von Hanna Vock

(Vortrag bei der 4. IHVO-Fachtagung)

 

Denken hoch begabte Vierjährige anders als durchschnittlich begabte Vierjährige? Ja.

Fühlen sie anders? Ja.

Müssen wir im Kindergarten deshalb anders mit ihnen umgehen? Ja.

Um diese drei Thesen soll es im Folgenden gehen.

Den ersten Teil des Vortrags (zum Begriff Hochbegabung) können Sie hier nachlesen: Begriffsbestimmung Hochbegabung

Wenden wir uns zunächst der Frage zu:

Inwiefern denken hoch begabte Kindergartenkinder anders als durchschnittlich begabte Kindergartenkinder?

Und was bedeutet das für ihre Gefühle?

Hochbegabte vierjährige Kinder, zum Beispiel, denken häufig über

die Frage nach, wie andere Kinder auch:

Warum ist das so?

Sie denken dann oft aber auch noch viel weiter:

  • Warum ist das nicht anders?
  • Wie könnte das anders sein?
  • Wie kommt es überhaupt, dass es so geworden ist?
  • War es schon immer so?
  • Wird es immer so sein?
  • Wer ist daran schuld, dass es so ist?
  • Ist es gut so? Ist es vielleicht auch gleichzeitig schlecht??
  • Für wen ist es nützlich, für wen ist es schädlich?
  • Wovon hängt es ab, dass es so ist?
  • Was muss sein, damit es geändert werden kann?

Indem sich das Kind schon früh für solche Fragen interessiert, sie sich vielleicht auch sogar selber stellt, d. h. von selber auf die Fragen kommt – bestimmt aber mit Interesse auf solche Fragen reagiert, wenn sie von Anderen aufgeworfen werden –

indem es also an der Klärung solcher Fragen mit Ausdauer und Gründlichkeit interessiert ist,

zeigt es einige Qualitäten, die eine intellektuelle Hochbegabung ausmachen, nämlich:

  • unmittelbare, geradezu sinnliche Freude an geistiger Tätigkeit und am Erkennen von Zusammenhängen,
  • forschendes Verhalten und intellektuelle Neugier,
  • den Anspruch, Alles genau und gründlich wissen zu wollen.
  • einen hohen Anspruch an sich selbst, das Beobachtete, das neu Erfahrene in größere Zusammenhänge einzuordnen.
  • eine Vorliebe für logisches, komplexes, originelles und abstraktes Denken,
  • eine frühe Fähigkeit zum divergenten und kritischen Denken,
  • den Drang zu selbstständigem und kreativem Problemlösen,
  • Interesse an Themen, die weit über die Interessen Gleichaltriger hinausgehen.

Dies alles kann so stark ausgeprägt sein, dass das Kind darüber andere Sachen vergisst: das Spielen, das Essen, das Zuhören…

Dieses Verhalten ist für ein hoch begabtes Kind normal. Es ist die Frage, was man anrichtet, wenn man versucht, ihm die „Nachdenklichkeit“ abzutrainieren oder ihm immer wieder zu verstehen gibt, dass dieses Verhalten unerwünscht ist.

Auch gibt es Beispiele von Fünfjährigen, die beim Gehen ein Buch lesen und gegen einen Laternenpfahl laufen, sodass es dem Klischee vom zerstreuten (in Wirklichkeit mit anderen Dingen intensiv beschäftigten) Professor entspricht.

Diesen Typ hoch begabter Kinder gibt es wirklich, aber es ist eben nur einer von vielen, vielen verschiedenen Typen. Es gibt genauso gut das motorisch sehr begabte, nie stolpernde, im Alltag ausgezeichnet organisierte Kind, das neben seinen eigenen Gedanken auch noch Alles um sich herum mitkriegt. Auch dieses ist ein normales hoch begabtes Kind.

