von Brigitte Gudat
Zu Beginn meiner Praxisaufgabe hat meine Kollegin mit einer Kleingruppe von Kindern, darunter Tamara, das Märchen von Hänsel und Gretel erzählt.
Mehr zu Tamara lesen Sie hier:
Tamara, 4;4 Jahre alt
Vierjährige Geschichten-Erfinder
Tamara (5;5) und die Buchstaben
Wir wollten herausfinden, wie die Kinder auf Quizfragen zu diesem Märchen reagieren. Die Kinder waren fasziniert, weil wir auch schon sehr lange keine Märchen mehr vorgelesen hatten. In den nächsten Tagen war das Märchen immer wieder Gesprächsthema bei den Kindern.
…kurz gefasst…
Im ersten Schritt verwendet die Autorin vorgefundene Quizfragen zu „Hänsel und Gretel“ und notiert die Antworten ihres Beobachtungskindes Tamara (5;2).
Im zweiten Schritt erarbeitet sie zusammen mit dem Mädchen eigene Quizfragen zum Märchen „Schneewittchen“. Diese Aufgabe ist für Tamara weitaus schwieriger, sie ist eine echte Herausforderung für das begabte Kind.
Erster Schritt
Zwei Tage später haben wir Tamara und anderen Kindern die Quiz-Fragen zum Märchen „Hänsel und Gretel“ gestellt.
Hier sind nur Tamaras Antworten wiedergegeben.
Wo lassen die Eltern Hänsel und Gretel allein?
- – auf dem Spielplatz?
- – im Wald?
- – bei der Oma?
Tamara: „Im Wald.“
Warum lassen die Eltern Hänsel und Gretel im Wald allein?
Tamara: „Damit die Eltern mehr Brot für sich selber haben und die Tiere sie fressen.“
Dürfen die Eltern das denn?
Tamara: —
Hänsel schleicht sich nachts aus dem Haus.
Was sammelt er draußen auf und steckt es in seine Hosentasche?
- – Tannenzapfen?
- – Stöckchen?
- – Kieselsteine?
Tamara: „Kieselsteine.“
Ist es draußen hell oder dunkel, als Hänsel Kieselsteine sammelt?
Tamara: „Dunkel.“
Warum sammelt er die Kieselsteine? Wozu braucht er sie?
Tamara: „Damit sie den Weg zurück finden; der legt die Steine auf den Boden.“
Was hat Hänsel mit den Kieselsteinen vor?
Tamara: —
Was versteckt die böse Stiefmutter, als Hänsel und Gretel wieder nach Hause zurück gefunden haben?
- – den Schlüssel?
- – den Kuchen?
- – Ostereier?
Tamara: „Den Schlüssel.“
Warum versteckt die Stiefmutter den Schlüssel?
Tamara: „Damit die Kinder nicht mehr reinkommen.“
(Das ist nicht ganz richtig, sie sollen nicht raus kommen.)
Wieso klettert Hänsel nicht einfach aus dem Fenster?
Tamara: „Weil er keine Lust hat, vielleicht ist das ja auch zu laut, wenn er da rausklettert. Und wenn er durch den Kamin klettert, ist er ganz schwarz, wie ein Schornsteinfeger.
Was fehlt dem Vater von Hänsel und Gretel?
- – Geld?
- – der rechte Schuh?
- – Mut?
Tamara: „Das Geld, das Brot und der Schlüssel.“
(Hier hat Tamara sich teilweise von der Frage gelöst; und es zeigt sich hier auch, dass ihr die Sache mit dem versteckten Schlüssel nicht ganz klar geworden ist.)
Was könnte der Vater machen, wenn er Geld hätte?
Tamara: „Der Vater will dann Brot kaufen und die Kinder müssten nicht in den Wald.“
Wer pickt die Brotkrumen auf, die Hänsel und Gretel
auf den Weg gestreut haben?
- – die schwarze Katze?
- – ein Drache?
- – die Vögel?
Tamara: „Die Vögel haben das Brot aufgepickt, und dann haben die Kinder das Haus von der Hexe gefunden. Die Hexe hat das Haus nur gebaut, damit sie Kinder anlocken kann.“
Was für ein Haus finden Hänsel und Gretel im Wald?
(Diese Frage hatte Tamara schon vorweg beantwortet.)
Was antworten Hänsel und Gretel, als die Hexe „Knusper, knusper knäuschen…“ ruft?
- – „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“?
- – „Die Eule, die Eule, die machte viel Geheule“?
- – „Der Hund, der Hund, der stopft sich voll den Mund“?
Tamara: —
Was passiert danach?
Tamara: „Nur Hänsel hat leckeres Essen bekommen, dann wird der dick und fett und die Hexe kann ihn braten.“
Wie schmecken Lebkuchen?
- – bitter?
- – sauer?
- – süß?
Tamara: „Lecker.“
Kennst du etwas, das sauer schmeckt?
Tamara: „Sauer sind diese kleinen Sauerstangen, die sind lecker, Äpfel sind auch manchmal sauer.“
Kennst du etwas, das bitter schmeckt?
