von Klaudia Kruszynski
In unserem Kindergarten lief ein längeres Projekt zum Thema: Kunst. Gleichzeitig waren die Kinder und ich noch mit unserem sehr umfangreichen Projekt: Zeit beschäftigt. Im folgenden Projekt kam Beides gut zusammen.
Die Turnhalle war für das Kunst-Projekt zu einem großen Atelier umgewandelt worden; dort konnten die Kinder verschiedene Gestaltungs-Techniken ausprobieren. Eine Kollegin betreute die Kinder – sie zeigte, wie man mit Farben, Pinseln, Kreiden und anderen Materialien umgeht. Sie kümmerte sich um die richtige Arbeits-Atmosphäre. Dieses Angebot war für alle Gruppen verfügbar: Aus jeder Gruppe durften bis zu vier Kinder gleichzeitig ins Atelier gehen.
Gleichzeitig liefen auch Projekte in den einzelnen Gruppen.
In meiner Gruppe beschäftigten wir uns zuerst mit dem menschlichen Körper als einem Ausdrucksmittel für verschiedene Gefühle. Die Kinder zeigten pantomimisch Aktivitäten aus dem täglichen Leben.
Als ein Kind von einem Museum mit Wachsfiguren erzählte, beschlossen wir, auch Skulpturen zu erschaffen. Dazu benutzten wir unsere Körper, Licht und einen Fotoapparat. Auf diese Weise sind Skulpturen aus Schatten entstanden, die eigentlich Fotos von den Kinderschatten waren.
Ständig überlegte ich derweil, wie bei diesem Projekt das Thema „Die Zeit“ einfließen könnte. Und so träumte ich in einer Nacht von einem Bild, das ich schon als Kind in einem Buch gesehen hatte. Es waren Uhren drauf, die „hängen“.
Ich fand heraus, dass Salvador Dalí es gemalt hat. Wir haben es im Internet gefunden und auf einem Din A4-Blatt ausgedruckt. Das Bild heißt: „Die Beständigkeit der Erinnerung“, ist aber auch unter den Titeln: „Die weichen Uhren“ oder „Die zerrinnende Zeit“ bekannt.
So habe ich beschlossen, mit den Kindern die Natur der Zeit von der philosophischen Seite her zu erforschen und gleichzeitig unser eigenes Bild zu erschaffen.
… kurz gefasst …
Die Autorin verbindet zwei bereits begonnene Projekte: „Kunst“ und „Zeit“. Sie arbeitet mit den Kindern ein Bild von Salvador Dalí nach und führt die Kinder zu einem tieferen Verständnis des Begriffes „Zeit“.
Ein anspruchsvolles Projekt, das auch hoch begabten Kindern genügend Herausforderung bietet.
An einem Morgen breitete ich im Stuhlkreis auf dem Boden ein rotes Tuch aus. Die Kinder waren gespannt und warteten leise auf das, was passieren sollte. Vom CD-Spieler lief „Time“ von Pink Floyd – am Anfang hört man Geräusche, die mehrere Uhren auf einmal machen: Ticken, Schlagen, Läuten. Aus einer silbernen Dose holte ich verschiedene Uhren heraus und legte sie auf das Tuch. Es waren Armbanduhren und Wecker, manche gingen, manche nicht.
Die Kinder erforschten die Uhren, hielten sie ans Ohr und lauschten, probierten den Wecker aus. Sie zählten alle Uhren durch. Sie wussten, dass die Uhren zum Zeitmessen da sind.
Nach einer Weile habe ich die Kinder gefragt, wie sich die Uhren anfühlten. „Sie sind hart“.
„Wieso?“
„Weil sie aus Metall sind“.
Dann wagte ich die nächste, gleichzeitig schwierigere Frage: „Wie fühlt sich die Zeit an?“
Die Kinder wussten keine Antwort. Ich habe die Frage wiederholt und gewartet. Dann sagte Jan, dass die Zeit weich ist.
„Wieso?“
„Weil sie sich bewegt“.
„Kann man die Zeit genauso wie die Uhr in die Hand nehmen?“
„Nein!“, meinten mehrere Kinder.
„Wieso?“
„Das geht nicht.“
„Die Zeit läuft immer so:“, sagte Jan und machte mit der Hand mehrere Kreisbewegungen.
