buchstaben beginnt.
Alle spielten etwa eine halbe Stunde lang.

Edith will anschließend noch weiter machen. Ole leistet ihr noch kurz Gesellschaft, aber als klar wird, was wir weiter machen wollen, verabschiedet er sich schnell: Heinevetters Lesetrainer.

Ich gebe Edith eine Lesekarte. Sie liest und sucht dann die entsprechende Abbildung dazu. Begriffe sind: Blume, Banane, Tomate, Schlüssel, Puppe, Puppenwagen. Einige Kleinbuchstaben kennt sie noch nicht. Ich helfe ihr, sie zu benennen, oder wir schauen in der Lesetabelle nach.

Auch die Kombination „Sch“ ist ihr nicht vertraut, aber es ist dann für sie kein Problem, sie richtig einzusetzen. Edith genießt die Zeit alleine mit mir und erzählt mir nebenbei vieles – aus Vergangenheit und Zukunft. An diesem Tag reicht ihre Konzentration etwa für eine Stunde.

Sechstes Angebot

Der Einstieg zum Angebot sollte das gemeinsame Auslegen der großen Pappbuchstaben in Alphabet-Reihenfolge sein. Anschließend wollte ich mit den Kindern ein Buchstabenspiel gestalten.
Die Kinder hatten allerdings schon einen ca. 35 Min. dauernden Morgenkreis mit Musikinstrumenten hinter sich. Außerdem war es sehr heiß an diesem Tag.
Aus meinem geplanten Einstieg entwickelten die Kinder dann etwas anderes: Sie stellten aus den vorhandenen großen Pappbuchstaben Buchstabenketten, Buchstaben­-Hänge-Ohrringe und Buchstaben-Puzzle her.
Doch dann auf einmal fingen Edith, Lotte, Linus und Nele mit der Gestaltung des neuen Spiels an, wie ich es ihnen vorgeschlagen hatte.
Das ging so:
Aus spezieller, besonderer Wellpappe eine Tafel und viele kleine Plättchen zuschneiden, dann unter Zuhilfenahme des Alphabets Buchstaben darauf schreiben. Weil die Rillen der speziellen Wellpappe ineinander passen, kann man nun auf der Rillentafel (wie auf einer Magnettafel) Buchstaben, Wörter oder Sätze zusammenfügen.
Während die vier Kinder daran arbeiten, tummeln sich Max und Ole noch ein Weilchen in den Sitzkissen und haben dann Lust, gemeinsam ein Tier-Alphabet-Puzzle zu basteln. Die Anderen kämpfen weiter mit den Pappstreifen.

Edith arbeitet langsam, aber sorgfältig. Sie achtet stets auf Genauigkeit. Außerdem arbeitet sie meist vorsichtig, um nichts falsch zu machen. So ist es auch diesmal.
Auf die Plättchen schreiben die Kinder noch die Buchstaben ihres Namens, je Plättchen ein Buchstabe. Eine Schwierigkeit taucht dabei noch auf: Sie müssen die Laufrichtung der Rillen beachten, denn sonst stehen die Buchstaben später, nach Befestigung auf der Tafel, auf dem Kopf. Edith ist dies trotz ausführlicher mehrmaliger Erklärung dann doch öfters passiert. Bisher hatte sie solche Situationen nicht ohne Tränen verkraftet, erst recht nicht, wenn andere ihre Schwierigkeiten mitbekamen.

Deshalb war ich jetzt erstaunt, wie gelassen sie blieb und wie gut sie sich ihre kleinen Fehler zugestehen konnte, ohne völlig frustriert zu sein.

Max und Ole machten zum Schluss dann auch noch mit, und so konnte am Ende jedes Kind seinen Namen in die Buchstabentafel drücken.

Ca. eine Stunde hat das Angebot dann doch noch gedauert, und da hatte dann auch Edith keine Lust mehr, noch mehr zu machen.

