von Brigitte Gudat
Mein Beobachtungskind Tamara ist inzwischen 5;10 Jahre alt.
Mehr zu Tamara siehe:
Vierjährige Geschichten-Erfinder
Tamara (5;2) erfindet Quiz-Fragen
Wie zum Abschluss der letzten Ausarbeitung (Tamara (5;5) und die Buchstaben)
angekündigt, wollten wir für Tamara (5;10 Jahre) ein Lesebuch aus dem 1. Schuljahr einführen, ohne dass Tamara sich aus der Gruppe der Vorschulkinder ausgeschlossen fühlt.
Es sollte sich zeigen, dass das Projekt eine andere, im Sinne der Lesefrühförderung aber sehr positive Richtung genommen hat.
Zunächst haben wir im Team überlegt, welche Kinder die gleichen Interessen zeigen wie Tamara und immer wieder Buchstaben und schon einzelne Wörter schreiben. Weitere Kriterien sollten andere gemeinsame Interessen und Fertigkeiten sein wie zum Beispiel Malfreude, Ausdauer, Konzentration und natürlich auch gegenseitige Sympathie.
So haben wir eine Gruppe aus sechs Kindern aus beiden Kindergartengruppen gebildet, darunter auch drei Kinder, mit denen Tamara sehr gut befreundet ist. Alle Kinder hatten im Vorjahr am Sprachtrainingsprogramm teilgenommen und kannten die Buchstaben schon, die das Programm beinhaltet.
Geplant war, zwei bis drei Mal in der Woche speziell mit diesen Kindern zu arbeiten. Dies konnten wir auch meistens verwirklichen.
Eine Fibel (Schul-Lesebuch) wird eingesetzt
Das Lesebuch heißt „Mimi die Lesemaus“ aus dem Oldenbourg Verlag. Dazu gehören ein Arbeitsheft mit einem Druckschriftlehrgang und eine Anlaut-Tabelle.
Jedes Kind sollte zum Beginn des Projekts die Wörter aufschreiben, die es bereits beherrscht. Dies waren zunächst hauptsächlich der eigene Name, MAMA, PAPA, OMA, OPA oder auch die Namen der Geschwister. Danach haben die Kinder untereinander ihre Blätter ausgetauscht und versucht, die Wörter der anderen zu lesen.
Auffallend war, dass alle Kinder ihre Wörter in Großbuchstaben geschrieben hatten und nur der Buchstabe i als Kleinbuchstabe mit i-Punkt geschrieben wurde. Ein Grund dafür könnte sein, dass viele Wörter, die den Kindern in ihrer Umwelt begegnen, in Großbuchstaben geschrieben sind, wie zum Beispiel Reklameschilder. Deshalb haben wir auch schon vorher die Namen der Kinder zur Kennzeichnung ihrer Bilder in Großbuchstaben geschrieben, weil so auch die kleineren ihre Namen am besten selbst erkennen.
Als nächsten Schritt haben wir uns das Lesebuch gemeinsam angeschaut. Einige Kinder haben sofort versucht, einzelne Wörter zu lesen. Großes Interesse bei den Kindern fand das Arbeitsheft. Die Kinder wollten unbedingt schreiben, aber auch noch malen.
Zu Beginn haben wir gemeinsam die Aufgaben der einzelnen Seite durchgesprochen. Dabei fanden die Kinder es sehr schön, dass sie schon einzelne Wörter erkennen konnten. Ein entsprechendes kleines Bildchen war neben dem Wort abgebildet. Meist haben wir ein bis zwei Seiten bearbeitet. Dabei spielte die Konzentration der Kinder natürlich eine wichtige Rolle. Manche hörten nach einer Seite auf und gingen zurück in ihre Gruppe oder spielten etwas anderes.