Wir müssen uns also vor Klischeevorstellungen über hoch begabte Kinder hüten. Abgesehen von den Besonderheiten

  • bei der Lernleichtigkeit in einem oder mehreren Bereichen,
  • bei der Stärke der intrinsischen Motivation,
  • bei der Kreativität,
  • beim Hunger nach neuer Information über die Welt und insbesondere nach neuer Information über die eigene Domäne und
  • beim (logischen, abstrakten, kreativen, kritischen, divergenten usw.) Denkvermögen

sind die hoch begabten Kinder höchst individuelle Persönlichkeiten mit den verschiedensten Stärken und Schwächen und Lebenserfahrungen.

Sehr intelligent, aber emotional zurückgeblieben?

Das ist ein Klischee, das in den Köpfen vieler Mitmenschen herumgeistert.

Warum sollte es unter den Hochbegabten nicht auch eher gefühlsarme Menschen geben, wie bei allen anderen, nicht so intelligenten oder begabten Menschen auch? Bestimmt gibt es sie.

Menschen, die viel mit Hochbegabten zu tun haben, berichten aber häufig vom Gegenteil: Sie berichten von hoher Sensibilität, Empathie und großer Gefühlsintensität. Dies entspricht auch meinen Beobachtungen. Die Intensität der Gefühle vieler Hochbegabter wurde zum Beispiel eindringlich dargestellt und begründet von Dabrowski, referiert in Webb u.a. (1985, 3. Auflage 2002), mit dem Konzept der hohen Sensibilität.
(Siehe: Hoch begabte Kinder und besondere emotionale Sensibilität)

Sehen wir uns zunächst das Denken hoch begabter Kindergartenkinder genauer an.

Aus Zeitgründen beschränke ich mich auf drei Bereiche und Merkmale des Denkens, die ich aber für das Verständnis hoch begabter Kindergartenkinder für besonders bedeutsam halte:

  • Erstens: Hoch begabte Kindergartenkinder denken früher und intensiver und anders über Erlebtes oder Beobachtetes nach. Dabei ziehen sie früh Schlussfolgerungen, aus denen sie Konzepte bilden. Sie sind intensiv dabei, die großen Zusammenhänge des Lebens zu entdecken.
  • Zweitens: Sie denken früher, oft schon mit zwei bis drei Jahren, in die Zukunft und entwickeln manchmal schon den Anspruch, sich auf Zukunft sinnvoll vorzubereiten. Wenn ihnen das nicht hinreichend gelingt, kann das zu Ängstlichkeit führen.
  • Drittens: Sie denken stärker originell und divergent. Sie sind intensiv dabei, das abstrakte, systematische Denken und die Divergenz zu entdecken. Divergent denken heißt, zunächst intuitiv zu begreifen, dass es ein Sonderfall ist, wenn es zu einer Frage nur eine einzige gute und richtige Antwort gibt (Beispiel: 2 + 2 =4). Meistens macht es Sinn, weiter zu denken und nach vielen guten Antworten zu suchen (vielleicht ist ja eine bessere, treffendere, fruchtbarere dabei). Die gefundenen Antworten und Lösungen weichen oft von „den üblichen“ und erwarteten Antworten ab, was das Leben für Hochbegabte im Umgang mit Nicht-Hochbegabten nicht einfacher macht.

Den Zusammenhängen zwischen Anders-Denken und Anders-Fühlen möchte ich nun mit Ihnen an Hand einer wahren Geschichte nachspüren.

Ein Konzept von Freundschaft wird entwickelt

Sven war zusammen mit seinem Freund Tom (beide Namen geändert) in derselben Kindergartengruppe. Von ganz klein auf waren sie und ihre Familien dick befreundet und unternahmen auch am Wochenende vieles gemeinsam. Die beiden Jungen kannten sich gut und haben auch im Kindergarten viel miteinander gespielt.

Sven erwies sich als hoch begabt, wurde später auch getestet, Tom war ein aufgeweckter, auch überdurchschnittlich intelligenter Junge, ohne hoch begabt zu sein.

