von Hanna Vock
Vortrag „Mut zum freien Lernen und Lehren“ (leicht gekürzt),
gehalten beim Symposium „Kompetente Erziehung für kompetente Kinder“
am 8.11.03 in Düsseldorf.
Veranstalter war u.a. die Deutsche Gesellschaft für das hochbegabte Kind (DGhK) Rhein-Ruhr.
Sehr geehrte Zuhörerinnen und Zuhörer,
was ist hiervon zu halten? Originalton eines hoch begabten Mädchens, 11 Jahre, 7. Klasse eines Gymnasiums, am frühen Nachmittag gerade aus der Schule zurück:
„Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute hin gegangen bin???
Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute 6 Stunden gesessen habe??? – Soll ich dir mal sagen, was ich da heute gelernt habe??? Nichts!!! Wieder mal: Nichts!!!“
Dauer-Frustration, die sich in Wut äußert. Wut auf die Schule, die Lernbedürfnisse nicht erfüllt, die zum Absitzen des Unterrichts und zu viel zu viel Anpassung zwingt. Gut, wenn die Wut so klar gefühlt und geäußert wird.
Gut, wenn die Wut sich konstruktive Bahnen sucht und zu Mut wird: Mut, mit 11 Jahren Sprachkurse an der Volkshochschule zu besuchen, später ins Internat zu ziehen, um bessere Lernbedingungen zu finden, und noch später ins Ausland zu gehen, um zu lernen.
Aber wie viel besser erscheint es mir, wenn die Schule sich ändert, wenn die Schule auch hoch begabten Schülerinnen und Schülern vor Ort so viele Anregungen und geistige Herausforderungen bietet, dass die Kinder und Jugendlichen sich dort wohl fühlen und ihre Kräfte effektiv fürs Lernen in ihrer Schule verwenden können.
Wie das gehen kann, habe ich von 1992 bis 1995 an der Braunschweiger Christophorusschule gesehen. Aber solche Schulen sind die großen Ausnahmen.
Warum heißt mein Vortrag „Mut zum freien Lernen und Lehren“?
Aber auch, weil es verschiedene Ängste gibt, die die Lernprozesse hoch begabter Kinder hemmen und behindern können. Zur Überwindung dieser Ängste brauchen die Kinder eigenen Mut und beständige Ermutigung durch Eltern und Lehrer.
1)
Da ist zunächst die Angst vor dem Anderssein; die Angst vor Ausgrenzung, vor Ablehnung; die Angst davor, als überheblich zu gelten, nicht verstanden zu werden.
Ja, hoch begabte Kinder sind anders; sie haben von klein auf andere Spiel- und Lernbedürfnisse als durchschnittlich begabte Kinder, und zwar vor allem in den Bereichen, in denen ihre Hochbegabung liegt. Manche Tätigkeiten, die anderen Kindern viel Spaß machen, reizen sie nicht. Andererseits fühlen sie sich zu Tätigkeiten hingezogen, die Andere noch nicht oder überhaupt nie interessieren.
Der Mut von Erwachsenen, mit diesen Unterschieden offen und klar umzugehen. Die Ermutigung, auch intellektuelle Stärken bei sich selbst und bei Anderen wertzuschätzen und frei zu entwickeln.
Damit hoch begabte Kinder zu ihren oft ungewöhnlichen Interessen und Gedanken stehen können, ohne sie zu verbergen oder zu verleugnen, brauchen sie eine Schule, die Begabungsunterschiede, unterschiedliche Lernwege und ungleiches Lerntempo als Tatsachen begreift und damit gut umgehen kann.
Dies gelingt umso leichter, wenn nicht nur ein einziges hoch begabtes Kind einsam in der Klasse sitzt, sondern wenn mehrere ähnliche Kinder das Lernklima mitbestimmen.
Siehe auch: Verbergen von Fähigkeiten und Interessen.
2)
Da ist weiter die Angst vor negativen Reaktionen aus der Umwelt. Die Angst vor Unverständnis und Isolation. In vielen sozialen Umwelten kommt das Benennen von besonderen Fähigkeiten und Lernbedürfnissen des Kindes einem Outing gleich, mit allen möglichen unsicheren und belastenden Reaktionen aus Verwandtschaft und Bekanntschaft.
Das Kind auf eine besondere Schule zu schicken, es früh einzuschulen, es eine Klasse überspringen zu lassen, schafft Erklärungsbedarf, und längst nicht alle werden es verstehen.
Andererseits kann das bloße Vorhandensein von Schulen, die erklärtermaßen die Bedürfnisse hoch begabter Kinder ernst nehmen, dazu beitragen, die Situation mittelfristig selbstverständlicher erscheinen zu lassen. Die Schule ermöglicht Kontakt und Austausch zu anderen „Betroffenen“, was auf Kinder und Eltern unmittelbar entlastend wirkt.