Tamara nahm die Sache sehr ernst. Am Anfang war sie aufgeregt, weil sie meinte, sie könnte etwas falsch machen. Hier merkte man wieder, dass sie sehr hohe Ansprüche an sich selbst stellt. Nachdem ich sie beruhigt hatte, arbeitete sie konzentriert und zügig. Sie ließ sich auch nicht durch den vorzeitigen Ausstieg anderer Kinder beeinflussen.
Die Treffen mit der Gruppe wurden in dieser Form weitergeführt, bis Tamara und Nele (6 Jahre) sich plötzlich wieder die Buchstabenkarten holten, mit denen wir vorher gearbeitet hatten. Sie legten die Buchstaben aneinander und versuchten sie zu lesen. Hatten sie ein Wort gefunden, schrieben sie es auf. Tamara malte dann noch das entsprechende Bild dazu.
Buchstabenblätter
Tamara fragte, warum wir nicht wie im letzten Jahr die Buchstaben an der Wand aufgehängt hatten. Seinerzeit hatte ich alle Buchstaben des Sprachtrainingsprogramms ausgedruckt und an die Wand geklebt. Die Kinder hatten dazu Bilder von Dingen gemalt, die mit dem gleichen Anlaut anfingen.
Also wurde ich gebeten, wieder die Buchstaben auszudrucken, aber ich sollte Linien dazu machen, damit sie auch noch Wörter aufschreiben können. Damit hatte ich meinen Arbeitsauftrag erhalten. Gleichzeitig wurde mir gesagt, welche Buchstaben in welcher Farbe zuerst ausgedruckt werden mussten.
Nachdem wir einige Buchstaben ausgedruckt hatten, fing die Arbeit erst richtig an. Hinzu gesellten sich noch zwei weitere Vorschulkinder Svenja (5;7) und Finn (5;5), die plötzlich auch mitmachen wollten.
Es wurde überlegt, man müsste zuerst ein Bild malen von einem Wort, das mit dem entsprechenden Buchstaben beginnt. Die Erklärung dafür war, dass damit auch die kleinen Kinder in der Gruppe die Buchstaben lernen konnten. Tamara meinte, ihr Name beginne mit T, also würde sie einen Tiger malen.
Damit ging es los. Es wurde gemalt, und es wurde überlegt, welche Wörter es zu den einzelnen Buchstaben gibt. Nun tauchte die Schwierigkeit auf, wie die einzelnen Wörter geschrieben werden. Da ich nicht vorsagen, aber auch nicht vorschreiben wollte, habe ich die Anlauttabelle zu Hilfe genommen. Zuerst haben wir uns die Tabelle zusammen angeschaut und sind die einzelnen Buchstaben durchgegangen.
Hatten die Kinder ein Wort gefunden, das sie schreiben wollten, habe ich sie gefragt, welche Buchstaben sie hören, wenn man das Wort langsam spricht. So konnten die Kinder ihre Wörter selbst schreiben.
Erstaunlich für mich war, wie gut die Kinder mit der Tabelle umgehen konnten. Man sah immer wieder, wie sie das Bild auf der Tabelle benannten und sich dann den Anlaut immer wieder vorsprachen.
Mit dieser Aktion ist ein Prozess in Gang gekommen,
der sich mittlerweile verselbständigt hat.
Inzwischen haben wir über die Hälfte des Alphabets im Gruppenraum aufgehängt. Immer wieder werden Wörter dazu geschrieben. Die Kinder können die Blätter selbst nehmen und etwas dazu schreiben. Dabei achten sie jedoch peinlich genau darauf, ob das Wort auch zu dem Buchstaben passt.
Mittlerweile sind alle sieben Vorschulkinder aus meiner Gruppe an dem Projekt beteiligt. Die „Kleinen“, die ihren Namen schon schreiben können, dürfen ihn mit auf das Buchstabenblatt schreiben. Dadurch wurden die „Kleinen“ natürlich vom Ehrgeiz gepackt. Mittlerweile können fast alle ihren Namen schreiben. Und wenn sie es nicht alleine können, helfen die „Großen“.
