von Verena Demirel

 

Eine Wahl zu treffen, welches Kind mein „Beobachtungskind“ (im IHVO-Zertifikatskurs) werden soll, fiel mir nicht schwer. Murat kam in unsere Kindertageseinrichtung, als er noch keine 3 Jahre alt war. Ich trat ebenfalls meinen ersten Arbeitstag in dieser Kita an.
Murat fiel es zwar anfangs sehr schwer sich an Regeln zu halten, er lebte sich aber schnell in die Gruppe ein und fühlte sich nach kurzen Trennungsschwierigkeiten sehr wohl.

Ich hatte nach der Ausbildung im Hortbereich gearbeitet, musste mich also erst mal wieder in die Arbeit mit Vorschulkindern einfinden. Dennoch fielen mir Murats überdurchschnittlich gute Sprachentwicklung (großer Wortschatz, fast fehlerfreie Grammatik, guter Satzbau) und seine außergewöhnlich ausgeprägte Merkfähigkeit sehr schnell auf.

Wichtig ist hier zu erwähnen, dass Murats Muttersprache Türkisch ist. Seine Mutter spricht perfekt deutsch, sein Vater eher mittelmäßig gut. Fast beiläufig in einem Tür- und Angelgespräch erzählte mir die Mutter, dass Murat bis kurz vor Kindergarteneintritt nur türkisch sprach, Türkisch aber jetzt so gut beherrsche, dass sie es wichtig fand, dass er noch vor dem Kindergarten Deutsch lerne. Ich war enorm erstaunt darüber, dass er diese, meiner Meinung nach überdurchschnittlich guten Fähigkeiten, erst 3 Monate vorher erlernt hatte. Das ist erstaunlich.

Schnell wurde deutlich, dass Murat das Alphabet und die Zahlen im Raum von 1 bis 20 erkennen, benennen und teilweise auch schreiben konnte. Offen gezeigt hat er dies nicht, es wurde eher im Spiel und im Alltag deutlich. Wie andere hoch begabte Kinder lernte er wohl früh, sich mit seinen besonderen Fähigkeiten zurückzuhalten.

Gerne möchte ich hier einige Beobachtungen aufführen, die meine Aussagen unterstützen sollen:
Ich erinnere mich noch gut an die Situation – Murat war ungefähr 3;3 Jahre alt – als ich die Hausschuhe der Kinder in das Regal sortierte, dessen Fächer mit Zahlen von 1 bis 20 gekennzeichnet waren. Murat beobachtete mein Tun und erklärte mir welche Zahlen sich darauf befanden. Er begann mit schwierigen Zahlen wie 18, 11, etc. und benannte sie nicht nach der Reihe. Zu Weihnachten im gleichen Jahr bekamen wir Puzzlematten aus Schaumstoff geschenkt, unter anderem auch mit Buchstaben und Zahlen. Kurzzeitig zeigte er auch hierfür Interesse und benannte mir im Spiel die unterschiedlichen Buchstaben des Alphabets.

Einmal, er war etwa seit 3 Wochen in unserer Einrichtung, beobachtete ich ihn dabei, wie er alle 25 Zahnbecher im Waschraum einzeln betrachtete und das sich darauf befindliche Zeichen dem jeweiligen Kind zuordnete: „Das ist Maries, das ist Jennifers…“
Ein andermal sah ich, wie Murat an der Garderobe stand und die Namen, die sich neben den Zeichen der Kinder befinden, buchstabierte und die Namen „vorlas“. Hierbei bin ich mir aber nicht sicher, ob er wirklich las oder die Namen deshalb benannte, da er ja die jeweiligen Zeichen kannte. Aber selbst dann ist es eine bemerkenswerte Leistung, wenn er so viele Zeichen so vielen Namen sicher zuordnen konnte.