Siebtes Angebot

Geplant war die Erweiterung des Buchstabenspiels vom Vortag; dies war aber anscheinend für die Kinder aktuell wenig reizvoll. So einigten wir uns auf zwei beliebige Wörter, die sie schreiben sollten, ausgenommen ihre eigenen Namen. Edith hat es gut hingekriegt, die anderen Kinder brauchten mehr oder weniger Hilfe.

Edith hatte als einzige noch nicht genug Input bekommen. Sie will mit Heinevetters Lesetrainer noch weiter machen. Sie kennt fast alle Buchstaben, braucht aber immer noch bei einigen Kleinbuchstaben Hilfe, zum Beispiel verwechselt sie d und b. Auch die Kombinationen wie ei, eu und au müssen wir in der Lesetabelle nachschauen.

Ihre Lesemethode, die sie selbst für sich erfunden hat, geht so:

1. Zuerst sprach sie den ersten Buchstaben des Wortes,
2. dann den zweiten Buchstaben einzeln,
3. dann reihte sie den zweiten Buchstaben an den ersten und sprach beide zusammen,
4. dann wandte sie sich dem dritten Buchstaben zu, las ihn einzeln,
5. dann reihte sie ihn an die die ersten beiden an und sprach sie zusammen,
6. usw., bis ans Ende des Wortes.
Dann wusste sie noch nicht sofort, welches Wort sie nun gerade gelesen hatte, der Sinn des Wortes erschloss sich ihr dann erst beim zweiten Aussprechen.

Edith las und ordnete folgende Wörter den Bildmotiven zu:
Puppe, Tomate, Banane (bekannt von letztem Mal), Vogel, Ofen, Igel, Leiter, Maus, Eule, Eimer, Auto, Sofa, Uhr, Wagen, Rose, Esel, Dose, Hose und Ameise.

Sie hätte ewig mit mir weitermachen können. Aber ganz allein, ohne mich, wollte sie dann doch nicht mehr. Da ging sie lieber zu den anderen spielen.

Achtes Angebot

Heute schlage ich den Kindern vor, das Alphabet mit Wasserfarben auf Papier zu malen, um die Buchstaben dann auf unsere Treppe zwischen Erdgeschoss und erstem Stock zu kleben.
Zuerst malen sie in Druck-Großbuchstaben alle gemeinsam die Buchstaben des gesamten Alphabets.
Edith arbeitet wieder langsam und sehr ordentlich und genau. Linus geht es nicht schnell genug.
Anschließend kann jeder malen und schreiben, was und so viel er will. Linus schreibt wieder FÄTSAK und SAU und ist ganz stolz. Lotte schreibt einfach nur Buchstaben, Ole und Max machten nichts mehr und Nele und Edith schreiben noch ihren Namen.
Dann will Edith noch Heinevetters Lesetrainer zu Ende spielen. Diesmal kommen noch neue Buchstabenkombinationen hinzu: Sp, St, ch, ü, ö, ä. Lotte gesellte sich noch hinzu, und die beiden lasen abwechselnd laut vor.
Lotte liest den Anfang und versucht, den Rest des Wortes zu erraten.

Neuntes Angebot

Lesestunde mit Edith alleine, mit dem „Ersten Brockhaus“.

Anfangs liest sie einige Wörter, dann aber geben ihr die Bilder im Buch immer wieder neue Erzählideen ein.

So zählt sie bei einer Hausabbildung, wo man in die Innenräume schauen kann, ganz viele Gegenstände auf, die in diesen Räumen fehlen. Ca. eine Stunde verbringen wir so, dann hat sie keine Lust mehr, auch nicht auf eine andere Aktion.