Bei einem Namen hatten Tamara und Nele allerdings ihre Schwierigkeiten. Das Mädchen heißt Phoebe (engl.), „Fibi“ gesprochen. Tamara und Nele haben den Namen nach der Lautschrift geschrieben, also Fibi. Phoebe meinte aber immer wieder, es stimmt nicht.
Mit dieser Entwicklung hatte ich nicht gerechnet.
Die Vielzahl von Wörtern, die mittlerweile an der Wand aufgeschrieben sind, motivieren immer wieder Kinder, sie zu lesen. Die Größeren lesen sie den kleineren Kindern vor, und die Kleineren erkennen manche Wörter wieder und „lesen“ sie nach.
Ein Hosentaschenbuch
Mit Tamara und Nele habe ich noch etwas Anderes ausprobiert. Wir haben ein „Hosentaschenbuch“ gemacht.
Die Vorlagen dazu gibt es beim Verlag an der Ruhr mit dem Titel „36 Hosentaschenbücher“. (Siehe: Literaturverzeichnis.)
Hierbei handelt es sich um Geschichten mit kleinen Aufgaben, an deren Lösung man auch erkennt, ob die Kinder den Text verstanden haben. Die Geschichten bestehen aus kurzen Sätzen, die die Kinder versuchen sollen zu lesen. Teilweise müssen Wörter ergänzt oder hinzugefügt werden. Die Bilder können die Kinder anmalen. Später wird das Buch dann zusammengeheftet.
Wir haben mit einem einfachen Büchlein, das heißt: mit einfachen Wörtern, angefangen. Mit Hilfe der Anlauttabelle haben Tamara und Nele die Sätze des Buches zusammen entschlüsselt und gelesen.
Bewertung und Fortführung des Projekts
Ich finde es toll, wie die Kinder, hauptsächlich Tamara und Nele, einen Prozess des selbstständigen Lesenlernens in Gang gesetzt haben und dabei auch noch andere Kinder motivieren. Besser als die Beiden hätte ich es nicht machen können.
Ich glaube, dass wir vielleicht bis zum Schulbeginn sogar selbst kleine Geschichten oder Hosentaschenbücher schreiben können.
Mittlerweile arbeiten alle Vorschulkinder aus meiner Gruppe auch an den Buchstaben aus dem Arbeitsheft mit. Natürlich jeder nach seinem Tempo. Es ist zwar manchmal etwas schwierig, dies zu koordinieren, aber es funktioniert meistens.
Die Richtung, die ich mit der ursprünglichen Gruppe eingeschlagen hatte, konnte ich nun so nicht mehr beibehalten.
Als schwierig hat sich der Versuch herausgestellt, die Förderung gruppenübergreifend anzubieten. Gründe hierfür waren, dass wir die Kinder aus ihrer gewohnten Gruppensituation herausgenommen haben. Sie waren es einfach nicht gewohnt. Manchmal haben sie sich beeilt, um fertig zu werden, um wieder in ihre Gruppe zu kommen.
In der Vergangenheit haben wir kaum gruppenübergreifend gearbeitet, weil die zweite Gruppe in der 1. Etage untergebracht und das Treppenhaus sehr unübersichtlich ist. Außerdem ließ die personelle Ausstattung dies in der Regel nicht zu.
Außerdem hat das Projekt über die teilnehmenden Kinder hinaus in den beiden Gruppen unterschiedliche Wirkung gezeigt. Während in meiner Gruppe der Wunsch zu lesen alle Kinder motiviert und vor allem die Vorschulkinder auch intensiv einbezogen hat, war dies in der zweiten Gruppe nicht der Fall.
Wir sind deshalb dazu übergegangen, in der zweiten Gruppe ebenfalls die Vorschulkinder zu integrieren und dort den Prozess, der sich in meiner Gruppe selbstständig entwickelt hat, in gleicher Weise nachzuvollziehen.
Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
Copyright © Brigitte Gudat, siehe Impressum.