Murat beobachtet viel. Als er 3;4 Jahre alt war, notierte ich eine Situation, die mich wieder mal erstaunte: Während des Mittagessens steht unsere damalige Praktikantin im Türrahmen und rollt einen Verband auf. Nach einer Weile fragt Murat sie: „Pauline, was hast du, du siehst so traurig aus?“ Pauline: „Ich bin nicht traurig, ich konzentriere mich auf den Verband.“ Murat: „Ach so, du sahst nur so traurig dabei aus.“

Er konnte schon sehr früh seine Gefühle benennen und die der Anderen schildern. Dabei formulierte er immer sehr treffend (ich bin traurig, wütend, fröhlich, beleidigt, der Robin ist sauer…).

Zu Murats Mutter entwickelte sich mit der Zeit ein gutes Verhältnis mit vielen Einzelgesprächen. In einem der ersten erwähnte sie, dass ihr Sohn schon einige Zeit vor Kindergarteneintritt Interesse an Buchstaben und Zahlen gezeigt hatte. So las er ihr zum Beispiel auf Autofahrten die Kennzeichen anderer Autos vor und lernte das Alphabet sehr schnell.

Murat lispelt leicht und stottert phasenweise zu Beginn eines Satzes („I-i-i-i-i-ich möchte nach draußen gehen“). Die Mutter fragte mich, ob ich eine logopädische Behandlung für sinnvoll halte. Meiner Meinung nach war dies nicht notwendig, da ich den Eindruck hatte, dass er nur Mühe hatte, die vielen Worte in seinem Kopf zu sortieren, bevor er sie aussprach.
Dass er fast nur in Situationen stotterte, in denen er aufgeregt war, bestätigte meine Vermutung noch. Die Logopädin, bei der er kurz darauf eine Therapie begann, sagte, dass dies ein Grund sein könnte. Mittlerweile ist die Behandlung abgeschlossen, die Auffälligkeiten haben sich aber kaum verbessert.

In Gesprächen äußerte die Mutter, dass es ihr schwer falle, einen guten Mittelweg zu finden, Murat nicht zu unterfordern und ihre behinderte Tochter nicht zu überfordern. Deshalb wollte sie ihren Sohn gleich zu mehreren Bewegungsgruppen, Schwimmkursen usw. anmelden, während sie zu Hause noch mit ihm rechnet und Buchstaben lernt. Wir rieten ihr, nur noch eine Sache (zusätzlich zur Logopädie) zu wählen und nur Dinge zu tun, die ihm wirklich Spaß machen, und nicht solche, die sie für seine Entwicklung für sinnvoll hält. Momentan besucht er mit großer Freude einen Schwimmkurs.

Murats Mutter zeigt viel Interesse am Kindergartenalltag und steht in einem sehr engen und positiven Austausch mit uns Mitarbeitern der Gruppe. Manchmal habe ich jedoch den Eindruck, dass sie nicht immer zufrieden mit seinen Leistungen ist und gerne hätte, dass er mehr an seinen „Schwachstellen“ arbeitet, und er das auch spürt.

Neben den bereits genannten Beispielen habe ich Murat noch in einigen weiteren Punkten des Beobachtungsbogens von Joelle Huser wiedererkannt:

Er zeigt, besonders jetzt im Alter von 5;6 Jahren, häufig eine Orientierung an Erwachsenen, möchte Tischspiele am liebsten nur noch mit ihnen spielen. Auch ein hoher Drang nach Unabhängigkeit war schon früh zu erkennen. Anfangs setzte er seinen Willen noch mit körperlichen Auseinandersetzungen durch, jetzt regelt er das verbal. Auch Grenzen und bestehende Regeln müssen phasenweise ausgetestet und neu gesteckt werden.

Er fasst Dinge, die ihn interessieren, schnell auf und versteht Zusammenhänge (zum Beispiel die Wochentage, an welchem Tag haben wir den Turnraum, welche AG, wann ist Wochenende). Bei den Merkmalen von unterforderten Kindern kann ich nur den Punkt „Unkonzentriertheit bei Fleißarbeiten“ bestätigen. Gerade im feinmotorischen Bereich ist er nur sehr schwer zu motivieren. Vielleicht auch gerade deshalb, weil er hier noch einige Schwierigkeiten hat und er merkt, dass er an seine Grenzen stößt.

