von Hanna Vock

  

Im Dezember hatten alle Kinder getöpfert. Es waren kleine Schalen und Untersetzer entstanden, aber auch Skulpturen – manches waren wirklich kleine Kunstwerke. Es waren die Geschenke, die die Kinder den Eltern bei der Weihnachtsfeier überreichen wollten.

Zum Trocknen standen sie im Nebenraum auf der sehr breiten Fensterbank. Wir hatten darüber gesprochen, dass nun die Fensterbank „tabu“ war, dass man dort nun nicht sitzen und klettern und spielen konnte, sondern vorsichtig sein sollte, um nichts zu zerstören.

Und dann gab es eines Tages ein großes Scheppern.
Ein sechsjähriger Junge, nennen wir ihn Frieder, der mit seiner Mutter einen größeren Streit hatte, war auch noch mit einem guten Freund im Kindergarten in Streit geraten. Er rannte aus dem Gruppenraum und fegte im Nebenraum mit ein paar großen wütenden Armbewegungen alles Getöpferte von der Fensterbank. Der Zivi hatte es durch die Küchendurchreiche gesehen, konnte aber nichts mehr retten.

Alle Geschenke waren hin.
Die Kinder kamen gelaufen und standen bestürzt vor dem Scherbenhaufen. Frieder wurde eigentlich von vielen Kleineren bewundert. Aber jetzt wollten wir ihm den Gruppendruck nicht ersparen. Ich nahm Frieder beiseite und fragte ihn, warum er das gemacht hat. Er setzte sein trotzigstes Gesicht auf und sagte: „Darum!“ Auf die Frage: „Ist Dir klar, dass jetzt alle Geschenke für die Eltern kaputt sind?“ gab er zur Antwort: „Mir doch egal.“ – „Tut es Dir denn Leid, dass Dir das passiert ist?“ Keine Antwort, aber Verlegenheit.

Natürlich wusste Frieder, was er da angerichtet hatte, er ist ein kluger Junge. Und mir war ziemlich klar, dass er es schon bereute. Aber es ging ja hier nicht nur um ihn und mich, sondern auch um die Gruppe, um alle anderen Kinder.

Nach kurzer Absprache im Team wurde eine Teppichversammlung einberufen. Alle saßen im Kreis, Frieder mit gesenktem Kopf dazwischen. Die anderen Kinder waren sehr ruhig, nur ein paar böse Blicke der älteren Mädchen flogen zu Frieder.

Wir forderten die Kinder auf und ermutigten sie, der Reihe nach zu sagen, wie sie das finden, was Frieder gemacht hat, und ihm dabei ins Gesicht zu sehen.

„Ich finde das doof“. „Ich finde das ganz gemein von Frieder“. „Er muss das alles wieder heile machen.“ (Frieder wusste, dass das nicht gehen würde…) „Ich spiele nie wieder mit Dir.“ Das waren die häufigsten Aussagen, die von anderen wiederholt wurden, immer mit Nachdruck und Betonung und Blick auf den Übeltäter.

 

Natürlich verbietet sich ein solches Vorgehen bei unter Fünfjährigen und bei Kindern, die in der Gruppe neu oder noch unerfahren sind.

Es war nicht leicht auszuhalten für Frieder.
Zunächst ließ er sich nichts anmerken. Als ihm aber auch ein paar Dreijährige ganz ruhig und ernsthaft ins Gesicht gesagt hatten, dass sie auf ihn böse sind, und ein älteres Mädchen spontan sogar einen Strafvorschlag brachte: „Zur Strafe darf er nicht bei der Weihnachtsfeier mitmachen“, da fing Frieder an zu weinen. Er hatte gemerkt, dass er außerhalb der Gemeinschaft gelandet war, und das tat weh.

Nun brauchte er also Schutz von den Erzieherinnen: Ich setzte mich hinter ihn, umarmte ihn (er lehnte sich an) und sagte: „Nein, so eine Strafe gibt es nicht. Natürlich feiert  Frieder mit uns. Aber auch die letzten Kinder, die noch nicht dran waren, sollen noch etwas zu Frieder sagen.“

Der Ton der letzten Kinder war versöhnlicher, sie hatten ja Frieders Betroffenheit vor Augen: „Ich finde auch doof, dass Du das gemacht hast. Was können wir denn nun den Eltern schenken?“  Und die letzten Äußerungen wandten sich nun stärker dieser Frage zu. Aber ihr Missfallen brachten auch die gutmütigsten Kinder noch zum Ausdruck.

Ich fragte Frieder, ob es ihm denn nun Leid tue, dass er die Geschenke kaputt gemacht hat, und er nickte schluchzend. Die Kinder nahmen dies offensichtlich als Entschuldigung an, die Blicke wurden freundlicher.

Zum Schluss griffen wir noch einmal die Äußerung auf: „Ich spiele nie wieder mit Dir.“
Das sei doch eine vielleicht übereilte Aussage – nur weil man mal einen Fehler macht, will man ja nicht gleich seine Freunde verlieren. Wenn der Ärger und die Wut verraucht sind, könnte man ja vielleicht doch wieder gut miteinander spielen? Das gab den Kindern zu denken.

Zum Schluss sagten wir den Kindern, dass wir versuchen würden, noch mal Ton zu besorgen, und dass dann alle noch einmal etwas töpfern könnten.

Mit Frieder redete ich im Anschluss noch einmal in Ruhe unter vier Augen, um zu sehen, wie er den Gruppendruck empfunden hat. Er war noch emotional erschüttert, meinte aber, er würde ja verstehen, dass die anderen auf ihn sauer sind. Am liebsten würde er morgen gar nicht kommen.
Ich sagte ihm, dass er sich da nicht so viel Sorgen machen sollte, weil die Kinder ja gemerkt hätten, dass es ihm Leid tut. Ich würde ihm aber raten, nicht mitzutöpfern und es auszuhalten, dass er dann kein getöpfertes Geschenk für seine Eltern hätte. (Er war ein künstlerisch begabtes Kind und malte ein sehr schönes Bild für seine Eltern. Als sie ihn fragten, warum er etwas anderes hätte, da sagte er ihnen schweren Herzens: „Ich habe den anderen Kindern die Geschenke kaputt gemacht, und da konnte ich nicht nochmal töpfern.“)

Wir hatten den Eltern natürlich direkt telefonisch von dem Vorfall berichtet, damit sie über Frieders Stimmung nicht im Dunkeln tappen mussten, und sie gebeten, zuhause nur darauf einzugehen, wenn Frieder selbst es ansprechen würde. Denn es war eine Angelegenheit der Gruppe, die intern geregelt wurde. Diese Eltern kannten unsere Grundsätze schon und hielten sich auch daran.

Am nächsten Morgen hörte ich, wie Frieders bester Freund kumpelmäßig zu ihm sagte: „Das war echt Scheiße von Dir. Ich war noch den ganzen Tag sauer auf Dich.“ Dann gingen sie einträchtig spielen. Die anderen Kinder begegneten Frieder normal. Nur beim Töpfern kam das Thema wieder auf. Aber da hielt sich Frieder klugerweise raus.

Der Vorfall geschah drei Tage vor der Weihnachtsfeier, es wurde etwas stressig, das Plätzchenbacken fiel aus, so dass es nur gekaufte Kekse zur Weihnachtsfeier gab.

Aber die Kinder konnten lernen, dass man weder ungeschorener Täter noch sprachloses Opfer sein muss, wenn eine Gruppe gut funktioniert und zusammenhält.

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2012
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

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