von Beate Kroeger-Müller
(Vortrag beim 5. IHVO-FachTag, September 2012)
Seit über einem Vierteljahrhundert leite ich die Elterninitiative 73 e.V. in Bonn-Beuel, einen eingruppigen Kindergarten mit 23 Kindern im Alter von drei Jahren bis zum Schulbeginn. Unser Kindergarten ist für 35 Stunden in der Woche geöffnet. Im nächsten Jahr feiern wir 40-jähriges Bestehen.
Aus der Studentenbewegung entstanden, galt diese Einrichtung schon von je her als eine eher intellektuelle und anspruchsvollere, was die Bildungsarbeit angeht. Seit 2006 sind wir vom IHVO als „Integrativer Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung“ zertifiziert und 2009 haben wir von der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind das „Labyrinthchen“ verliehen bekommen.
(Alle Fotos können Sie durch Anklicken vergrößern und mit dem Rückbutton an Ihrem Computer wieder in den Originalzustand zurücksetzen. Es lohnt sich.)
… kurz gefasst …
Die Autorin hält ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, wirkliche Erlebnisse der Kinder zur Grundlage ihrer Bildung zu machen. Für den Kindergarten heißt das, spannende Projekte und Erlebnisse zuzulassen, zu unterstützen und zu organisieren.
Mittlerweile eilt uns unser Ruf voraus, so dass sich Eltern von weit entwickelten Kindern bei uns gezielt um einen Platz bewerben. Im Durchschnitt sind etwa Zweidrittel unserer Kinder altersunüblich weit entwickelt. Aktuell betrifft dass 15 von 23 Kindern, davon sind vier Kinder getestet oder vermutet hoch begabt.
Wenn es um die Frage geht, warum gerade in unserer Einrichtung so viel mehr mit Kindern möglich ist, liegt dies in erster Linie an den vielen klugen Eltern mit klugen Kindern.
Wir begegnen Eltern, die sich in der Lage sehen,
- ihre Kinder ernst zu nehmen und offen für ihre Belange zu sein,
- in einer guten Bindungsbeziehung zu ihren Kindern zu stehen,
- als Familie zusammen zu halten (wir haben kaum Trennungseltern),
- auf der Grundlage einer guten Ausbildung einen Beruf auszufüllen,
- die Verantwortung für ihr Elternsein und ihre Erziehungsaufgabe voll zu übernehmen.
Somit betreten jedes Jahr etliche selbstständige kleine Persönlichkeiten, die emotional gefestigt sind, mit drei Jahren unsere Einrichtung.
Das beschert uns natürlich besondere und erfreuliche, man könnte auch sagen elitäre Arbeitsbedingungen, die so in anderen Kitas nicht zu finden sind. Wir sind uns dessen bewusst, sind froh darüber und bauen unsere Bildungsarbeit darauf auf.
Das heißt: Wir setzen an den positiven Ersterfahrungen und an der oft weiten geistigen Entwicklung der Kinder an.
Und vor diesem Hintergrund ist auch mein Vortrag zu verstehen, der davon handelt, wie es uns gelingt, eine gelungene Hochbegabtenintegration zu leben.
Vielleicht ist dafür auch die Tatsache nicht zu unterschätzen, dass ich als nicht freigestellte Leiterin
– immer noch ein Fan von Kindern bin – und das, solange ich denken kann;
– dass ich auch immer noch in meine Arbeit verliebt bin – mit dem kleinen Team und den engagierten Eltern;
– dass ich die Kinder einfach großartig finde, weil sie so sind, wie sie sind: Rein und offen, ohne Argwohn, wunderbar ehrlich und naiv, so dass man so viel mit und in ihnen bewegen kann;
– dass ich ihre Geistesgegenwart, ihre Kreativität, die heitere Geschäftigkeit, ihren Ideenreichtum und die Freude am Miteinander liebe.
Freiheit haben und Freiheit lassen
Die Freude in der Arbeit mit dem Kind ist etwas so Wesentliches, was uns hier in diesem Raum miteinander verbindet. Wir lieben sie doch alle, die kleinen Forscher, Erfinder, Sammler, Künstler, Schauspieler; es macht Freude, sie zu beobachten und anzuregen.
Das kindliche Potenzial, was in ihnen steckt, zu entdecken und zu fördern, das sollte ein wesentlicher Teil in unserer alltäglichen Arbeit sein.