Zehntes Angebot

Ich frage Edith an diesem Morgen, ob sie heute wieder mit den anderen Kindern der Gruppe das Buchstabenangebot machen will oder mit mir alleine. Sie antwortet, ohne lange zu überlegen: „Mit dir alleine.“

Weiter frage ich: „Lieber Lesen oder Schreiben?“ Sie entschied sich für Lesen. Wir lesen einen kurzen Text aus einer Lesefibel:

Malt mit

Lilo malt Mama

Lilo malt Mama mit (Bild eines Hutes)

Tilo malt Mama mit (Bild eines anderen Hutes)

Tim malt (Bildsymbol)

Tom malt (Bildsymbol)

Mama malt (Bildsymbol)

Oma malt (Bildsymbol)

Auffällig finde ich, dass Edith jedes Wort so las, als ob sie es das erste Mal sah und das erste Mal lesen würde.
Zum Schluss wurde das: „malt“ dann schneller und flüssiger gelesen, aber nicht so selbstverständlich, wie ich erwartet hatte. lch hatte gedacht, dass sie es wiedererkennen und dann auswendig schnell einfügen würde.

Dann las sie noch einen Text:

„Dinos sind im (Bildsymbol Ei).
In Ninos (Bildsymbol Bett) sind Dinos.
Da sind Dinos als (Bildsymbol Schuh).
Da sind Tassen mit Dinos.“

Nun waren ca. 25 Minuten um und ich bemerkte, dass Edith unkonzentrierter wurde. Daraufhin fragte ich sie, ob wir damit aufhören sollten, sie stimmte zu. Ich erklärte ihr nochmals, dass sie immer Bescheid sagen soll, wenn sie keine Lust mehr hat, weiter zu machen.

Die Frage, ob wir denn für heute ganz aufhören sollten oder ob sie noch etwas mit den LOGO-Steinen schreiben möchte, beantwortete sie ganz klar mit: „Weitermachen.“

Und ich dachte, sie wäre erschöpft!

Also wandten wir uns den Nikitin-LOGO-Würfeln zu. (Siehe: Interessante Spiele.)

Wir nahmen das Übungsheft zu Hilfe. Die Wörter standen untereinander geschrieben. Der Anfangsbuchstabe war als Buchstabe abgebildet, die anderen Buchstaben durch Symbole ersetzt, zum Beispiel Sonne für S oder Roller für R.
Die ersten sechs Wörter bestanden aus vier Buchstaben, die folgenden sechs aus fünf bis sechs Buchstaben.
Gemeinsam suchten wir die entsprechenden Symbole auf den Würfeln. Edith legte sie auf die entsprechenden Felder. Dann benannte sie nach und nach die Anfangsbuchstaben der ausgelegten Symbole, drehte den Würfel passend und las zum Schluss das Wort vor.
Nach 35 Minuten bemerkte ich Flüchtigkeitsfehler, und sie wollte aufhören.
Sie kannte alle Buchstaben bis auf Sch, Sp, Pf, Qu, Ä, Eu, Ei. Bei diesen brauchte sie meine Hilfe. Manchmal bemerkte ich, dass sie das Wort richtig und gut artikuliert las, aber zunächst die Bedeutung nicht verstand, also das Wort als Ganzes nicht erkannte. lrgendwann machte es dann aber immer „Klick“.

Abschlussgedanken

Zum Projekt insgesamt:

Das Projekt wurde von allen teilnehmenden Kindern mit Begeisterung aufgenommen. Der Wissensstand der Kinder erhöhte sich, was auch für die Kinder selbst sichtbar war.
Die von uns als „buchstaben-leistungsstark“ eingeschätzten Kinder haben diese Erwartung bestätigt.

Gemeinsam mit allen Projektkindern haben wir nun für alle einsichtlich neue Gruppen zusammengestellt. So können künftig die Kinder, die schon etwas lesen können, in einem für sie geeigneten Tempo weiter arbeiten, und die anderen Kinder können an ihren Kenntnissen anknüpfen.
Durch die Gruppenveränderungen wurde nur bei wenigen Kindern eine kurze Traurigkeit hervorgerufen; denn alle haben auch nach den Änderungen noch Freunde mit in ihrer Gruppe. Weitermachen mit dem Projekt möchten alle.