Beide waren nun fünf Jahre alt geworden. Da kam Sven, der hoch begabte Junge, eines Tages im Kindergarten traurig auf seine Erzieherin zu und sagte: „Der Tom kann nicht mehr mein Freund sein.“ Das war unerhört, und die Eltern, die Erzieherinnen, andere Kinder der Gruppe versuchten herauszufinden, was passiert war, und versuchten, Tom und Sven wieder zusammen zu bringen. Vor allem der unglückliche, von seinem Freund so plötzlich zurückgewiesene Tom versuchte dies immer wieder.

Sven war ebenso tieftraurig und verstört, war aber offenbar nicht in der Lage, seinen Entschluss zu erklären, an dem er aber ganz unbeirrbar festhielt. Er ließ sich auf kein gemeinsames Spiel mehr mit Tom ein und wiederholte einige Tage lang immer nur seine Aussage: „Du kannst nicht mehr mein Freund sein.“ Die ganze Zeit litten beide Kinder sichtlich.

Dann kam Sven eines Tages auf seine Erzieherin zu und sprach den Satz, den er sich offenbar längere Zeit überlegt und genau festgelegt hatte: „Ein richtiger Freund ist doch einer, mit dem man über das sprechen kann, was einen am meisten bewegt.“

Er wollte dazu die Meinung der Erzieherin hören, ob sie das für richtig hielte.

Sie war wohl erst einen Moment sprachlos, angesichts der Reife des Konzepts von Freundschaft, das Sven sich da ausgedacht hatte, auch über seinen sehr hohen Anspruch an einen „richtigen“ Freund. Meiner Erfahrung nach erdenken sich Kinder solche Konzepte, wenn überhaupt, erst einige Jahre später.

Für Sven war eine Freundschaft also schon etwas ganz anderes als das, was wir von vielen Kindergartenkindern immer wieder hören: „Du bist jetzt nicht mehr mein Freund, wenn Du das (jetzt) nicht machst / sein lässt.“ Was meistens sehr bald wieder vergessen und vielleicht ins krasse Gegenteil umgedreht wird. „Du bist mein aller-, allerbester Freund – aber der Ole ist nicht mehr mein Freund.“

Was war also bei Sven passiert?

So allmählich – er dachte offenbar immer wieder selber darüber nach – tastete er sich an eine Erklärung für sich selbst und für die anderen heran. Jeden Tag kam er mit einer anderen Frage oder Aussage auf seine Erzieherin zu:

„In dem Krieg werden auch Kinder umgebracht. Erwachsene bringen Kinder um.“

„Die haben eine Brücke gesprengt. Jetzt können die Menschen nicht mehr über den Fluss, auch wenn einer plötzlich krank ist, der kann dann nicht schnell ins Krankenhaus.“

„Warum können die nicht aufhören mit dem Krieg?“ .

„Kann nicht wer kommen und die alle zwingen, aufzuhören und schnell wieder alles wieder aufzubauen?

„Tun denen denn die Kinder nicht Leid und die Babies?“

Also, Sven beschäftigte sich täglich mit dem Thema „Krieg, Tod und Zerstörung“, obwohl die Eltern sich bemühten, ihn von Nachrichten abzuschirmen. Sie wollten mit ihrem Sohn nicht über Krieg reden, weil sie glaubten, dass er dafür noch zu klein wäre. Sven konnte aber schon lesen, las irgendwo die Schlagzeilen der Zeitungen, und vor allem stellte er sich vieles selber vor und dachte darüber nach.

Diese „großen Erwachsenen-Fragen“ waren in seiner psychischen und geistigen Entwicklung früh aufgetaucht, und er wollte Antworten für sich finden. Das ließ sich nicht aufhalten oder zurückdrehen. Und er war weitgehend allein damit. Auch die Erzieherin musste sich mehr zurückhalten als sie wollte, weil die Eltern klar ausgedrückt hatten, dass sie das Thema nicht erörtert haben wollten.

