von Elisabeth Nawroth
Ich hatte Gelegenheit, Katja etwa vier Monate lang einmal pro Woche in der Schule zu beobachten. Sie besucht das 1. Schuljahr. Alle 14 Tage sehe ich sie außerdem beim Knobelclub der DGhK. Einige Informationen stammen aus Gesprächen mit Katjas Eltern und ihrer Erzieherin aus der Kindergartenzeit.
Die Beobachtungen und Informationen, die mir im Hinblick auf eine mögliche Hochbegabung bemerkenswert erschienen, habe ich den Punkten im Beobachtungsbogen nach Huser zugeordnet (Ausgabe 2000):
Zu A 1 Allgemeiner Entwicklungsvorsprung, großes Interesse an Buchstaben und Zahlen
Katja schrieb mit 3 Jahren ihren Namen, hat im Kindergarten alles mitgemacht, was die Schulanfänger gemacht haben.
Zu A 2 Schnelle Auffassungsgabe und Neugierde
Sie interessierte sich sehr früh für die Dinge, die die Mutter tat. Als die Mutter mit der Nähmaschine nähte, wollte sie im Alter von 3 Jahren wissen: „Wie geht das? Mach mal auf! Kann ich auch mal?“
In der Schule erfasst sie blitzschnell die Aufgabenstellung von Arbeitsblättern, löst sie schnell, hilft gleichzeitig anderen.
Sie erkennt bei Einführung neuer Themen schnell und selbstständig, was zu tun ist. Sie meldet sich und kann es so erklären, dass alle begreifen, worum es geht (zum Beispiel bei einem Wortsuchrätsel am Overhead Projector).
Zu A 3 Orientierung an älteren Kindern und Erwachsenen
Im Kindergarten hat sie schon als 3-Jährige mit Schulanfängern gespielt, wurde dort auch akzeptiert – auf Grund ihrer guten Spielideen. Das gleiche gilt für das Spielen auf der Straße im häuslichen Umfeld.
Zu A 4 Verblüffende Gedächtnisfähigkeit
Sie war mit ihrer Oma im Urlaub gewesen, als sie 4 Jahre alt war.
Als sie nach Hause kam, erzählte sie den detaillierten Tagesablauf des kompletten einwöchigen Urlaubs vom ersten bis zum letzten Tag.
Sie spricht heute noch gerne von den Geschehnissen während der Bauphase des Eigenheimes „bei uns auf der Baustelle“. (Das Haus wurde vor 3 Jahren bezogen.)
Sie erzählt mir auf Nachfrage vom Besuch des „Sealife“ vor einem Jahr genau die Einzelheiten.
Zu A 5 Lange Aufmerksamkeitsdauer und starke Eigenmotivation
Katja sitzt stundenlang (2 bis 3 Stunden) an einem Thema.
Zum Thema „Titanic“ beispielsweiswe schaut sie auf dem Globus, im Atlas und im Buch nach, wo genau das Schiff untergegangen ist und wo sich das Schiffswrack nun befindet. Seitdem fährt sie nicht mehr so gerne mit dem Ausflugsschiff auf dem Dortmund-Ems-Kanal.
Zu A 6 Kritische Einstellung zur eigenen Leistung – hohe Ansprüche an sich selbst
Beim Malen und Schreiben der Buchstaben oder Zahlen radiert Katja sehr viel, wenn sie meint, dass die Zahlen und Buchstaben nicht gut genug geschrieben wurden. Im Vergleich zu den Klassenkameraden schreibt sie alleerdings auch auf Anhieb sehr ordentlich.
Trotzdem höre ich des öfteren:
„lch kann das nicht so gut.“
Zu A 7 Vorliebe für Komplexität, Schwierigkeitsgrad bei neuen Aufgaben
Katja befasst sich gern mit naturwissenschaftlichen Themen. Diese verfolgt sie so intensiv, dass sie nicht nur Bücher und Filme dazu sehen will, sondern mit ihrer Oma sämtliche Museen dazu besichtigt und dort vor Ort ihre Fragen und Bemerkungen zu den einzelnen Themen verkündet.
Zu A 9 Beschäftigung mit sozialen, philosophischen, politischen und ökologischen Themen
Katja beschäftigte sich schon im Alter von 2 Jahren mit dem Leben nach dem Tod.
