von Beate Kroeger-Müller
Oft machen wir uns in unserer Kita Gedanken darüber, wie es für die von uns geförderten hoch begabten Kinder in der Grundschule weiter geht. Als Elterninitiative mit recht großem Einzugsgebiet haben wir es mit verschiedenen Grundschulen zu tun. Wir versuchen, den Übergang der Kinder vom Kindergarten in die Schule gut zu begleiten, durch Gespräche mit Eltern und Lehrern, und können den weiteren Weg mancher Kinder auch verfolgen.
Mit einigen dieser Kinder habe ich Gespräche geführt und sie über ihre Erfahrungen aus dem 1. Schuljahr befragt. Alle Kinder haben mir sehr offen geantwortet, wofür ich ihnen dankbar bin – und auch für die Zustimmung, ihre Aussagen anonymisiert zu veröffentlichen.
Ruben
Ruben, ein ehemaliges Kindergartenkind aus unserer Einrichtung, ist heute 14 Jahre alt und besucht die 10. Klasse einer Schule mit Hochbegabtenförderung. Da er als junges Kannkind eingeschult wurde und eine Grundschulklasse übersprungen hat, ist er fast zwei Jahre jünger als seine Mitschüler. Er ist der Erstgeborene von drei weiteren Geschwistern, von denen zwei auch seine Schule besuchen. Das jüngste Kind ist noch im Kindergarten.
Frage: Was waren deine Erwartungen im Hinblick auf Schule – wie hoch war deine Motivation?
Antwort:
„Meine Motivation war riesig! Nach einem letzten Kindergartenjahr, in dem ich Lesen und vor allen Dingen Rechnen lernte, hatte ich einen großen Spaß dabei, mein Wissen zu vergrößern, auch wenn ich mich nicht wirklich gefordert fühlte. Aber genau das erwartete ich von der Schule. Sie sollte mich fordern und mich neue Dinge lehren.
Ich hatte von vielen Seiten gehört, dass die Schule ein völlig neuer Lebensabschnitt sei, also war ich mir sicher, dass die Schule eine Herausforderung bieten würde, die ich in meinem bisherigen Leben noch nicht erlebt hatte.“
Frage: Wie erinnerst du dich an deine ersten Schultage (Freud + Leid)?
Antwort:
„Für mich war die Schule immer ein Ort, zu dem ich gerne ging, und zwar vom ersten Tag an. Also kann ich nicht viel von Leiden erzählen, außer vielleicht über die Feinmotorikübungen, die uns beim Aufschreiben von Zahlen und Texten unterstützen sollten. Dass eine Drachenleine gespannt ist, war mir klar, aber eine grade Linie als Schnur zu zeichnen, eine unglaubliche Herausforderung.
Weit mehr glückliche als traurige Momente hat es in meinen ersten Schultagen gegeben. Das „Eingeschultsein“ ist ein sehr erhebendes Gefühl und von überall wird einem klar gemacht, dass jetzt ein neues Level erreicht sei, eine neue Stufe mit ihren Eigenheiten.
Glück war für mich auch, dass sich meine Erwartungen bewahrheiteten. Meine Lehrerinnen in Mathe und Deutsch gaben mir schon nach den ersten Wochen Aufgaben, die über den normalen Unterricht hinausgingen. Ich kannte keine Langeweile, denn wenn die Aufgaben aus der zweiten Klasse schon fertig waren, habe ich mir eigene Rechenaufgaben gestellt und mich damit immer höheren Zahlenbereichen angenähert.“
Frage: Was für einen Eindruck hattest du von deiner Lehrerin?
Antwort:
„Ich hatte nicht nur eine Lehrerin, die über meinen Unterricht entschied, sondern meine Lehrerinnen in Mathe und Deutsch. Meine Klassenlehrerin im Fach Deutsch war sehr engagiert. Ich fand es toll von ihr, wie sehr sie auf die einzelnen Schüler einging. Nicht nur auf mich, sondern auch auf so viele andere in der Klasse, die nicht so schnell wie andere mitkamen. Ich war ihr sehr dankbar, dass sie mir, nachdem ich mich zum Schreiben bequemte und die Druckschrift lernte, das Schreibschriftheft aus der zweiten Klasse gab, um mich nicht zu langweilen.