Aber zurückweisen konnte sie ihn auch nicht, und so philosophierten sie über Ungerechtigkeit und die begrenzte Einsicht Erwachsener und über Ohnmacht und Hilflosigkeit und darüber, wie schwer es zu ertragen ist, dass es viel Elend in der Welt gibt. Schätzten die (geringe) Gefahr ab, dass es in der eigenen Stadt Krieg geben würde oder in der Stadt der Oma. Und sie machten daneben viel Positives, auch packten sie ein Paket und schrieben einen Brief für die Kinder im Krieg. Da machte auch Tom mit, denn er hatte auch schon davon gehört und fand es schlimm.

Schließlich hatte Sven die Erklärung gefunden und vertraute sie seiner Erzieherin an:

„Mit Tom wollte ich so reden wie mit dir, über den Krieg und so, aber er hat nur gesagt: >Ja, schlimm – aber lass uns jetzt Lego spielen.< Und am nächsten Tag hat er gesagt: >Hör doch auf damit, das nervt.< Und da konnte er nicht mehr mein Freund sein.“

Bei Sven kamen im zarten Alter von fünf mehrere „große“ Erkenntnisse zusammen, und zwar auf Grund seiner schon sehr weit entwickelten Orientierungs- und Denkfähigkeiten:

Ihn traf die volle Wucht der Erkenntnis, dass es das Böse in der Welt wirklich gibt (in Form von Krieg, Töten, Grausamkeit, Zerstörung).

Ihn traf die volle Wucht der Erkenntnis, dass auch die liebsten Erwachsenen sich dafür nur mäßig interessieren und auch keinen Rat wissen und keine Abhilfe schaffen. (Erwachsene sind nicht allmächtig, das heißt aber auch: sie können die Kinder – mich – auch vor dem schlimmsten Unheil nicht wirklich beschützen.)

Ihn traf die volle Wucht der Erkenntnis, dass sein bester Freund Tom kein wirklicher Freund für ihn ist, weil er der wichtigsten Anforderungen an einen Freund, die Sven für sich gefunden hat, überhaupt nicht gerecht wird. Und für ein weiter denkendes Kind tut sich damit der Abgrund des Alleinseins mit seinen Gedanken und Gefühlen auf. Wer soll mich verstehen, wenn nicht mal mein bester Freund? Wo finde ich denn einen Freund, mit dem ich mich wirklich verstehe?

Ein Fünfjähriger hat, auch wenn er schon überdurchschnittlich viel erfahren und beobachtet hat, doch noch eine geringe Lebenserfahrung, auf die er zurückgreifen kann. Also ist es kein Wunder, wenn sich eine Entwicklungskrise auftut, die bei anderen Kindern erst mit der Pubertät kommt.

Dieses beschriebene Denken und Fühlen ist, bezogen auf ein fünfjähriges Kind, ungewöhnlich und unerwartet. Es wird nicht vermutet, dass ein so junges Kind so denkt, deshalb begegnet ihm viel Unverständnis – und dieses Unverständnis beginnt das hoch begabte Kind bald schon von seiner Umwelt zu erwarten und entscheidet daher schon früh, was es wem erzählt. Unter Umständen beginnt es, seine Fähigkeiten und Interessen zu verbergen – ein insgesamt schmerzlicher, resignativer Prozess, auch wenn das Kind es nicht benennen kann.

Siehe auch: Verbergen von Fähigkeiten und Interessen

Sven hat sein Denken eingesetzt und zunächst mal negative Gefühle geerntet: Angst und Entsetzen, tiefe Enttäuschung, große Trauer (über die verlorene Freundschaft und die verlorene kindliche Unbekümmertheit), Verlassenheitsgefühle und Angst vor Einsamkeit…

Ich hoffe, dass klar geworden, dass hier weder mit Ablenkung noch mit Beschwichtigung etwas zu gewinnen ist. Das Kind braucht angemessene Entwicklungsbegleitung, die sein Denken positiv würdigt und daraus etwas Gutes entstehen lässt.
Das Kind braucht auch Strategien, die geeignet sind,

  • erstens einen (oder mehrere) „richtige“ Freunde und Freundinnen zu finden,
  • zweitens sein Konzept von Freundschaft so zu differenzieren, dass es wohl die „richtige“ Freundschaft gibt, aber auch den Wert vieler „Teil-Freundschaften“: ein Freund zum Fußballspielen, ein paar Kumpels zum Hüttenbauen, eine Brieffreundin im Kriegsgebiet…

Es wäre vermutlich gut für Svens Gefühle und seine soziale Zufriedenheit, wenn er beide Arten von Freundschaft gleichermaßen wertschätzen und genießen könnte.