Dann erzählte ich den Kindern von einem Künstler, der sich auch Gedanken über die Zeit gemacht hat. Er hat genauso wie die Kinder gesagt, dass die Zeit weich ist und überlegte sich, wie er das auf einem Bild malen kann. Ich zeigte das Bild und erzählte etwas zu seiner Entstehung.
Salvador Dalí machte mit seinen Freunden Urlaub in einer schönen Gegend, die er auf ein Bild malte. Bei einem Abendessen gab es gebackenen Camembert. Als das Essen vorbei war, blieb der Künstler noch am Tisch und machte sich Gedanken über das Zerrinnen der Zeit, über ihre Weichheit, dann ging er in sein Atelier, sah sein angefangenes Bild mit der Landschaft und malte die weichen Uhren darauf.
Die Kinder hörten dieser Erzählung zu, und gleichzeitig betrachteten sie das Bild.
„Was ist weich auf diesem Bild?“
„Die Uhren.“
„Was ist hart?“
„Die Berge, der Tisch.“
Dann entdeckte Jan den Baum und sagte, dass der Baum jetzt „tot“ ist, aber wenn der Frühling kommt, dann wachsen neue Blätter drauf und dann ist der Baum „nicht mehr tot“.
So erkannte er den Unterschied zwischen den leblosen, harten Bergen und dem augenblicklich scheintoten Baum: die Zeit wird den Baum wieder lebendig (weich in der Zeit) machen, aber die Felsen bleiben immer tot (hart in der Zeit).
„Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?“ wollte ich wissen.
„Weil auf dem Ast eine Uhr wie ein Pfannekuchen hängt, und wenn sie tickt, kommt der Frühling und neue Blätter werden wachsen.“
„Das ist interessant“, sagte ich und fragte, ob wir auch so ein Bild malen sollten.
Alle Kinder wollten es, deshalb sagte ich, dass wir schon am Nachmittag damit anfangen werden.
Wie können wir unser Bild gestalten?
Nun machte ich mir Gedanken, wie ich das Ganze gestalterisch umsetzen könnte. Dabei war mir wichtig, dass die Kinder ein Gemeinschaftswerk erschaffen, dass die Kinder ihre unterschiedlichen Begabungen und Interessen zum Einsatz bringen, und natürlich, dass wir einen Erfolg haben werden und ein schönes Bild kreieren. Ich probierte ein paar Maltechniken aus, darunter „Nass in Nass“, aber die Ergebnisse waren nicht gut.
Wie kann man die Weichheit der Uhren darstellen?
Ich wollte nicht, dass die Kinder das Bild einfach nur nachmalen. Dann erinnerte ich mich an den „Pfannekuchen“ und nahm es in Betracht, wirklich Pfannekuchen zu backen und sie auf dem Bild zu platzieren. Der Gedanke, dass sie schon nach paar Tagen verschimmeln würden, hielt mich davon ab.
Aber Knete wird nicht schlecht. Ich kaufte Fimo-Knete in zwei Farben – daraus lassen sich gute, haltbare, weiche Uhren machen.
So wurde unser Bild dreidimensional. Ein großer Karton wurde zuerst mit weißem Papier ausgekleidet, dann wurde im Inneren die Landschaft nachgemalt: die Berge, der Himmel und die dunkle Ebene. Ein kleinerer Schuhkarton wurde braun angemalt und seitlich im Bild befestigt. Wir steckten einen Ast hinein. Das nicht-eindeutige Gebilde in der Mitte des echten Kunstwerkes machten wir aus zusammengeknülltem Papier und befestigten es ebenso im Inneren.
Am nächsten Tag machten die Kinder die Uhren und hängten sie ins Bild rein.
So, wie es von mir geplant war, beteiligten sich mehrere Kinder an diesem Projekt.
Aaron, 4;5 Jahre alt
Er malt sehr gerne und zeigt sehr viel Ausdauer bei dieser Tätigkeit. Man kann ihm seine große Freude am Malen in der ganzen Körperhaltung ansehen.