„Was passiert mit uns, wenn wir tot sind? Wie groß ist der Himmel?“
„Warum vertragen sich die Menschen nicht? Warum bringen die sich selbst um?“
waren Fragen der 3-Jährigen zu den Schlagzeilen des Irak-Krieges.
Zu A 10 Wunsch nach früihzeitiger Einschulung oder nach anspruchsvollen Arbeitsblättern
Katja machte immer die Hausaufgaben ihres vier Jahre älteren Bruders mit und hatte wenig Verständnis dafür, dass sie nicht zur Schule durfte.
Der Bruder bezieht sie weiterhin selbstverständlich in seine Gedankenwelt ein. So „muss“ Katja zum Beispiel Englisch lernen, da der Bruder mit dieser Fremdsprache auf dem Gymnasium angefangen hat. Er spielt mit ihr Schule und fragt die Vokabeln ab.
Seit einem Jahr besucht sie gerne den Knobelclub der DGhK, wo neben Denkspielen auch diverse Knobel- und Rätselaufgaben gelöst werden. Hier entwickelt sie eine große Vorliebe für verzwickte Labyrinthe.
Zu A 11 Qualität der Fragen und Beispiele
In der Schule wird „Stationenbetrieb“ angeboten. Die Kinder dürfen unter 6 Schwierigkeitsgraden Arbeitsblätter aussuchen. Katja sucht sich zueerts die schwierigsten heraus. Das „babyleichte“ Arbeitsblatt schafft sie zeitlich nicht mehr.
Im Stuhlkreis stellt die Lehrerin die Frage, warum die Kinder sich gerade für dieses Arbeitsblatt entschieden haben. Während einige Kinder zum Beispiel antworten: „Die Fische sind so lustig.“ oder: „Ich mag die Sonne.“ oder: „Ich hatte Lust dazu.“ antwortete Katja:
„Weil es so schwierig war.“
Zu A 12 Das „Wörtlich-nehmen“ und die Forderung nach Erklärungen
Katja richtet sich strikt nach den Anweisungen der Lehrkraft. Beispiel: Alle Kinder sollen den Zahlenstrahl aus der Tasche holen und – wenn sie ihn brauchen – auch damit rechnen. Katja braucht ihn eigentlich nicht, rechnet aber damit, weil die Lehrerin nicht ausdrücklich gesagt hat, sie kann auch ohne Zahlenstrahl rechnen.
Zu A 13 Innovativer Gebrauch von Materialien – kiinstlerische Originalität
Katja bastelt gern mit Materialien in unterschiedlichster Form und setzt diese auch nicht immer zu den gedachten Zwecken ein.
Zu A 14 Sinn für Humor und Wortspiele
Katja hat viel Sinn für Humor, aber es fällt schwer, dieses in Worte zu fassen, da dann aus dem Zusammenhang losgelöst erzählt wird.
Bereich B
Aus dem Bereich B (Merkmale von unterforderten Kindern) trifft auf Katja nichts zu, da sie das Glück hatte, von ihrem 4 Jahre älteren Bruder als vollwertige Spielpartnerin akzeptiert zu werden. Er nahm sie überall mit hin und traute ihr alles zu. Auch von seinen Freunden wurde sie stets akzeptiert.
Zu C 1 / C 3 Großer Wortschatz / Gute Ausdrucksfähigkeit
Als Katja nach der ersten Schulwoche eine Kindergartenfreundin und deren Mutter traf und diese Katja einlud, doch mal wieder zum Spie1en zu kommen, erwiderte Katja: „Nein, das möchte ich nicht, ich orientiere mich gerade neu.“ Auf Nachfrage der Mutter erklärte Katja ihr, dass sie nun alle Mädchen der Klasse nacheinander einladen möchte, um zu sehen, mit wem sie spielen möchte.
Nach einem halben Jahr hat sich herauskristallisiert, dass Katja sich nun regelmäßig mit einem hoch begabten Mädchen aus ihrer Klasse trifft, da die beiden Mädchen gut harmonieren.
Zu C 2 Schneller Fremdsprachenerwerb
Katja lernt innerhalb der DGhK in einer Kindergruppe Italienisch. Sie lernt gut und schnell und setzt das Gelernte zu Hause und teilweise in der Schule um. (So rechnet sie zum Beispiel auf Italienisch.)