In Mathe erging es mir ähnlich. Ich konnte rechnen, bevor ich in die Schule kam, und erhielt auch dort mehr. Allerdings hieß die Devise meiner Lehrerin: „Wenn du die Zahlen nicht ordentlicher schreiben kannst, bekommst du keine Extraaufgaben mehr!“ Das wirkte! Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Lehrerinnen um jeden Schüler einzeln kümmerten, was ich sehr gut fand, da ich dann in meiner Lerngeschwindigkeit nie gebremst wurde.“
Frage: Was hast du zu Beginn als Ungerechtigkeit gegen dich empfunden?
Antwort:
„Nichts! Was sollte auch ungerecht gewesen sein? Es war aus meiner Sicht ungerecht, dass ich tolle Extraaufgaben aus der zweiten Klasse bekommen habe und andere nicht, aber gegen mich gab es keine Ungerechtigkeiten.“
Frage: Was waren deine schönsten Momente in der ersten Klasse?
Antwort:
„Es gab zwei Momente, die für mich besonders waren und mir auch immer noch in guter Erinnerung sind. Zum Einen sind das die Besuche in der zweiten Klasse. Im zweiten Halbjahr bot meine Lehrerin mir an, dass ich ein paar Stunden pro Woche den Unterricht einer zweiten Klasse besuchen durfte. Ich empfand es als eine Ehre und war sehr glücklich, wie freundlich ich in der zweiten Klasse aufgenommen wurde. Es handelte sich um die Klasse, in die ich nach dem ersten Schuljahr wechselte. Das Lernen mit älteren Kindern zusammen war für mich sehr interessant, aber auch nicht nur einfach. Damit hatte ich eine neue Herausforderung gefunden und war noch glücklicher in der Schule als zuvor.
Der zweite Moment in meiner ersten Klasse war die Projektwoche. Es gab viele verschiedene Angebote, woraus ich das Projekt „Geisterbahn“ auswählte. Mich beschäftigten in dieser Zeit viele mystische Dinge, also war dieses Projekt genau das richtige für mich. Mir gefiel es, meiner Kreativität Raum zu geben und ich hatte großen Spaß in dieser Zeit.“
Frage: Wie geht es dir augenblicklich mit Schule?
Antwort:
„Ich gehe immer noch gerne in die Schule, allerdings war ich nicht auf die maximale Leistung aus. Ich sah es nicht als nötig an, groß dazuzulernen, denn ich wusste sehr viele Dinge. Das hieß, aus Einfachheit auf dem Stand der fünften Klasse stehen zu bleiben. Das ging auch ganz gut bis zur siebten Klasse, aber dann musste ich mich in der Acht vom Eins-Komma-Schnitt verabschieden und erlebte einen schnellen Abstieg. Viele Klassenkameraden fragten mich, warum sich mein Potenzial nicht in Noten ausdrückte, aber die Antwort war ganz einfach. Alle Noten, bei denen es ums Lernen ging, fielen bei mir miserabel aus. Das äußerte sich vor allen Dingen in Vokabeltests. In „meinen“ Fächern Mathe, Physik und Informatik reichte es aus, im Unterricht aufzupassen, um eine Eins auf dem Zeugnis zu sehen, aber in Fremdsprachen kann man ohne Vokabeln schlecht gute Arbeiten schreiben.
Jetzt bin ich in der Oberstufe und habe mich im Wesentlichen aufgerafft. Gute Arbeiten kann ich in jedem Fach abliefern, es fehlt nur noch an Routine. Die möchte ich jetzt in der zehnten Klasse aufbauen, um die Qualifikationsphase mit einem guten Abitur abschließen zu können.“
Maya
Maya war zum Zeitpunkt des Gesprächs 12 Jahre alt; sie war mit gerade sechs Jahren eingeschult worden, hat keine Klasse übersprungen und besucht jetzt die 7. Klasse eines Gymnasiums. Sie hat schon mit vier Jahren im Kindergarten eigenständig Lesen und Schreiben gelernt und hat seit ihrem fünften Lebensjahr Geigenunterricht genossen.