Leo, 5 Jahre alt
Normalerweise hält er sich im Hintergrund, aber als er gesehen hat, dass wir aus Fimo die Uhren machen wollten, meldete er sich und bestand drauf, dabei sein zu dürfen. Ich bin sehr überrascht gewesen, dass er so stark motiviert war. Er hat eine Uhr gemacht und zeigte dabei sehr viel Fingerfertigkeit und Ausdauer.
Linea, 5;6 Jahre alt
Sie glänzte mit ihrer Begeisterung fürs Gestalten.
Sven, 4;4 Jahre alt
Er erkannte dieses Angebot als etwas, was für ihn wichtig war. Er beteiligte sich an allen Aktivitäten, die mit diesem Kunstprojekt verbunden waren. Er bemalte das Innere des Kartons, mischte die Farben. Danach knetete er aus Fimo eine Uhr. Es war ihm sehr wichtig, dass Alles genau gemacht wurde. Deswegen nahm er eine Uhr mit beweglichen Zeigern, und jedes Mal stellte er die Uhr auf die nächste Stunde, bevor er mit dem Legen der Stundenzahl anfing. Er zeigte eine gute Fingerfertigkeit, und natürlich hat er bewiesen, dass er die Zahlen schon richtig lesen kann.
Ich kann noch nicht sagen, wie begabt er ist. Das, was mich bei Sven fasziniert, sind die Begeisterung und Freude an außergewöhnlichen Angeboten. Er ist mit seinem ganzen Wesen daran beteiligt und kann sich dabei sehr lange konzentrieren. Er hat auch schon ziemlich viel Wissen über verschiedene Sachen und teilt es uns sehr oft mit.
Jan, 5;3 Jahre alt
Er ist ein kleiner Denker. Man kann erkennen, dass er sich schon viele Gedanken zu verschiedenen Sachen gemacht hat – seine Erkenntnisse teilt er uns mit.
Im Gegensatz zu den meisten Kindern, die die Fragen direkt aus ihrem gespeicherten Wissen beantworten (entweder haben sie die richtige Antwort schon irgendwann gespeichert oder noch nicht) ist Jan in der Lage, sich die Antwort zu überlegen.
Bei neuen Problemen benutzt er Analogie und Vergleich, oder aber er gibt eine beliebige Antwort und verifiziert sie. Das bereitet ihm besonders viel Spaß. Auf eine Weise kann er auch erkennen, worum es seinem Gesprächspartner geht, und aus diesem Grund gibt er oft die gewünschte Antwort. Er zeigt Empathie gegenüber den Anderen, kann erkennen, wenn er jemanden verletzt hat oder eine Grenze überschritten hat, und dafür kann er sich von sich selbst aus entschuldigen.
Die Umsetzung eigener Ideen ist ihm nicht so wichtig, oft beendet er die Aufgabe gar nicht. Bei der Darstellung der Uhr legte er wenig Wert auf die Genauigkeit – seine Uhr war ein Kreis mit zwei Zeigern.
Andere Kinder
Immer wieder beteiligten sich auch andere Kinder an diesem Angebot. Im Stuhlkreis erlebte die ganze Gruppe eine wunderschöne Meditation mit der Musik einer Rockband, die mich schon in meiner Jugend begeisterte. Mehrere Sinne wurden dabei angesprochen: Hören, Sehen, Fühlen.
Die Kinder konnten es selbst prüfen, dass die Uhr und die Zeit zwei verschiedene Dinge sind: die erste ist konkret, man kann sie in die Hand nehmen, sie verstellen, ans Ohr halten und lauschen; die zweite, obwohl jeder weiß, dass es die Zeit gibt, lässt sich nicht in die Hand nehmen, man erkennt sie indirekt, zum Beispiel durch Veränderung, Ticken, Wachsen, Älterwerden.
Die Uhr ist hart und fest, die Zeit ist weich und veränderbar.
Man kann auf der Uhr die Zeit vergehen sehen – die Zeiger bewegen sich.
Auch manche Sachen verändern sich mit der Zeit, zum Beispiel ein lebloser Ast wird im Frühling wieder lebendig, der Fels bleibt immer leblos.
Wenn man eine weiche Uhr macht, kann man dadurch die Zeit darstellen. Die weiche Uhr ist das Leben.
So konnten die anderen Kinder die Gedanken des berühmten Künstlers nachvollziehen.
Meistens waren die Anderen nur als Beobachter dabei, sie zeigten sehr viel Interesse daran, was Sven, Aaron oder Jan machten.