Hier in diesem Beispiel hat das frühe, Konzepte bildende Nachdenken zu belastenden Gefühlen geführt. Es muss aber erwähnt werden, dass intensives Konzepte bildendes Nachdenken auch freudig und lustvoll geschehen kann. Es kann Gefühle der Begeisterung und Befriedigung, so genannten Flow, auslösen.

Dieses möchte ich im nächsten Beispiel darstellen.

Abstraktes Denken als eigener Wert

Ein hoch begabtes Kind, das Lesen lernen will, weil es begriffen hat, dass das Lesen ihm den selbstständigen Zugang zu allem Geschriebenen und damit zu gaaaanz vielen Informationen über die Welt bietet, will vielleicht nicht drollige Geschichten über Buchstaben hören, es will erfahren, wie Lesen funktioniert. Da vielen hoch begabten Kindergartenkindern beim Lesenlernen nicht geholfen wird, sind sie gezwungen, es sich selbst beizubringen, was Vielen auch gelingt.

Ein hoch begabtes Kind, das über die Vogelgrippe nachdenkt, will kein Hühnchen-Fingerspiel machen oder wie ein Küken durch den Turnraum hüpfen.

Kinder, die Schach spielen wollen, wollen nicht unbedingt erst ein wunderschönes Schachspiel basteln, sondern sofort zum Wesentlichen kommen: die Schachregeln kennen lernen und loslegen.

Im Jahre 2001 konnte ich die Erfahrung machen, wie es ist, wenn eine Gruppe von sieben hoch und weit überdurchschnittlich begabten Vorschulkindern sich konzentriert gemeinsam mit abstrakten Fragen befasst. Die Kinder waren 4;8 bis 5;6 Jahre alt.

In den für Kinder sehr kargen Räumen einer Volkshochschule fand eine Spiel- und Lerngruppe für getestet und vermutet hoch begabte Vorschulkinder statt, die ich leiten durfte. Die Kinder kannten sich bis auf zwei Ausnahmen untereinander nicht, sie kannten mich nicht, ich kannte sie nicht, und fast alle hatten schon einen Ganztags-Kindergarten-Tag hinter sich, als wir uns an einem Nachmittag um 15.30 Uhr zum ersten Mal trafen. Es gab kein Material, abgesehen von dem, was ich mitbrachte.

Zum ersten Termin brachte ich rohe und gekochte Hühnereier mit, die die Kinder untersuchten. Diese Hühnereier, ein paar Schälchen aus Glas, ein bisschen Wasser, Stifte, weiße Papierblätter sowie zwei alte Filme von Peter Lustig reichten, um uns 8 Wochen lang gemeinsam zum Nachdenken zu bringen.

Es ging im Kern darum, genau zu beobachten, die Beobachtungen zu beschreiben, daraus sinnvolle Schlussfolgerungen zu ziehen und die Schlussfolgerungen auf dem Papier zu dokumentieren. Also, es ging darum, Forschungsarbeit zu leisten. Für die Kinder war es echte, wenn auch von mir angeleitete Forschungsarbeit.

Sie erarbeiteten sich zum Beispiel die Erkenntnis, dass Hunde eine Geräuschquelle aus viermal so großer Entfernung wahrnehmen können wie Menschen, und sie erarbeiteten sich in einem über Wochen gehenden Beobachtungsprozess und mit viel Nachdenken die Erkenntnis, dass das Hühnerei mit zunehmendem Alter anfängt, sich im Wasser vom Boden der Schale zu erheben und im Wasser zu schweben. Nur die Erklärung des Phänomens fiel nicht so leicht. Die Kinder mussten all ihr Wissen kombinieren und ihre „kleinen grauen Zellen“ über längere Zeit auf Hochtouren bringen, um auf eine befriedigende Lösung zu kommen. Aber es gelang, und im entscheidenden Moment fehlte nur noch, dass sie <Heureka> gerufen hätten wie der griechische Forscher Archimedes, als er beim Baden das Auftriebsprinzip entdeckte und so eine Möglichkeit gefunden hatte, den Goldgehalt der Herrscherkrone zu bestimmen, ohne sie zu beschädigen.