Frage: Was waren damals bei deiner Einschulung in die Grundschule deine Erwartungen im Hinblick auf die Schule, wie war deine Motivation für Schule?
Antwort:
Ich war im Vorfeld schon sehr aufgeregt, aber es war eine schöne Aufregung. Allein die Vorstellung: jetzt endlich Schule, jetzt alles lernen zu können, war schon berauschend und klang verlockend für mich.
Wenn ich im Kindergarten ein Buch gelesen habe, habe ich anschließend die Gefühle der Personen aufgeschrieben. So auch bei dem Buch >Connys erster Schultag<. Ich kannte somit schon Connys Gefühle, brauchte sie nur abzulesen und mich darauf einzustellen, nachzuspüren: Sind Connys und meine Gefühle vielleicht identisch? Also, ich war total motiviert.
Und dann, an meinem ersten Schultag, wollte ich sofort losstarten. Aber schon nach den ersten Wochen meiner nicht endenwollenden Unterforderung dachte ich jeden Morgen erneut: Schule, wann lerne ich endlich mal etwas von dir?
Frage: Wie waren deine ersten Schultage?
Antwort:
Ich weiß noch, an meinem ersten Schultag war ich total enttäuscht. Auf einen Zettel mit einem Bärchen drauf, den meine Lehrerin verteilte, sollte jeder seinen Namen schreiben, der das schon konnte. Ich dachte nur, das kann doch nicht wahr sein, das haben wir doch alle schon im Kindergarten gelernt. Als Hausaufgaben waren irgendwelche Blätter auszumalen.
Meine Enttäuschung war so groß, dass ich bei meiner Mama dann geweint habe, als ich abgeholt wurde. Das wurde von der Lehrerin als eine Überforderung interpretiert. Mein wahres Gefühl von Langeweile und Unterforderung wurde überhaupt nicht von ihr wahrgenommen, sondern total falsch interpretiert. Warum konnte meine Lehrerin das nicht nachvollziehen, wie es mir damals ging?
Die war überhaupt nicht authentisch. Sie tat immer total lieb, war jedoch gereizt und genervt, hat das Gesicht zu einem Lächeln verzerrt. Aufmerksamkeit bekam man, wenn man sagte, man fühle sich schlecht. Dafür gab es eine Kopfschmerzschachtel mit Cool-Kissen, eine Bauchschmerzschachtel mit Wärmekissen und meterweise Tröstepflaster für die kleinsten Wunden. Wenn ein Kind in der Klasse wegen einer Magen-Darm-Grippe nicht kam, wurde direkt die Desinfektionsmittelflasche ausgepackt und meine Lehrerin sagte, wir sollen uns alle gut die Hände waschen.
Frage: Erinnerst du dich an eine Ungerechtigkeit dir gegenüber, aus der Anfangszeit?
Antwort:
Im ersten Herbst sollten wir einen Igel basteln, nach einer Schablone. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben, ihn individuell gestaltet, nicht alles nur nach Anleitung und Schablone gemacht. Ich dachte mir, ich mach jetzt mal was Eigenes, das von der Norm abweicht und sich von den übrigen 27 langweiligen Igeln unterscheidet. Mit Stolz habe ich dann meinen Igel der Lehrerin gezeigt, sie aber sagte nur, dass er sich ja nicht drehen könne, weil ich etwas falsch gebastelt hätte. Meine anderen Mühen wurden gar nicht wahrgenommen.
Frage: Hat sich deine Lehrerin denn bemüht, dir ein paar schöne Momente zu schenken?
Antwort:
Das Bemühen war da, einmal als Charlotte und ich ihre Hilfslehrerinnen sein durften. Mit der Zeit fand ich das dann aber auch nicht mehr gerecht, weil sie ja das Geld verdient hat und wir die Arbeit machen mussten. Dann dachte meine Lehrerin mir einen großen Gefallen damit zu tun, dass ich freitags die letzte Stunde der Klasse vorlesen durfte. Dazu wurde ein besonderer Stuhl vor die Klasse gestellt. Bald hab ich gemerkt, dass viele Klassenkameraden sehr neidisch darauf waren, was ich schon konnte, und habe der Lehrerin auch gesagt, dass ich das nicht mehr machen wollte. Daraufhin gab sie meiner Mutter zu verstehen, dass sie sich große Mühe mit mir gab, aber ich ja alles ablehnen würde.