Etliche Eltern würden ihr Kind gerne auf eine solche Schule wechseln lassen, weil sie erfahren haben, wie kraftraubend es ist und wie viel Mut immer wieder aufgebracht werden muss, um sich mit einer Schule auseinander zu setzen – oft auch noch erfolglos auseinander zu setzen -, die Hochbegabtenförderung gar nicht oder nur halbherzig in ihrem Programm hat.
3)
Da ist die Angst von Eltern, ihr hoch begabtes Kind könnte zum Außenseiter und Eigenbrötler werden, es könnte keine Freunde finden.
Dieser Angst ist nicht beizukommen, indem das Kind zur Anpassung gedrängt wird. Ermutigend sind positive Gruppenerfahrungen, das Suchen nach „wirklichen“ Freunden, das erfolgreiche Zusammenarbeiten auch mit ähnlich Begabten und Interessierten.
Die hoch begabten Kinder brauchen – außer den vielen anderen Kindern – auch andere Hochbegabte, um genügend Anregungen zu erhalten und auch geben zu können.
In vielen Schulen – oder auch schon im Kindergarten – machen hoch begabte Kinder immer wieder die Erfahrung, dass sie besser davonkommen, wenn sie allein spielen oder arbeiten, weil sie nur so ihre Ideen bis zum Ende verfolgen können:
Ermutigend zur Zusammenarbeit ist für hoch begabte Kinder ein Unterricht, der auf einem hohen Niveau stattfindet und der ernsthafte fächerübergreifende Projektarbeit beinhaltet. Ermutigend ist auch die Möglichkeit zur selbstbewussten Präsentation der allein oder gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse.
4)
Da ist die Angst der Lehrer und Eltern vor Ausnahmen von der Regel, vor der Eigenwilligkeit des Kindes. Auch das Kind, das schon das Pensum der 3. Klasse rechnen kann, muss zu Hause die Rechenkästchen der 1. Klasse machen, auch wenn dies sinnlos ist.
Ein Ernstnehmen der kindlichen Anstrengungsbereitschaft ist dies nicht.
Gelassenheit und Großzügigkeit gegenüber unterschiedlichen Begabungen können Erwachsene und Kinder entwickeln, wenn der individuelle Lernprozess jedes Kindes den Unterricht ausfüllt und bestimmt. Hier wird für Schüler und Lehrer die gut begründete Ausnahme, der eigene Lernweg, das eigene Lerntempo zur Regel.
5)
Da ist die Sorge, dass das hoch begabte Kind die so genannten Sekundärtugenden (Fleiß, Ausdauer, Sorgfalt, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeiten, usw.) nicht lernt, wenn es nicht zur Anpassung an das Durchschnittsniveau bereit ist.
Es soll Frustrationstoleranz erwerben und Ausdauer und Sorgfalt auch beim Erlernen von Dingen zeigen, die es längst kann.
Die enorme Frustrationstoleranz, die das hoch begabte Kind schon aufbringt, indem es jeden Tag wieder in die Schule geht, die ihm wenig gibt, wird unterschätzt (siehe Beispiel am Anfang).
Und außerdem:
Ob das Kind über Ausdauer, Sorgfalt und gute Kommunikationsfähigkeiten verfügt, lässt sich dort beobachten, wo das Kind auf seinem Niveau lernen darf. Dies kann man gut bei Intelligenztests beobachten – oder auch, wie ich bei meiner eigenen praktischen Arbeit erfahren durfte, bei speziellen Gruppenangeboten für hoch begabte Kinder.
Die Sekundärtugenden oder wie sie heute oft genannt werden: die personalen Kompetenzen können nicht gelernt und verinnerlicht werden, so lange die Grundstimmung des Kindes depressiv oder aggressiv getönt ist, weil ihm Wichtiges vorenthalten und verweigert wird.
Wenn ein hoch begabtes Kind sich ausgiebig mit schwierigen Inhalten befassen will, die seiner hohen Begabung entsprechen, muss es dafür beständige Wertschätzung und emotionale Bestätigung erfahren. Da es sich hier um ein Grundbedürfnis handelt, darf seine Erfüllung grundsätzlich nicht abhängig gemacht werden vom Wohlverhalten des Kindes, nach der Art: „Erst machst du ordentlich deine Hausaufgaben – und dann kriegst du heute auch was zu trinken.“
Allerdings können Pflichten des Kindes (im Haushalt helfen, seine Sachen aufräumen, die Hausaufgaben machen) durchaus verlangt und auch bei einem 8-Jährigen zeitlich vorgeschaltet werden: „Ja, natürlich darfst du (am Computer) „Minecraft“ spielen; vorher musst du dein Zimmer in Ordnung bringen und einkaufen gehen.“
6)
Da ist weiter die Angst vor einseitiger Entwicklung und Defiziten in Lernbereichen, in denen das Kind nicht hoch begabt ist. So wird oft erst „das Andere“, was dem Kind schwerer fällt, gefordert, ehe es sich mit seiner Domäne beschäftigen darf. Eine pädagogische Methode, die nicht gut funktioniert.