Zu Edith:

Zunächst ist es auffällig, wie eng unsere Beziehung geworden ist. Das zeigt sich zum Beispiel in der täglichen innigen Begrüßung und Verabschiedung, oder auch darin, dass sie jeden Tag fragt, ob sie beim Morgenkreis und beim Mittagessen neben mir sitzen darf. Sie kann aber durchaus auch ganz gut ohne mich zurechtkommen, sie „klammert“ nicht.Ediths Freundinnen kommen jetzt beide in die Schule, nur Charlotte bleibt ihr dann noch, die in Kürze auch 5 wird. Mein Ziel ist es, Lotte und Edith einander näher zu bringen. Sie sind ganz unterschiedliche Kinder und haben so eigentlich keine Verbindung. Ich kann mir aber vorstellen, dass sie sich in manchen Bereichen gut ergänzen. Des weiteren glaube ich, dass sowohl Lotte als auch Edith adäquate Spielpartner fehlen, wenn die anderen in der Schule sind. Durch die Fortführung des Buchstabenprojekts hoffe ich auch, die Verbindung der beiden zu verbessern.

Bei unseren gemeinsamen Aktivitäten zu zweit erhielt Edith sehr viel Aufmerksamkeit, welche sie meiner Meinung nach auch braucht. Ich war bei den Angeboten ruhig, geduldig, und alles sollte ohne jeglichen Leistungsdruck ablaufen. Meine Anregungen und Fragen stellte ich behutsam. Trotzdem schien mir Edith oft unter einer Art Leistungsdruck zu stehen. Sie saß nie entspannt und ruhig, sondern zappelte hin und her und musste ständig ihre Sitzposition ändern.

Ist das negativ zu werten oder als ein Zeichen positiver An- und Aufgeregtheit?

Ihre große intrinsische Motivation war nicht zu übersehen. Wenn alle Kinder schon mit ihrer Kraft und Konzentration am Ende waren, legte Edith mit mir alleine erst los. Sie nahm ansonsten unauffällig an den Angeboten teil, hatte den Mut und das Selbstbewusstsein, vor der Gruppe laut Wünsche zu äußern oder Wörter vorzulesen. Manchmal kam es mir so vor, als wartete sie die Zeit geduldig ab, bis sie dann mit mir so richtig an ihren Interessen arbeiten konnte.

Für Linus dagegen hätte ich immer auch extra schwierige Aufgaben bereithalten müssen, was aber schwer war, da ich sein Wissen und seine Wünsche nicht so gut einschätzen konnte. Ansonsten holte er sich seine Aufmerksamkeit auf die negative Weise, machte nur Blödsinn und benannte alles als „Pepp“ (viel zu leicht), konnte es dann aber oft doch noch nicht.

Es ist für mich offensichtlich geworden, dass Edith zusätzliche kognitive Förderung braucht und ihr diese gut tut. Wenn das Buchstabenprojekt abgeschlossen sein wird, möchte ich versuchen, ihren weiteren kognitiven Bedürfnissen gerecht zu werden. Sie hat schon geäußert, dass sie auch rechnen lernen will.

Gleichzeitig versuche ich auch etwas über ihre weiteren Interessengebiete zu erfahren. So stehen neben dem mathematischen Bereich auch Experimente und naturwissenschaftliche Fragen an.

Mal sehen, was der Kindergartenalltag mir an Möglichkeiten lässt.

Edith wurde später als hoch begabt getestet.

 

Mehr zu Edith lesen sie hier:
Mathematische Förderung in einer Zweiergruppe

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2012
Copyright ©  Lucy Rüttgers, siehe Impressum.

 

Sind alle Kinder aus den Beispielen hoch begabt?

von Hanna Vock

 

Im Handbuch werden viele Kinder beschrieben. Sind sie alle hoch begabt? Sicher nicht.