Ein liebloser Versuch wurde gestartet, mich und zwei andere eine Klasse überspringen zu lassen: Also nach den Osterferien sollten wir gleich in die zweite Klasse gehen. Jeder von uns kam in eine eigene Klasse. Weder die Schüler noch die Lehrer schienen auf uns vorbereitet zu sein. Ich sollte mitmachen, wenn ich es wollte.
Nach zwei Wochen meinte die Lehrerin, wenn ich wollte, könne ich jetzt in dieser Klasse bleiben. Meine beiden Freundinnen hatten das gleiche Angebot bekommen, aber wir wollten uns nicht trennen. Darum sind wir dann wieder zurück in unsere alte Klasse gegangen. Aber für uns hat sich damit natürlich nichts verändert. Ich bekam nur dauernd Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, und oft war es mir morgens so übel, dass ich nicht in die Schule gehen konnte.
Frage: Wann hat sich für dich denn etwas geändert?
Antwort:
Das war, als ich dann endlich die Schule gewechselt habe und aufs Gymnasium gehen konnte.
Ava
Sie wurde als „Kannkind“ früh eingeschult, hat keine Klasse übersprungen und besucht mit 11 Jahren die 6. Klasse eines Gymnasiums.
Mit knapp fünf Jahren hat sie sich das Lesen beigebracht. Auch hatte sie damals schon ein Jahr lang Geigenunterricht und begann mit sechs Jahren Geige zu spielen. Ihre Muttersprache ist Schwedisch, und sie hat auch zweimal wöchentlich – auch schon während der Kindergartenzeit – eine schwedische Nachmittagsschule besucht.
Frage: Was waren damals bei deiner Einschulung in die Grundschule deine Erwartungen im Hinblick auf die Schule, wie war deine Motivation für Schule?
Antwort:
Ich dachte: Schule ist jetzt perfekt, es ist genau die richtige Zeit für mich. Ich weiß schon recht viel, kann ganz gut lesen und schreiben, vielleicht schon bis 100 rechnen. (Ich fühle mich gut ausgerüstet.) Alle Kinder in der Klasse sind ähnlich groß und haben das gleiche Alter. Ich habe gleich mein Bestes gegeben, denn ich wollte keine Fehler machen. Ich hab auch immer sehr gut aufgepasst und immer schön aufgezeigt. Fast alle Fragen waren so leicht zu beantworten, ich hätte sie mit vier Jahren schon gewusst. (Beate, du hast uns so viel beigebracht, aber nie gesagt, du musst warten – und ich meine wirklich warten: den ganzen Morgen, die ganze Woche, die ganzen Monate).
Frage: Wie motiviert bist du in die Schule gegangen?
Antwort:
Ich weiß noch genau, was in meinem Kopf vorging: Schule – jetzt ist alles perfekt. Es ist die richtige Zeit. Auf dem Pausenhof war es schön zu sehen, dass alle im gleichen Alter sind, alle die gleiche Größe hatten. Ich wusste schon vorher, dass Melden wichtig ist. Ich war aufgeregt auf den nächsten Tag. Der Klassenraum roch auch ganz anders als der Kindergarten. Selbst die Lehrerin roch ein bisschen nach Klassenzimmer und Kreide.
Schwierig war es für mich, nicht zu verstehen, dass ich nicht immer drankommen konnte, wenn ich aufzeigte. Ich habe mich immer gemeldet und wusste, ich kann nur zwei-, dreimal drankommen. Mein Arm hat mir wehgetan, aber ich dachte, das gehört zu Schule dazu und ich muss lernen das auszuhalten. Ich wusste schon viel über Schule, aber habe nicht gedacht, immer warten zu müssen – und ich meine wirklich immer.
Frage: Hast du manchmal etwas extra bekommen?