Tamara: „Schwarze Schokolade.“
Einmal konnten Hänsel und Gretel wieder nach Hause finden,
weil die Kieselsteine ihnen den Weg zeigten.
Warum fanden sie beim zweiten Mal nicht nach Hause?
- – weil sie die Brotkrumen nicht finden konnten?
- – weil sie ihre Brille vergessen hatten?
- – weil die böse Stiefmutter die Tür abgeschlossen hatte und Hänsel deshalb keine Kieselsteine sammeln konnte?
Tamara: „Einmal haben sie nach Hause gefunden, weil die Vögel die Kieselsteine nicht aufpicken konnten.“
Hast du eine Idee, wie man wieder nach Hause finden kann, wenn
man sich verlaufen hat?
Tamara: —
Und dann sagt sie noch:
„Du hast vergessen zu fragen, wie das Märchen zu Ende gegangen ist. Die Hexe hat den Kopf in den Ofen gesteckt. Dann hat Gretel sie geschubst, dann hat die geschrieen, und Hänsel und Gretel sind weggelaufen. Vorher haben sie aber noch Edelsteine aus dem Hexenhaus geholt. Damit konnten sie viel Brot und anderes Essen kaufen.“
Anmerkung der Kursleitung:
Zum Wert von Quizspielen für die kognitive Förderung aller Kinder und speziell für die Hochbegabtenförderung lesen Sie den Beitrag Quizspiele. Hier finden Sie auch eine Spielregel für das Spielen mit einer größeren Kindergruppe.
Tamara haben die Quizfragen sehr viel Spaß gemacht. Sie war sehr konzentriert. Meistens war sie mit ihrer Antwort sehr schnell und hat keine Dinge wiederholt, die andere Kinder schon gesagt hatten. Sie hat sich meistens auf das Wesentliche konzentriert.
Zweiter Schritt
Wir fragten die Kinder, ob sie ein weiteres Märchen hören wollten. Sie wünschten sich „Schneewittchen“.
Am nächsten Tag hat meine Kollegin den Kindern das Märchen von Schneewittchen vorgelesen.
Zwei Tage später habe ich mit Tamara Fragen sowie zutreffende und unzutreffende Varianten der Antworten formuliert. Ich habe ihr erklärt, dass wir den anderen Kindern aus der Gruppe Fragen stellen und die Kinder dann erraten müssen, welche Antwort die richtige ist.
Folgende Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten sind erarbeitet worden:
Was hat sich die Königin gewünscht?
1- Ein Kind so rot wie Blut, so weiß wie Schnee und so schwarzhaarig wie Ebenholz.
2- Ein Kind so grün wie Gummibärchen.
3- Ein Kind so rot wie Kirschen.
Was hat die böse Königin den Spiegel immer gefragt?
1- Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das meiste Brot im Land?
2- Spieglein, Spieglein an der Wand, wer hat das meiste Geld im Land?
3- Spieglein, Spieglein an der Wand wer ist die Schönste im ganzen Land?
Wie oft ist Schneewittchen schöner als die Königin?
1- 5 mal
2- 1000 mal
3- 13 mal
Warum wurde die Königin gelb und grün vor Neid?
1- Weil sie einen Mann gesehen hat, der rot im Gesicht war und gelbe Haare hatte.
2- Weil eine Katze um ihre Beine geschlichen ist.
3- Weil Schneewittchen tausendmal schöner ist als sie.
Warum ließ der Jäger Schneewittchen laufen?
1- Weil sie so schön war.
2- Weil sie sich gezankt hatten.
3- Weil er Mitleid hatte.
Wo ist Schneewittchen hingelaufen?
1- Zum Zwergenhäuschen.
2- Zur Hundehütte.
3- Zu McDonald’s.
Wie viele Zwerge wohnten dort?
1- 7
2- 101
3- 70
Was haben die Zwerge gesagt, als sie nach Hause gekommen sind?
1- Wer hat aus meinem Gläschen getrunken?
2- Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?
3- Wer hat den Fußboden schmutzig gemacht?
4- Wer hat auf meinem Bett gelegen?
Was hat die böse Königin verkauft?
1- Einen Schnürriemen.
2- Gläser.
3- Einen vergifteten Kamm.
4- Lutscher.
5- Einen Staubsauger.
6- Lappen.
Die böse Königin hat Schneewittchen etwas geschenkt. Was war das?
1- Schokolade.
2- Ein Buch.
3- Kerzenständer.
4- Einen vergifteten Apfel.
Wieso ist Schneewittchen wieder aufgewacht?
1- Weil der Apfel aus dem Mund gesprungen ist.
2- Weil sie ausgeschlafen war.
3- Weil der Prinz sie wach geküsst hat.
Fazit
Anfangs war es sehr schwierig für Tamara, zu einer Fragestellung zu kommen. Ich habe dann gesagt, ich könne mich nicht mehr richtig erinnern, was in dem Märchen von Schneewittchen passiert ist, weil ich nicht dabei war, als es vorgelesen wurde.
Tamara konnte einzelne Passagen des Märchens fast wortgetreu wiederholen.