Die Chinesisch-Fähigkeiten, die sie vor einem Jahr in einem Crashkurs (1 Nachmittag am Familienwochenende) erworbenen hat, zitiert sie auch heute noch.
Zu C 3 Gute Ausdrucksfähigkeit
Katja liest viel Fachliteratur zu Themen aus den Naturwissenschaften. Sie weiß, wenn sie diese Bücher mit zur Schule nimmt, genau, auf welcher Seite das entsprechende Tier oder die Blume zu finden sind. Sie nimmt bei Spaziergängen gerne den Kosmos Naturführer mit, um gleich vor Ort zu klären, um welchen Käfer oder um welche Pflanze es sich hier handelt. Sie setzt eben gelernte Fachbegriffe richtig ein.
Zu D 1 Quantitative Aussagen sowie quantitatives Denken
Katja ist in der Lage abstrakt zu denken, sie weiß zum Beispiel, was ½, 1/3 oder ¼ ist, kann es jedoch nicht in Zahlen umsetzen. Wenn sie aber einen Raum betritt, erfasst sie sofort, dass 1/3 der Personen eine Brille trägt.
Zu D 2 Vorliebe für ordnende und zählende Tätigkeiten
Katja ordnet und sortiert alles in ihrem Zimmer: Bücher und Bilder nach Themen, Tonkassetten nach Vorliebe, Stifte nach Farbe, Spiele nach Größe.
Zu D 3 Gutes Abstraktionsvermögen – räumliches Denkvermögen
Katja ist sicher im Wiedererkennen von Wegen, Straßen, Städten. „Hier war ich schon einmal und jetzt müssen wir rechts gehen, um zu … zu kommen.“
Sie erkennt die Plätze auch noch nach einem Jahr wieder und orientiert sich schnell (zum Beispiel: „Jetzt noch 5 Windräder auf der rechten Seite und 3 auf der linken, dann links ab.
Zu E 1 Besonders gute Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit
Katja beobachtet oft Kleinigkeiten und erzählt später davon. Sie weiß zum Beispiel später noch genau, wer welchen Ohr- oder Fingerring trug, wer „bei der Sache“ war und wer nicht.
Sie ist in der Lage, inhaltlich zu analysieren. Sie merkt sofort, wenn sich jemand widerspricht:
„Das hast du aber eben anders gesagt!“
Katja hat ein gutes Einfühlungsvermögen, ob ein Gespräch ironisch oder ernst verläuft. Beispielsweise tröstete sie die Mutter, als diese den Anruf erhielt, dass es ihrer Mutter schlecht geht und sie eine schwere Operation zu erwarten habe.
Zu E 2 Hohe Fähigkeit zur sozialen Anpassung
Katja spielt mit Kindern jeder Altersgruppe engagiert und niveaugerecht. Nur ganz selten streitet sie mit ihren Spielkameraden. Sie passt sich den anderen an, versucht aber trotzdem ihre Meinung durchzusetzen.
Zu E 4 Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn – hohe Sensibilität
Sie zeigt einen sehr hohen Gerechtigkeitsanspruch und verteidigt oft Schwächere, wenn sie im Spiel nicht zum Zug kommen.
Zu F 1 Informationstiefe und Informationsbreite
Frühes Interesse an Themen wie „Schiffe, Umwelt, Pflanzen, Pferde, Ballett“. Sie sucht sich speziell zu diesen Themen Bücher und beschäftigt sich dann stundenlang in ihrem Zimmer damit.
Zu F 2 Grosses Wissen über naturkundliche Themen
Katja zeigt großes Interesse an Naturereignissen wie Stürme, Erdbeben, Vulkane. Sie züchtet im Garten ihre eigenen Pflanzen aus Samen, sie kümmert sich um die Pflege selbst und fachsimpelt mit den Erwachsenen, was wo gut wächst und gedeiht.
Sie beobachtet genau das Wachstum, immer unter Heranziehen von Fachliteratur.
Zu F 3 Grosses Wissen über und Interesse an physikalischen, technischen und chemischen Abläufen
Mit vier Jahren hatte Katja bereits ein großes Interesse am Fotografieren. Die Motivauswahl erfolgte nach verschiedenen Kriterien. Mal musste der Hintergrund gut aussehen, mal das eigentliche Motiv.
Zum sechsten Geburtstag wünschte sie sich von ihren Freundinnen ein Buch über das Weltall.
Datum der Veröffentlichung: Dezember 2011
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