Antwort:
Meine Lehrerin hat mir bei Mathe während der Freiarbeit ein graues Heft in die Hand gegeben – ich fand es sehr lieblos gestaltet, und die Aufgaben darin waren viel zu einfach oder bestanden aus Wiederholungen. Schön wäre es gewesen, hätte ich mir selbst Aufgaben ausdenken können, die meinem Denken angemessen waren. In Deutsch durfte ich meine eigenen Geschichten schreiben und diese vortragen. Nur das Abschreiben war blöd und langweilig.
Mit mir haben noch zwei andere Kinder etwas Zusätzliches bekommen, aber erst ab der 2. Klasse. In der ersten Klasse hat die Lehrerin nicht genau gewusst, wie viel wir eigentlich konnten. Gut für mich war jedoch, dass ich mit Timothy viel zusammenarbeiten konnte, denn wir konnten uns austauschen, uns schwierigere Aufgaben stellen. Sonst wäre die Grundschulzeit schon sehr langweilig geworden.
Frage: Gab es eine große Enttäuschung für dich in den ersten Jahren?
Antwort:
Ja, während des Kunstunterrichts. Wir hatten die Aufgabe, eine Rose in rosa-roten Farbtönen zu malen. Ich kenne genau die Rosen aus unserem Garten und ich denke, sie war mir sehr gut gelungen. Die Lehrerin hat nur gesagt: „Ava, das sind schlechte Kontraste“ und hat mir mein Blatt zurückgegeben. Sie hat uns dann gezeigt, wie man richtige Rosen malt. „So müsst ihr das malen, wenn ihr eine gute Note haben möchtet!“ Aber meine Rose war für mich die richtige und ich habe sie nicht mehr verändert.
Hausaufgaben waren für mich unnötige Zeitverschwendung, und viel lieber hätte ich mich mit meinen Freunden verabredet. Musik hat mich wirklich genervt, denn nur die Lehrerin hat die Lieder ausgesucht. So Babylieder wie „Bruder Jakob“. Auch haben wir keine Noten gelernt. Vielleicht dachte auch die Lehrerin, wir seien noch zu klein und deswegen könnte sie uns nicht mehr zumuten. Aber man muss ja viel früher anfangen Noten zu lernen, damit man Lieder spielen und singen kann. Die 4. Klasse war die beste, weil da haben wir dann viele Projekte gemacht mit Theaterspielen und Musik. Auch haben wir dann Klassenfahrten gemacht. Aber seitdem ich auf dem Gymnasium bin, habe ich wirklich etwas gelernt: Latein und auch im Deutschen bin ich nochmal viel besser geworden.
Kevin
Kevin ist 9 Jahre alt, er wurde als „Kannkind“ früh eingeschult und ist jetzt in der 4. Klasse.
Er kam mit fast vier Jahren in unsere Einrichtung, nachdem er seinen ersten Kindergarten nicht mehr besuchen wollte. Fragen, die Kevin mir an seinem ersten Kindergartentag gestellt hat:
„Darf man eigentlich mit Kindern arbeiten, auch wenn man sie überhaupt nicht mag oder sie sogar hasst?“
„Weißt du vielleicht, welche Nationalität der liebe Gott hat?“
Frage von mir: Welche Erwartungen hattest du an die Schule?
Seine Antwort:
Ich habe mich im Vorfeld nicht so sehr auf Schule konzentriert, eher an so praktische Dinge gedacht, wie man sich meldet, was geschieht, wenn die Antwort nicht richtig ist, wann und warum man drangenommen wird, um etwas sagen zu dürfen; darf ich auch zur Toilette, wenn der Unterricht beginnt; usw.
Ich dachte mir, Schule ist wie Kindergarten, nur dass wir hier noch mehr Lesen und Rechnen lernen werden.
Frage: Wie war dein erster Schultag?
Antwort:
Mein erster Schultag war wirklich ein großes Problem für mich. Vor mir stand ein Junge, der eine „Wilde-Kerle-Schultüte“ trug – und ich hatte eine selbstgemachte mit einer Micky Maus darauf. Das war mir schrecklich peinlich und am liebsten hätte ich die Tüte schnell weggeworfen, aber meine Mutter hatte sich so große Mühe damit gegeben.