Seine sprachliche und kognitive Entwicklung ist gut, aber im motorischen Bereich war er schon immer etwas verzögert. Was die Grobmotorik angeht, fällt es schwer in Worte zu fassen, er war immer sehr „tollpatschig“, „schlurfig“ und verhielt sich in Bewegungsangeboten auf dem Außengelände und dem Spielplatz wie ein „nasser Sack“ (wenig Körperspannung, ungeschickt). Er stieß hier oft an seine Grenzen.

Nach dem Besuch einer Sportgruppe und durch den Besuch der Schwimmschule mit seiner Mutter und viel Motivation im Kindergarten hat er sich aber schon deutlich weiterentwickelt.
Sozial ist Murat altersentsprechend entwickelt. Er ist in die Gruppe integriert, hat einen festen Freundeskreis und ist ein beliebter Spielpartner (auch bei den Mädchen in der Puppenecke).

An Projekten nimmt er mittlerweile interessiert teil. Hier fallen ihm Konzentration und Ausdauer (besonders bei aktiven Dingen, die mit Arbeiten verbunden sind) aber häufig noch schwer. Kürzlich nahm er an zwei Peer-Gruppen teil, die die Leitung unserer Einrichtung für die besonders begabten Kinder anbietet. Zuerst verließ er die Theatergruppe, weil er sich hier nicht mehr aktiv beteiligen wollte und gestellte Aufgaben nicht erledigte (Herstellung von Kostüm und Maske).

Dass er beim Aufführen des Stücks das einzige Kind ohne Kostüm war, störte ihn nicht. Kurz darauf erklärte er, dass er auch auf die Musikgruppe keine Lust mehr habe, obwohl ich den Eindruck hatte, dass er hieran viel Freude hatte. Die Tatsache, dass es dann keine Möglichkeit zurück in diese Gruppe gibt, akzeptierte er sofort.

Vor ein paar Monaten bat ein anderes, kognitiv sehr weit entwickeltes Kind meine Kollegin, in der Gruppe mit ihm Schach zu spielen. Die beiden führten das Ritual ein, jeden Tag nach dem Mittagessen gegeneinander zu spielen. Murat zeigte von Anfang an großes Interesse daran und beobachtete das Spiel über fast zwei Wochen. Er fragte nicht nach den Regeln und auch nicht, ob sie auch mit ihm spielen würde.

Wir entschieden, ihn auch nicht danach zu fragen, sondern abzuwarten, ob er sich selbst dafür entscheiden würde. Meine Kollegin bot ihm nur an, dass er einfach Bescheid sagen solle, falls er auch mal Schach mit ihr spielen möchte.
Nach etwa zwei Wochen tat er dies auch. Die Spielregeln hatte er schon begriffen und brauchte so gut wie keine Erklärung mehr.

Es dauerte keine ganze Woche, bis er meine Kollegin das erste Mal schlug. Bis heute spielt er jeden Tag Schach, begeisterte weitere Kinder dafür und erklärte ihnen die Regeln. Auch seine Mutter musste das Spiel lernen, um mit ihm zu Hause spielen zu können. Da ich auch kein Schach konnte und Murat mich sehr oft fragte, ob ich mit ihm spiele, ließ ich mir eine Kurzeinweisung von meiner Kollegin geben, um mir die Regeln danach von Murat erklären zu lassen. Er war sehr geduldig mit mir und wir spielen jetzt häufiger miteinander.

Vor etwa zwei Wochen gab es eine Situation, in der ich mir nicht ganz sicher war, ob Murat bewusst so handelte, um mich gewinnen zu lassen. Seine Äußerung: „Oh oh, jetzt habe ich einen Fehler gemacht und du kannst mich schlagen“ lässt mich dies aber annehmen.