Danach habe ich sie gebeten, mir Fragen zu stellen. Dies fiel ihr sehr schwer.
Als ich dann anfing, Teile des Märchens falsch zu erzählen, verstand sie, was ich wollte.
Bei einigen Fragen, bei denen wir nach falschen Antworten gesucht haben, erzählte sie von eigenen Erfahrungen, zum Beispiel:
- Sie erschrickt immer, wenn ihr plötzlich die Nachbarskatze um die Beine schleicht.
- Der Mann mit dem roten Gesicht entstammt einer Kindersendung, die sie gesehen hatte.
- Staubsauger und Lappen wären nach ihrer Erfahrung Dinge, die Schneewittchen hätte brauchen können, um im Haus der Zwerge alles sauber zu machen.
Erstaunlich war, dass Tamara das Märchen nach zwei Tagen noch so detailliert wiedergeben konnte. Von Zuhause her kannte sie das Märchen nicht. Sie hat zu Hause erzählt, dass wir das Märchen in der Kita vorgelesen haben. Auf konkrete Fragen der Eltern antwortete sie, sie wisse das nicht mehr und habe es vergessen. Damit war das Thema zu Hause erledigt.
Eigentlich hatte ich mir die Aufgabe einfacher vorgestellt. Vielleicht waren auch meine Erwartungen zu hoch. Für Kinder ist es offenbar einfacher, frei heraus zu erzählen statt Fragen zu einem bestimmten Thema zu formulieren.
Anmerkung der Kursleitung:
Wir lieben Erzieherinnen wollen gerne, dass alles leicht für die Kinder ist. Aber Kinder – und insbesondere hoch begabte – strengen sich oft gerne an, um Neues zu lernen, sofern das Umfeld und die Kommunikation stimmen. Das zeigt auch Dein letzter Satz.
Bei Spielen, bei denen es zum Beispiel darum geht, Begriffe zu erraten und zu umschreiben, hat Tamara überhaupt kein Problem. Vielleicht war die Informationsfülle des Märchens zunächst zu komplex. Sie hat sich gedanklich aber offensichtlich intensiv damit beschäftigt, sonst hätte sie es in dieser Form nicht wiedergeben können. Wir haben für die Ausarbeitung der Fragen und Antwortmöglichkeiten eine dreiviertel Stunde benötigt. Die ganze Zeit über hat sie konzentriert mitgemacht.
Anmerkung der Kursleitung:
Es ist eine recht abstrakte Anforderung für ein gerade mal fünfjähriges Kind, Fragen (für andere Kinder) zu formulieren, obwohl man selbst gerade gar keine Fragen dazu hat – und sich dann auch noch absichtlich falsche Antworten auszudenken. Das ist wie zweimal um die Ecke gedacht.
Sie konnte also mit Deiner Hilfe zwei für sie ganz neue Denkstrategien kennenlernen und hat sie bewältigt.
Weitere Beobachtungen zu Tamara
Als sie einmal sagte, sie könne schon einige Wörter lesen und ich ihr anbot, mir etwas vorzulesen, meinte sie: „Ich kann noch nicht alle Buchstaben“. Darauf schlug ich vor, ihr einige Buchstaben zu zeigen. Das wollte sie nicht. Damit war das Thema für sie erst einmal erledigt.
Anmerkung der Kursleitung:
Möglicherweise wäre es hier geschickter gewesen, ganz genau auf ihre Botschaft einzugehen und sie zu fragen, welche Wörter sie denn schon lesen kann.
Ein paar Tage später habe ich sie gefragt, ob sie nicht Lust habe, mit noch zwei anderen Kindern im gleichen Alter beim Sprachtraining der Vorschulkinder mitzumachen. Dies war dann kein Problem. Seit wir versuchen, die Kleingruppenarbeit mit den Kindern nicht mehr nur nach Alter, sondern nach ihren Interessen und Fähigkeiten zu bilden, ist es für die Kinder normal, dass so genannte „Vorschulkinder“ mit jüngeren Kindern spezielle Dinge zusammen machen.
Mittlerweile haben wir mit der Vermittlung von Buchstaben angefangen und die Drei sind eifrig bei der Sache. Beim Sprachtraining werden die Buchstaben mit den Kindern erarbeitet, es wird dazu gemalt, es werden Geschichten erzählt, Spiele dazu gespielt, und die Buchstaben werden auch schon geschrieben. Seitdem finden sie sich auf sämtlichen gemalten Bildern der Kinder wieder. Tamara macht fast alles mit. Bei einigen Arbeitsblättern ist sie langsamer als die anderen, weil es ihr wichtig ist, sehr ordentlich und akkurat zu arbeiten. Dies stört sie jedoch nicht. Sie bleibt oft noch länger sitzen, um etwas fertig zu machen, auch wenn die anderen schon weg gegangen sind.
Manchmal unterhält sie sich noch mit mir oder ist sehr vertieft in ihre Arbeit.
Abschließend ist zu sagen, dass Tamara im Moment an vielen Dingen interessiert ist und wir versuchen, ihr möglichst gerecht zu werden.
Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
Copyright © Brigitte Gudat, siehe Impressum.