Erst dann, wenn dem Bereich der Hochbegabung genügend Zeit, genügend Raum, genügend Anregung zu Teil geworden ist, ist das Kind entspannt genug, um sich auch den weniger befriedigenden Dingen zuzuwenden.
Die Frage ist:
7)
Da ist die Angst vor Überforderung – der Überforderung des Kindes und der Eltern und Pädagogen. Erfahrungen aus meinen Elternberatungen zeigen: Lehrer zeigen nach Gesprächen guten Willen, sie erhöhen den Schwierigkeitsgrad. Das sechsjährige Kind muss nicht mehr mit der Klasse mitrechnen: 7+5, sondern darf rechnen 17+15. Die Lehrerin hält das für sehr viel schwieriger, weil sie weiß, dass die Klasse dorthin erst Wochen später kommen wird.
Vielleicht kann das hoch begabte Kind aber auch Aufgaben dieses Typs schon lange lösen und möchte sich nun eher damit befassen, was 17 geteilt durch 15 ist und was das Komma im Ergebnis wirklich bedeutet. Der wohlmeinende Versuch der Lehrerin läuft ins Leere. Sie fühlt sich durch die weitere Unlust des Kindes bestätigt, dass nicht die zu leichten Aufgaben die Ursache waren – sondern vielleicht der Druck, den die Eltern auf ihr Kind ausüben – oder mangelnde Disziplin des Kindes. Was für ein fataler und trauriger Irrtum!
Um den Entwicklungsstand des Kindes auszuloten und daran anzuknüpfen, sind eine entsprechende Einstellung des Lehrers, aber auch kleine überschaubare Lerngruppen nötig. Dann kann auch die Angst vor dem ungewöhnlichen Lerntempo der Kinder abgebaut werden.
8)
Und dann ist da noch die Angst vor dem Loslassen. Etliche hoch begabte Kinder zeigen ein frühes komplexes Urteilsvermögen über die Situationen, in denen sie sich befinden. Dieses Urteilsvermögen und der Drang nach Selbstbestimmung wollen anerkannt sein.
Eine Bitte an die Eltern: Halten Sie Ihr Kind nicht zurück, wenn es die Welt erkunden und sein Glück suchen will. Lassen Sie die Kinder (bei aller nötigen Sorgfalt) in die nahe und ferne Welt gehen.
9)
Viele psychische Schwierigkeiten und Blockaden, mit denen sich hoch begabte Kinder plagen, haben ihren Ursprung in einer langen Erfahrung von Verwirrung und Frustration. Manchmal läuft schon im Kleinkindalter oder im Vorschulalter etwas gründlich schief.
Deshalb setze ich mich dafür ein, dass Hochbegabung schon im Kindergarten erkannt wird und Erzieherinnen lernen dürfen, hoch begabte Kinder im Kindergarten angemessen zu fördern.
Es ist wichtig für hoch begabte Kinder und ihre Eltern, dass es immer mehr kompetente Schulen und Kindergärten gibt, die sich ernsthaft um Hochbegabtenförderung bemühen, wobei Kindergärten auf jeden Fall integrativ arbeiten sollten.
Kinder, die mit anderen hoch begabten Kindern zusammen lernen können, haben es leichter, ihre Lernbedürfnisse anzumelden und durchzusetzen. Ihren Mut können die Kinder in einer Schule, in der frei gelernt werden kann, besser und effektiver einsetzen. Sie müssen sich nicht in (oft erfolglosen) Kämpfen um das Allerselbstverständlichste verschleißen, sondern können ihre geistigen Kräfte an interessanten Fragen erproben.
Eltern können ihre Fragen und Gedanken in einem hochbegabungsfreundlichen Schulklima unbedrängt und auf einem hohen Niveau einbringen.
Ich wünsche den (hoch begabten und allen anderen) Kindern, dass ihre Lehrerinnen und Lehrer in der Klasse und im Lehrer-Team effektive und befriedigende Arbeit leisten können, ohne als Einzelkämpfer jeden Tag gegen Schema F, Pausenklingel, Fächergrenzen, zu große Klassen und Vorurteile gegenüber eigenwilligen Kindern anzukämpfen.
Siehe auch:
Dauerfrustration wegen Unterforderung und Unverständnis
Mein erstes Schuljahr – Gespräche mit Kindern
Ist es für hoch begabte Grundschüler heute besser?
Datum der Veröffentlichung 17.06.2008 /Version Juli 2016
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