Frage: Was erinnerst du, wenn du an die ersten Schultage zurückdenkst?
Antwort:
Die Art und Weise, wie mein Lehrer mit Handpuppen unterrichtete, war schon sehr befremdlich für mich. Es war eine große Überraschung für mich, dass uns unser Lehrer eine Puppe vorgestellt hat, eine kleine Handpuppe, einen Teufel. Ich dachte, ach so, Schule ist ein Puppentheater.
Wenige Tage später lernten wir auch den Freund vom Teufel kennen, das war ein Krokodil. Mein Lehrer hat zu Beginn der Stunde immer eine dieser Puppen über seine Hand gezogen und ließ die Aufgabenstellungen den Teufel oder das Krokodil sagen. Das war erst befremdlich für mich, denn ich hätte lieber mit meinem Lehrer direkt geredet, aber die anderen Kinder mochten lieber mit den Puppen sprechen, und ich hab das dann einfach auch so gemacht. Später konnten wir auch Briefe an die Handpuppen schreiben, das fand ich ganz in Ordnung, das hat mir auch Spaß gemacht.
Dann mussten wir aber auch Zahlen schreiben, das nannte sich Mathematik-Unterricht. Ich war glücklich, jetzt konnte ich zeigen, was in mir steckt. Aber wir mussten ca. 100-mal die 1 schreiben, oder 100-mal das U schreiben. Und ich dachte, oh je wie altmodisch – so hat man sicher vor 100 Jahren unterrichtet, aber so alt war mein Lehrer noch gar nicht.
Auch beim Zahlenraum bis 20 sollten wir mit Lernhilfen arbeiten und die Schritte aufschreiben. Für mich war das aber überhaupt keine Hilfe, also ließ ich sie weg. Das Problem war jedoch, wenn ich ohne Lernhilfe die Ergebnisse einfach hinschrieb, musste ich – wie zur Strafe – weitere Aufgaben rechnen, das fand ich eher ungerecht.
Die Tage in der Schule wurden immer langweiliger, ich fühlte mich nur müde und erschöpft und meine Leistungen wurden immer schlechter.
Frage: Was war denn in der ersten Schulzeit für dich ein großes Problem?
Antwort:
Die Pausen im ersten halben Jahr. In der Erinnerung verbinde ich damit große Schmerzen. Keiner spielt mit mir, ich weiß aber nicht warum, kann auch keine Antworten oder Lösungen finden.
An dieser Stelle möchte ich meinem Lehrer dafür danken, dass er mir dabei geholfen hat, mich in eine passende Spielgruppe zu integrieren. In diesem Augenblick, wo ich zwei neue Freunde hatte, wurde in der Schule für mich alles nur noch gut. Die Tage, wo ich vorher so müde und gelangweilt, erschöpft war und nur schlechte Leistungen gebracht habe, wurden immer weniger. Lesen, Mathe, Sachkunde oder Religion habe ich immer gerne gemocht, wobei Religion schon interessant für mich ist, aber leider so unglaublich leicht.
Ich bin auch bei allen Fächern immer ganz Ohr. Ich lasse mich auch nicht von meinem Nachbarn verleiten unkonzentriert zu sein, was mir nicht leicht fällt. Heute lese ich pro Tag 120 Seiten, also in der Woche 600 Seiten. Denn so dick sind die Bücher, die mich interessieren.
Frage: Hattest du einmal das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein?
Antwort:
Ja, wir mussten in der 1. Klasse ein Herbstbild malen. Der Baum ist mir gut gelungen, nur die obere kahle Baumkrone ist mir etwas verrutscht. Wirklich, alle Kinder fanden mein Bild schön, und das gab mir auch Kraft, damit zu meiner Lehrerin zu gehen. Die schaute nur abfällig darüber und sagte, das Bild ist eine Vier.
Pauline
Sie ist beim Gespräch 13 Jahre alt, wurde als „Kannkind“ früh eingeschult, besucht jetzt die 10. Klasse eines Gymnasiums. Mitten im 1. Schuljahr ist sie in die 2. Klasse gesprungen.