Siehe auch den Bericht: Das Hühnerei

Die von ihrer Persönlichkeit und ihren Interessen sehr unterschiedlichen Kinder haben ihre Aufmerksamkeit über jeweils 1,5 Stunden auf ein Thema zentriert, weil sie so stark geistig herausgefordert wurden. Nur eins der Kinder interessierte sich wirklich für Hunde im Konkreten, und mehrere Kinder mochten keine Hühnereier. Aber die geistige Anstrengung an sich – in einer Gruppe ähnlich motivierter Kinder – war für sie genügend Anreiz, dass alle (!) Kinder ihre Eltern gefragt haben, warum das (der Kurs) nicht jeden Tag sein könnte.

Bemerkenswert war auch, dass die Kinder keine Pause machen wollten. Sie haben sich dafür entschieden, durchzuarbeiten. Hier ist die Funktionslust des Gehirns im Spiel.

Genauso wie das unbändige Toben oder das unablässige Klettern (auf alles) mancher Kinder sind hier das unbändige Wissen aufnehmen und das unbändige Denkvergnügen zu beobachten. Wahrscheinlich läuft im Prinzip bei diesen Kindern hirnphysiologisch dasselbe ab wie beim Glück des Forschers, das Csikszentmihalyi beschreibt.

Hoch begabte Kinder fühlen anders, weil sie anders denken – und sie denken anders, weil sie anders fühlen.

Was können wir tun?

Zur dritten These:

Müssen wir im Kindergarten deshalb anders mit ihnen umgehen? Ja.

Ich denke, deutlich geworden ist, dass wir

  • auf hoch begabte Kinder anders zugehen sollten,
  • angemessen mit ihnen sprechen sollten,
  • bei unseren Angeboten und Projekten ihren Wissensdurst und ihre Denklust berücksichtigen sollten,
  • darauf achten sollten, dass sie auch Spielgefährten finden, mit denen sie sich adäquat austauschen können.

Es geht um Beides:

Durch mehr Verständnis und passgenauere Förderung

  • die Kinder vor unnötigen negativen Gedanken und Gefühlen („Ich bin komisch“, „Mich versteht keiner“) zu bewahren und
  • die Kinder aktiv zu unterstützen, immer wieder das Glück des Forschers zu erleben.

Zum Abschluss möchte ich zusammenfassen:

Hochbegabtenförderung ist (unabhängig vom Alter des Kindes):

1. Sich dafür aktiv interessieren und herausfinden:

  • Mit welchen Fragen, Problemen, Themen, Widersprüchen beschäftigt sich das Kind (geistig und zugleich emotional)?
  • Was will es lernen?

2. Unterstützen:

  • Das Kind in seinen selbst bestimmten Lernprozessen angemessen und aktiv unterstützen, es begleiten, Impulse geben und herausfordern.

 

Literatur, auf die Bezug genommen wurde:

Csikszentmihalyi ((sprich: Tschiksentmihail)), Mihali (1975). Das Flow-Erlebnis.
9. deutsche Ausgabe: Stuttgart 2005: Klett-Cotta

Csikszentmihalyi, Mihali (1996). Kreativität.
6. deutsche Auflage: Stuttgart 2003: Klett-Cotta

Webb, James T. u.a. (2002). Hochbegabte Kinder, ihre Eltern, ihre Lehrer. Überarb. Ausg. Bern 2002.

Wieczerkowski, W.; Wagner, H. (1981). Das hochbegabte Kind. Düsseldorf: Schwann.

Copyright © Hanna Vock 2006, siehe Impressum.
Datum der Veröffentlichung 5. Mai 07

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