Allerdings gehören sie (geschätzt) alle zu den besonders begabten Kindern; so bezeichnen wir die Kinder, die einen Intelligenzquotienten von mindestens 115 Punkten haben. Der Mittelwert für alle Kinder liegt bei 100.

Genaueres zur Verteilung der Intelligenz und zum Intelligenzquotienten sowie zum Zusammenhang von Intelligenz und Begabung finden Sie in:

Normalverteilung der Intelligenz und Begriffsbestimmung Hochbegabung

Begabung oder Hochbegabung? und Was ist Intelligenz?

Hochbegabung und hohe Intelligenz.

Die Kinder, die in den von mir selbst geschriebenen Beiträgen vorkommen, sind zum größten Teil getestet hoch begabt. Oft fand ihre Testung erst Jahre nach den beschriebenen Begebenheiten statt und bestätigte die Vermutung.

Während meiner vieljährigen Beschäftigung mit hoch begabten Kindern konnte ich lernen, Hochbegabung gut zu schätzen. Hoch begabte Kinder fallen mir recht schnell auf; und ich kann auch Kolleginnen und Eltern treffsicher beraten, wenn ihr Kind deutlich nicht hoch begabt ist oder sich im Grenzbereich zur Hochbegabung befindet. Konkrete Beobachtungen (von mir selbst, Kolleginnen oder Eltern) und / oder die direkte Interaktion mit dem Kind sind dafür hinreichend.

Um einen Zahlenwert (zum Beispiel einen IQ-Wert) zu erhalten, ist natürlich eine Testung nötig. Aber ein solcher Zahlenwert ist vergleichbar ungenau wie eine gute Schätzung auf der Grundlage präziser Beobachtungen und großer Erfahrung.

Ein im Test gemessener Wert von zum Beispiel IQ 130 kann wegen der im Test enthaltenen Messungenauigkeit ebenso gut einen tatsächlichen IQ von 125 oder 135 abbilden. Das Ergebnis 130 bedeutet lediglich, dass die reale Intelligenz wahrscheinlich in der Nähe von 130 liegt. Genauer können Tests bisher nicht messen. Verschiedene Tests haben verschiedene Messungenauigkeiten. Der Tester kennt sie, sie sind im Testmaterial angegeben und auf sie sollte auch in einem Gutachten, das die Eltern erhalten, hingewiesen werden.

Die Beispiele aus den Handbuch-Beiträgen der anderen Autorinnen und Autoren beschreiben sowohl hoch begabte Kinder, als auch besonders begabte Kinder.

Die Auswahl der Kinder kommt so zustande: Nach der ersten Seminarphase im zweijährigen IHVO-Zertifikatskurs erhalten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Aufgabe, für ihre erste praktische Hausaufgabe ein Kind aus ihrer Gruppe / ihrer Kita auszuwählen. Es soll ein Kind sein, das durch auffällige Entwicklungsvorsprünge und / oder durch auffällig intelligente Fragen oder Ideen oder durch besonders intelligentes, für die Altersgruppe ungewöhnliches Spielverhalten bereits aufgefallen ist. In einigen Fällen konnte der Auswahl auch schon ein Testergebnis zugrunde gelegt werden.

Rein rechnerisch kann in längst nicht jeder Kindergartengruppe ein hoch begabtes Kind sein. (Auf 100 Kinder kommen statistisch zwei bis drei hoch begabte.) Allerdings verschiebt sich die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Teilnehmerin in ihrer Gruppe ein hoch begabtes Kind findet, durch zwei Faktoren:

1. Die meisten Teilnehmerinnen melden sich aus eigenem Antrieb an (sie werden in den seltensten Fällen durch ihren Arbeitgeber darauf gebracht). Als Motiv für die Anmeldung wird des öfteren genannt: „Wir haben ein hoch begabtes Kind in unserer Einrichtung und möchten es besser fördern können“ oder: „Eltern haben uns schon bei der Aufnahme erzählt, dass sie ihr Kind für hoch begabt halten und wir möchten damit umgehen können“ … oder Ähnliches.