Wir lassen ihnen den freien Zugang ins Außengelände, die freie Wahl der Räume; wir geben ihnen Schreib- und Rechenecken, Werkbänke, Leinwände, Experimentiermaterial.
Wir Pädagogen haben die wunderbare Freiheit, das Kind nicht in ein Korsett aus Angepasstheit, Gleichmacherei, Langeweile und ewigen Wiederholungen zu pressen. Wir müssen nicht nur für ein breites Mittelmaß sorgen, wir können individuell fördern und fordern.
Wir verlangen auch nicht Dinge von ihm, die es im Augenblick gar nicht interessieren oder zu denen es keinerlei Neigungen zeigt.
Auf der Suche nach Wissen
In unserem Kindergarten bemühen wir uns, das vorhandene Sachwissen und die Interessen des einzelnen Kindes gezielt zu nutzen. Aber dazu müssen wir oft selbst wie Detektive auf Spurensuche gehen und gut zuhören, um die Interessen jedes einzelnen Kindes heraus zu finden. Sei es das Wissen
– des hartnäckigen kleinen Mediziners, der den Körper und seine Funktionen genau kennt,
– der fünfjährigen Geologin, die sich wie kein anderes Kind mit Mineralien auskennt,
– des Saurier- und Schachexperten,
– der Naturwissenschaftler und Biologen, die im Kindergarten oder außerhalb des Kindergartens Augen und Ohren aufmerksam geöffnet halten.
Genauso können sich auch die Experten für Baufahrzeuge, für die alten Römer oder Griechen, für Seeräuberschlachten und Ritterkunde einbringen.
Zeit zum Zuhören und miteinander Sprechen
Aus meiner Erfahrung kann ich nur sagen:
Wenn Kinder aus sich heraus ein Thema anstoßen, dann wird auch häufig das Interesse einer Kleingruppe erweckt und es entstehen wundersame Projekte, die in der Gruppe tage- oder auch wochenlang mit erwachsener Unterstützung verfolgt werden.
Nach den Ferien, zum Beispiel, bietet es sich geradezu an, die Kinder erzählen zu lassen. Wir bitten sie, aus dem Urlaub Schätze mitzubringen. Und dann sehen wir: Postkarten, Fotos, Lavasteine, getrocknete Seeigel, Seesterne, Muscheln, Sand, Bimsstein, Federn, usw.
Das Interesse entsteht und vertieft sich durch Mitbringen, Mitgestalten, durch Erzählen können von fremden Städten, Landschaften, Ländern, Kontinenten. So entsteht ein Gefühl für den großen Erdraum. Durch das Sammeln von Erfahrungen und Erzählungen kann dann das Kind versuchen, sein Weltbild zu ordnen, kann ein Verständnis für Stadt, Land, Fluss entwickeln.
Wenn ich täglich nur etwa 15 Minuten über einige Wochen damit arbeite, habe ich ein Sachkundewissen vom Feinsten. Wissen entsteht nicht nur durch Modelle und Schemata, durch Dias und Bücher, die ich im Stuhlkreis vortrage.
Denn erst wenn wir etwas auch mit den Sinnen und dem Gefühl wirklich verstanden haben, können wir wirklich etwas lernen. Sei es der Seeigel im Mittelmeer, auf den Fiona getreten ist und der sie nun nachhaltig von Schmerz und Erholung berichten lässt.
Ich bin einfach nur glücklich, wenn ich so geballtes Weltwissen vor mir habe. „Du siehst aus wie die Medusa,“ belächelt beim Schwimmen Fine ihre auftauchende Freundin. Wir erfahren später von den Irrfahrten des Odysseus, lernen über Fine weitere Wesen der griechischen Mythologie kennen, hören von Circe, den Sirenen und dem Zyklopen.
Ich bin der Meinung, dass man den Kindern bei solchen Erzählungen einen Spielraum lassen und ihnen nicht zu viel an Berichtigungen und Erklärungen geben sollte. Sie trauen sich sonst vielleicht nicht mehr weiter zu erzählen, weiter zu forschen – und fragen zu viel bei dem Erwachsenen nach.
Es geht uns nicht darum, einfaches Faktenwissen zu pauken und es zu wiederholen, sondern eine Grundhaltung des Tuns aufzubauen:
– Sich zutrauen, Wissen weiter zu geben und Konzentrationsbereitschaft zeigen,
– die Neugierde der Zuhörenden zu unterstützen und
– das Bedürfnis zu erwecken, mit anderen Kindern zu kommunizieren.