Es entstand eine Schach-AG aus 6 interessierten Kindern, die jetzt einen Experten einladen und ein Turnier gegen Eltern machen möchten.
Murat hatte vorher nie große Freude an Tischspielen (auch nicht an schwierigeren) und spielte lieber aktiv draußen, im Turnraum oder sehr intensive Rollenspiele. Seit dem Entdecken des Schachs beschäftigt er sich fast ausschließlich nur noch mit Tischspielen und hat weitere gefunden, die ihm anscheinend viel Freude machen. Anhand eines Spiels möchte ich drei provozierende Beobachtungen erläutern.
(Siehe auch: Arten der Beobachtung.)

Murat rechnet

(Provozierende Beobachtung Nr.1)
Ein Spiel, dessen Namen leider niemand weiß, spielt Murat ebenfalls momentan sehr häufig. Hier geht es darum, Steine durch gewisse Spielzüge so zu platzieren, dass man durch Abzählen die meisten in sein eigenes Häuschen bekommt. Im Vergleich zu anderen Kindern seines Alters zeigt Murat eine enorm gute Gesamtübersicht, wägt unterschiedliche Züge ab und plant durch Abzählen seiner Steine die zukünftigen Züge.

Am Ende des Spiels zählt man die Steine im eigenen Häuschen. Der Spieler mit den meisten Steinen gewinnt. Murat kann sehr schnell die Unterschiede errechnen, die zwischen zwei Zahlen liegen („Verena, du bist 28, meine Mutter ist 35, meine Mutter ist 7 Jahre größer als du“).
Meistens verliere ich das Steine-Spiel gegen ihn. Neulich war das Endergebnis 15:21. Ohne lange zu überlegen wusste Murat nach dem Abzählen sofort, dass er 6 Steine mehr hatte.

Letzte Woche verlor ich 11:25. Ich fragte Murat: „Das ist aber viel Unterschied. Bekommst du das auch ausgerechnet?“ Murat: „Nein, das kann ich nicht.“ Ich: „Okay, dann versuch ich das mal.“ Ich nahm meine Finger zur Hilfe und begann abzuzählen.
Murat beobachtete mich und unterbrach mich schon kurz nachdem ich damit angefangen hatte. „Verena, ich habe 14 mehr als du.“ Ich sagte ihm, dass er das ja doch könne, und warum er es erst verneint hätte. Auf diese Frage antwortete er, wie so oft, „weiß ich nicht.“

Murat baut ein Fernrohr

(Provozierende Beobachtung Nr. 2)
Vor etwa drei Wochen malte Murat mit Wasserfarben zwei Toilettenpapierrollen an, hielt sie sich ans Gesicht und sagte: „Ich brauche ein Fernrohr.“ Ich sagte ihm, dass er das Außengerüst ja schon mal habe, und wir uns ja jetzt nur noch was überlegen müssten, wie er dadurch auch etwas vergrößert sehen könnte.

Also gingen wir los und suchten uns aus unterschiedlichen Räumen verschiedene Bücher zusammen, die mit Lupen, Mikroskopen, Fernrohren und Experimenten dazu zu tun hatten. Murat suchte motiviert mit und wir gingen mit drei Büchern zurück in die Gruppe. Ich sagte ihm, dass er sich die Bücher in Ruhe angucken solle und sich was überlegen könne.

Ich fragte nach und er sagte, dass er nichts gefunden habe. Wir gingen gemeinsam in den Werkraum, um nach Materialien für das Fernrohr zu suchen. Mit meiner Hilfe entstand der Plan, zwei Einzelteile von Eierkartons ans Ende zu kleben, diese zu durchlöchern und mit Transparentpapier zu versehen (man kann dann ja zumindest bunt sehen).

Wieder zurück am Maltisch sagte ich ihm, dass er das jetzt alleine könne und mich bei Fragen gerne wieder rufen solle. Es dauerte keine drei Minuten und Murat war wieder woanders aktiv. Ich fragte nach, was denn nun mit seinem Fernrohr sei und er antwortete: „Ich habe keine Lust mehr.“ Da ich ihn natürlich nicht dazu drängen wollte, schlug ich vor, die Sachen wegzuräumen und vielleicht morgen nochmal danach zu gucken. Er hat aber nicht mehr danach gefragt.