2. Einige Teilnehmerinnen kommen aus Integrativen Schwerpunktkindergärten für Hochbegabtenförderung, in denen sich im Laufe der Zeit schon mehrere (vermutet oder getestet) hoch begabte Kinder versammelt haben, weil die Eltern diese Kita gezielt für ihr Kind gewählt haben.

Aus diesen Gründen erhöht sich die Zahl der hoch begabten Kinder, die für Praxisaufgaben ausgewählt werden können.

Dennoch findet nicht jede Teilnehmerin in ihrer Gruppe ein hoch begabtes Kind – aber jede findet ein besonders begabtes Kind, das im Kurs ihr „Beobachtungskind“ werden kann und mit dem sie gezielte Erfahrungen in der Begabtenförderung machen kann. Im Laufe der zwei Kursjahre kann sie – vor allem auch im Austausch mit den anderen Kursteilnehmerinnen – ein immer besseres Gespür für die Art und Höhe von Begabungen entwickeln.

Der pädagogische Prozess, der im Kursverlauf stattfindet, dreht sich dann um das Erkennen – Verstehen – Fördern der kindlichen Begabung. Diese drei Aufgaben greifen im pädagogischen Alltag ineinander und finden stets gleichzeitig statt.

Phase 1:

Am Anfang achte ich im Alltag des Kindergartens auf Indikatoren für besondere und hohe Begabungen.

Siehe: Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung.

Im Umgang mit dem Kind, im ersten Kennenlernen des Kindes in den ersten Wochen fallen mir (und Kolleginnen, mit denen ich mich austausche) besondere Entwicklungsvorsprünge, erstaunliche Äußerungen und andere Indikatoren auf.

Ich kommuniziere mit dem Kind auf seinem beobachteten Entwicklungsniveau und gebe ihm damit das Signal, dass ich seine Stärken wahrnehme. Damit stelle ich aktiv Vertrauen her. Ich biete ihm Spiele und Geschichten an, von denen ich glaube, dass es sie schon bewältigen kann, die es aber auch geistig herausfordern.

In ersten Gesprächen mit den Eltern (mit Hilfe des Elternfragebogens) sammle ich weitere Informationen und gleiche sie mit meiner eigenen Wahrnehmung des Kindes ab. Erstes Vertrauen zu den Eltern (auch zum Thema „Besondere Begabung“) wird aufgebaut.

Phase 2:

Das kontinuierliche Wahrnehmen der Reaktionen des Kindes (im Gespräch, auf gezielte Spielangebote, auf Angebote durch die anderen Kinder) geben weiteren Aufschluss, zum Beispiel über seine intrinsischen Motivationen, seine Interessen, seine Lernleichtigkeit und sein Lerntempo. Dadurch kann ich weitere Begabungsindikatoren entdecken.

In diesem Stadium spielen provozierende Beobachtungen eine wichtige Rolle.

Siehe: Arten der Beobachtung und Beispiele für provozierende Beobachtungen.

Phase 3:

Wenn das Kind über längere Zeit eine gelungene bestätigende und herausfordernde Kommunikation erlebt hat, wird es sich öffnen und seinen eigenen Lernprozess aktiv mitgestalten, indem es vermehrt Fragen stellt und eigene Vorschläge macht.
Diese Phase ist für beide Seiten (Erzieherin und Kind) besonders befriedigend und kann bis zur Einschulung andauern, sofern auch die Arbeitsbedingungen in der Kita das auf Dauer ermöglichen.
(Siehe auch: Rahmenbedingungen verbessern!)

Datum der Veröffentlichung: Juli 2017
Copyright © Hanna Vock