Frage:
Was waren damals bei deiner Einschulung in die Grundschule deine Erwartungen im Hinblick auf die Schule, wie war deine Motivation für Schule?
Antwort:
Lernen ist für mich keine Frage des Alters. Ich war gerade sechs Jahre alt, hätte auch mit fünf Jahren in die Schule gewollt, weil alle meine Freunde schon eingeschult wurden. Ich wollte jetzt schon am ersten Schultag sofort alles wissen, was meine großen Geschwister schon längst konnten. Ich wollte früh bewertet werden, wollte wissen, von 1 bis 6, wie gut ich wirklich bin.
Ich konnte damals ja schon recht gut lesen und fast fehlerfrei schreiben und somit habe ich in den ersten Wochen alles als eher leicht und lustig empfunden. Es hat mich nicht wirklich belastet. Gut, langweilig war es schon, aber ich habe mir dann selbst Aufgaben gestellt: Habe die Mädchen nach Haarlängen unterschieden, die Jungen nach Haarfarben. Man kann daraus auch Rechenaufgaben machen, und das fand ich spannend. Selbst meine Zähne mit der Zunge abzuzählen und auszurechnen, wie viele Zähne an unserem Vierertisch sind, war eine lustige Rechenaufgabe.
Nach den Herbstferien kamen fünf Kinder aus drei Klassen zusammen und bekamen bei unserer Direktorin Förderunterricht, drei Stunden die Woche. Wir wurden so behutsam auf den Wissensstand der 2. Klasse gebracht, wohin meine Freundin und ich ab dem neuen Jahr (Januar) wechseln durften. Erst hier habe ich gemerkt, welch eine Unterforderung die 1. Klasse für mich gewesen war.
Frage: Erinnerst du dich noch an deinen ersten Schultag, an deine Klassenlehrerin, an Klassenkameraden?
Antwort:
Ich wollte nicht zu der Lehrerin, die wir letztendlich bekommen haben. Sie hatte eine große Wutfalte zwischen den Augen, eine schlechte Ausstrahlung und wir wurden angemotzt wegen Kleinigkeiten. Zum Beispiel waren meine Blätter schlecht eingelocht, wirkten für sie wie ausgerissen und darum musste ich für sie einige neu machen. Das fand ich sehr ungerecht. Ich konnte damals schon recht gut lesen und schreiben und habe alles sehr leicht gefunden. Den Wochenplan hab ich gleich am ersten Tag schnell erledigt, sogar mit Zusatzaufgaben, damit ich genügend Zeit hatte mit meiner Freundin zu spielen, die auch heute noch mit mir die Klassenbeste ist. Wir konnten uns dann früh zum Spielen verabreden. Und auch in der Schule während der Freiarbeit waren wir viel zusammen.
Ich glaube, dass wir nach dem Klassenspringen schnell auch zu einem Teil der neuen Klasse geworden sind, weil uns die Rektorin gut vorbereitet hatte. Der Anfang in der neuen Klasse war etwas schwierig, aber es hat mir sehr viel Spaß gemacht, jetzt richtig gefordert zu werden. Denn erst hier habe ich gemerkt, dass die ersten vier Monate in der Schule eine große Unterforderung für mich gewesen waren.
Auch jetzt in der zehnten Klasse gehören meine Freundin und ich zu den Besten.
Frage: Siehst du denn auch Nachteile in deiner schulischen Karriere bisher?
Antwort:
Der einzige Nachteil ist mein Alter und darin erkenne ich auch durchaus ein Problem. Meine Freundinnen werden Ende des Jahre 16, aber mit meinen dann 14 Jahren darf ich zum Beispiel nicht in die Disco oder in Filme ab 16, ich darf auch noch nicht den Rollerführerschein machen. Obwohl ich mich emotional reifer empfinde als so manche 16-Jährige. Die Jungs sind zwar alle älter als ich, aber teilweise eine Klasse unter mir. Das ist schon verwirrend und oft problematisch. Mein Fazit daraus ist, dass ich mich nur für einen viel älteren Jungen interessieren kann, weil der dann auf meinem intellektuellen und emotionalen Niveau ist.
Datum der Veröffentlichung: Dezember 2011
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