Im Nachhinein denke ich, dass ihm die normalen Materialien nicht ausreichten und er wahrscheinlich ein „echtes“ Fernrohr haben wollte. Man hätte zum Beispiel einen Aushang schreiben und um eine Leihgabe bitten oder ein günstiges zum Auseinanderschrauben kaufen können.

Murat findet es im Kindergarten langweilig

(Provozierende Beobachtung Nr. 3)
Am ersten Ferientag der Osterferien kam Murat schon ziemlich früh in den Kindergarten. Die drei anderen Kinder, die schon da waren, spielten im Turnraum, so dass Murat und ich alleine in der Gruppe waren. Er half mir bei der Zubereitung des Frühstücks, und es entstand ein Gespräch.
Murat: „Es wird Zeit, dass ich in die Schule komme.“
Verena: „Ja, du hast ja noch ein bisschen Zeit. Warum denkst du das?“
Murat: „Weil ich jetzt schon zu Hause lesen gelernt habe.“
Verena: „Ja, das hört sich ja super an. Was kannst du denn schon lesen?“
Murat: „Ich hab am Wochenende mit meiner Mama geübt.“
Verena: „Warum möchtest du denn gerne in die Schule gehen?“
Murat: „Weil man da still sitzen muss und weil es im Kindergarten langweilig ist.“
Verena: „Du möchtest gerne still sitzen? Im Kindergarten machst du das aber doch nicht so gerne. Dass dir langweilig ist, ist natürlich nicht so schön. Wenn du möchtest und dir das Spaß macht, können wir im Kindergarten ja auch lesen.“
Murat: „Mal gucken.“
Verena: „Du kannst dir ja was überlegen, was du gerne hier machen möchtest und dann sagst du mir das. Denn dass dir langweilig ist, ist ja auch blöd.“
Murat: „OK.“

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Murat noch nie über Langeweile geklagt oder über den Wunsch zur Schule zu gehen gesprochen. Ich hatte auch nie den Eindruck, dass er unterfordert sei oder sich langweilt, da er immer aktiv am Gruppengeschehen teilnimmt oder intensiv spielt. Durch die Formulierung seiner Äußerung bin ich mir auch nicht sicher, ob es seine Worte gewesen sind, oder ob dies im Gespräch mit seiner Mutter entstanden ist.

Über den Einschulungstermin hatten die Mutter und ich bereits letztes Jahr intensiv gesprochen. Da er im Oktober geboren ist und somit ein „Kann-Kind“ wäre, hätte er schon dieses Jahr in die Schule gehen können. Murats Mutter sagte mir, dass sie dies nicht möchte, sondern ihm das eine zusätzliche Jahr Kindergarten noch gönnen wolle, und fragte mich nach meiner Meinung.

Aufgrund seiner Konzentrationsschwierigkeiten und seiner geringen Ausdauer und Geduld und seiner emotionalen und motorischen Entwicklung stimmte ich ihr zu. Ich äußerte ebenfalls, dass wir seine kognitiven Fähigkeiten ja auch noch hier weiter fördern können, gerade auch mit dem Hintergrundwissen, das einige Mitarbeiter durch die Zusatzqualifikation in unserem Haus haben.
(Siehe auch: Fragen vor einer frühen Einschulung.)

Wie bereits erwähnt, fielen Murats sprachliche und kognitive Fähigkeiten sehr früh auf. Aufgrund meiner Erzählungen riet mir meine Leitung sehr früh dazu, den Beobachtungsbogen von Joelle Huser und den Interessen-Fragebogen mit ihm durchzuarbeiten.