Natürlich erwarten wir auch den Respekt und die Anerkennung von den Zuhörern.
„Mein Hirn liebt es sehr, wenn es nachdenkt und Probleme lösen darf, denn dafür ist es ja auch gemacht“, gab mir vor einiger Zeit eine Vierjährige zu verstehen.
Wie viel reale und wie viel künstliche Welt ist für das Kindergartenkind gut?
Offensichtlich kann das Kind aus „künstlichen“ Quellen, beispielsweise über das Leben der Maus, viel erfahren. Die Maus wird aus Papier gebastelt und gemalt, als Stofftier mitgebracht, aus Ton hergestellt, Sachbücher oder Bilderbuchgeschichten zum Thema angeschaut, Arbeitsblätter erarbeitet, ein Poster aufgehängt, und am Ende des vierwöchigen Mäuseprojektes ein Mäusefest gefeiert.
Aber was ist das alles gegen
– das reale Entdecken der Mäuselöcher oder sogar das Entdecken der ganzen Mäusefamilie?
– die Gelegenheit, die Mäuse stillsitzend und lauernd zu beobachten, sie über die Wochen hin anzufüttern, mit Brot und Obstresten, verbrannten Grillwürstchen und Stockbrot?
– das Austesten – später, wenn sie dann fast handzahm sind -, was diese Mäusefamilie am liebsten mag: Mais? Apfelstückchen? Oder eventuell ein Marshmallow?
Wundervolle Erlebnisse.
Ähnliche Beobachtungen machen wir über Wochen hin bei den Meiseneltern, die im Kindergarten unaufhörlich in den toten Baumstamm fliegen und ihre nimmersatten Jungvögel füttern. Mit Sanduhren und Stoppuhren werden die Fütterungszeiten gemessen und dann aufgeschrieben.
All das ist für Kinder mit realen Lernereignissen verbunden; und wunderschön ist, diese Lernereignisse in der Gemeinschaft zu erleben.
Solche unvergesslichen, mit allen Sinnen wahrgenommenen Erlebnisse überdauern unter Umständen Jahrzehnte der Erinnerung. Es sind alltägliche Sternstunden, in denen sich nebenher, fast absichtslos, ihr Wissen vermehrt.
Wir sehen unsere Aufgabe darin, Nischen zu schaffen, ob drinnen oder draußen, die dieses lebendige und vielfältige Erleben und Erfahren möglich werden lassen.
Begreifen heißt für mich, dass Kinder aus der wirklichen Welt – der Welt der Wirklichkeit – ihre persönlichen Eindrücke bekommen, um ihre ganz eigenen Erfahrungen und Urteile zu gewinnen.
Bei uns lernen die Kinder vieles im praktischen Tun. Sie können vieles ausgiebig üben, zum Beispiel das Fahrradfahren, Schwimmen, Klettern, den Salto auf dem Trampolin, das Schachspiel oder Lesen. Genauso erlernen sie die Handhabung einer Digitalkamera, um damit auf Fotojagd zu gehen und anschließend am Computer an den Fotos weiterzuarbeiten.
Sie lernen auch vieles möglichst direkt an der Quelle: sei es aus dem Arbeitsleben von Handwerkern, dem Schmied, dem Klavier- oder Geigenbauer, von Künstlern und Musikern.
Das Kindergartenleben muss spannend sein
Lassen wir die Kinder zu Forschern, Erfindern, Sammlern werden, denn je mehr sie von der Welt wissen und erfahren, umso interessanter wird das Leben für sie. Lasst uns Achtung haben vor der Arbeit der Kinder, denn durch die Arbeit lernen sie die Dinge von innen verstehen und wertschätzen.
Machen wir Ausstellungen von ihren Bildern und selbstgeschossenen Fotos, bauen wir sprechende Wände, laden wir zu Musikfesten ein…
Denn erst wenn Kinder wirklich wissen, was alles in ihnen steckt, wo ihre Möglichkeiten und Stärken liegen, dann können sie auch mit ihren Schwächen – und auch den Stärken der anderen Kinder – umgehen lernen.
Machen wir es Tag für Tag für unsere Kinder so spannend und attraktiv, dass vielleicht auch Pinocchio sich heute nach über 100 Jahren für unseren Kindergarten entscheiden würde – und nicht lieber alleine mit seiner sprechenden Grille unterwegs wäre, um mit ihr Schmetterlinge zu fangen.
Datum der Veröffentlichung: November 2012
Copyright © Beate Kroeger-Müller, siehe Impressum.