Unser Kunstwerk wurde mehrere Tage von den Eltern bewundert, die Kinder erklärten, wie das mit der Zeit gemeint ist.
Die beteiligten Kinder haben sich als Künstler wahrgenommen, sie waren stolz darauf, etwas Schönes erschaffen zu haben.
Das hat sich wieder auf die Einstellung zum Malen ausgewirkt, so war es bei Sven, der sehr selten an den Maltisch geht, weil er das, was er malen will, noch nicht zufrieden stellend umsetzen kann.
In dieser Zeit lernte er viele Maltechniken, die keine ausgereifte Fingerfertigkeit benötigen, sondern mit Freude am Experimentieren, Fantasie, Mut und Zufall zu tun haben.
Er hat Vertrauen in seine eigene schöpferische Kraft gewonnen. Ähnlich war es bei den anderen Kindern.
Projekte sollen gemeinschaftlich und ganzheitlich sein
Mehrere geben etwas von sich, und aus den Teilen entsteht etwas, was Alle verbindet und Allen gehört . Bei meinen Projekten lege ich immer sehr viel Wert darauf.
Aber es geht dabei noch um viel mehr: mehrere Bereiche der kindlichen Entwicklung werden einbezogen, von den einfachsten Sinnes-Erfahrungen und der Wahrnehmungsschulung bis zum Philosophieren und kreativen Denken.
Das verstehe ich unter ganzheitlichem Lernen.
In diesem Projekt waren beteiligt:
- die akustische Wahrnehmung:
Geräusche, die Uhren machen; Musik hören; die Geräusche der Uhr künstlerisch interpretieren; den Rhythmus erkennen, selber rhythmische Geräusche produzieren; - die visuelle Wahrnehmung:
das unterschiedliche Aussehen verschiedener Uhren; Betrachten eines Kunstwerkes – Erkennen der Bestandteile, Formen und Farben; Wahrnehmung eines momentanen Zustandes und langzeitige Beobachtung einer Veränderung (zum Beispiel des Wanderns der Uhrzeiger); Erkennen verschiedener Geschwindigkeiten; - die taktile Wahrnehmung:
Befühlen verschiedener Materialien, woraus die Uhren gemacht worden sind; Befühlen und Bearbeiten einer Knetmasse; Formen der Zeiger und Zahlen mit den Fingern; Erkennen der Unterschiede der Festigkeit; - kognitive Bestandteile:
Zahlen und Zählen; Wissen über die Zeit, über die Uhren, über den Künstler aneignen; Probleme erkennen und Lösungen suchen; philosophieren; Verstehen und Benutzen künstlerischer Ausdrucksweisen / Metaphern.
In all diesen Bereichen sind auch kreative Anteile vorhanden: etwas mit den Händen erschaffen und neue Ideen, Gedanken produzieren.
Was mir noch klarer geworden ist
- Jedes Thema eignet sich, um die verschiedenen Begabungsarten der Kinder zu erkennen und zu fördern.
- Zu jedem Thema kann man verschiedene Angebote durchführen, die mehrere Bereiche der kindlichen Entwicklung ansprechen.
- Das Ansprechen mehrerer Sinne stärkt die Aufmerksamkeit, verlängert die Konzentrationsdauer und erschafft eine besondere Atmosphäre, die die Motivation begünstigt.
- Durch Einbeziehen individueller Begabungen und Stärken wird die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gruppe gestärkt.
- Die Gruppe profitiert von Begabungen der Einzelnen, bekommt Anreize und die Entwicklung wird stimuliert.
- Einfache Techniken im gestalterischen Bereich ermöglichen Erfolg, besonders bei den Kindern, die im feinmotorischen Bereich noch nicht so weit entwickelt sind.
- Meine Begeisterung für dieses Thema wurde von den Kindern nachvollzogen und der Funke konnte auch auf sie überspringen.
In dem Beitrag Mathematische Begabungsförderung im Kindergarten habe ich untersucht, welche mathematischen Inhalte (für hoch begabte / für nicht hoch begabte Kinder) in diesem Projekt enthalten sind.
Datum der Veröffentlichung: Juni 2012
Copyright © Klaudia Kruszynski, siehe Impressum.