Interessant ist es nun, den jetzigen Bogen (5;6 Jahre) mit dem damaligen (3;4 Jahre) zu vergleichen:
Sein großes Interesse an Zahlen und Buchstaben, die schnelle Auffassungsgabe und die verblüffende Gedächtnisfähigkeit waren schon damals zu erkennen. Ebenso verhält es sich mit seiner Unkonzentriertheit bei Fleißarbeiten und seiner sprachlichen Intelligenz (großer Wortschatz, schneller Fremdsprachenerwerb, gute Ausdrucksfähigkeit). Geändert hat sich, dass er mit 3 Jahren, also kurz nach Kindergarteneintritt, einen größeren Drang nach Unabhängigkeit zeigte und immer Erklärungen für Forderungen und Regeln verlangte. Ich hatte den Eindruck, dass er gewisse Regeln erst akzeptierte, wenn man sie ihm genau erklärt hatte (aus der Gruppe laufen ohne zu fragen, nach draußen gehen, wenn er das möchte, etc.).

Heute möchte er nur noch selten den „Chef spielen“, vielleicht auch, weil er merkte, dass den anderen Kindern das missfiel. Auch seine Orientierung an älteren Kindern und Erwachsenen hat sich mit der Zeit verändert. Zu Beginn spielte er viel mit den Kindern seines Alters, heute am liebsten die Tischspiele nur mit Erwachsenen oder andere Spiele mit älteren Kindern (der Altersdurchschnitt der Gruppe ist mit 11 Vorschulkindern und nur 3 Dreijährigen aber auch sehr hoch). Seine Vorliebe für ordnende und zählende Tätigkeiten hat sich erst in letzter Zeit deutlicher bemerkbar gemacht.

Ich denke, dass Murat eine überdurchschnittliche Begabung im sprachlichen und im logisch-mathematischen Bereich besitzt. Die oben genannten Beispiele machen deutlich, dass er im sprachlichen und im mathematischen Bereich über eine ausgeprägte Lernleichtigkeit verfügt. Das alltägliche Umgehen mit Zahlen und die ausgeprägten Fähigkeiten, logische Zusammenhänge (zum Beispiel beim Schach) zu erfassen, vorauszuplanen und auch umzusetzen, heben sich deutlich von denen anderer Kinder seines Alters ab.

Es könnte sein, dass er im Kindergarten nicht so viel Interesse am Schreiben und Lesen zeigt oder zeigen möchte, weil er zu Hause „genug“ davon macht, und sich bei uns lieber mit anderen Dingen beschäftigen möchte.

Mein nächster Schritt wird sein, dass ich nochmal einen Interessen-Fragebogen mit ihm machen möchte, um herauszufinden, was ihn wirklich momentan interessiert. Die Ergebnisse könnte man für ein weiteres Elterngespräch nutzen, um mit der Mutter einen Weg zu finden, seine Wünsche und Vorstellungen umzusetzen.

In der Gruppe müssen wir ihn jetzt, nach seiner Äußerung, ihm sei langweilig, noch genauer beobachten, um eine Unterforderung so früh wie möglich erkennen zu können.
Gerne würde ich auch seine Stärken dafür nutzen ihn an Dinge heranzuführen, die er nicht so gerne macht, die aber trotzdem wichtig zu erlernen sind. Vielleicht hat er ja Lust Zahlen zu malen, zweckzuentfremden und dadurch zu verändern (Zahlen in Form von Symbolen, Männchen, Häusern o.ä.).
Das Interesse am Fernrohr kann ich auch nochmal aufgreifen, um mit ihm gemeinsam Wege zu überlegen, seine Vorstellungen umzusetzen.

Damit es Murat gut geht, er nicht über- oder unterfordert ist und sich wertgeschätzt und verstanden fühlt, hat es oberste Priorität herauszufinden, was er wirklich möchte. Dafür werde ich die nächstmögliche Gelegenheit nutzen und mich mit ihm aus der Gruppe zurückziehen, um den Interessefragebogen durchzuführen. Auf das Ergebnis bin ich gespannt.

 

Weitere Beiträge, in denen über Murat berichtet wird:

Murat will lernen: Minus-Aufgaben und Englisch

Besonders begabte Kinder in einer Englisch-AG

Murat und unser Projekt „Mein Körper“
 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2017
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.