von Hanna Vock

 

Ein fünfjähriges Mädchen, das noch nicht in die Schule geht, aber bereits fließend liest, fängt an, sich das Schreiben selbst beizubringen.
Sie verwendet ihre Schreibfähigkeiten zu ganz unterschiedlichen Zwecken.
An Hand von sechs Dokumenten aus der Produktion des Kindes wird der Lernprozess sichtbar. Das Kind hatte alleine die Ideen und hat sie alleine umgesetzt.
Später ergab ein Test eine Hochbegabung.

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1. Die Glückwunschkarte

Das Mädchen ist 5;11 und beglückwünscht seine Eltern zum Hochzeitstag. Sie hat ein Usambaraveilchen gepresst und aufgeklebt.

Sie schreibt im Zweifelsfall nach dem Gehör.
Das geht manchmal gut, zum Beispiel bei „BEIDE“, manchmal führt es aber auch zu Fehlern, wie bei „SEIT“ statt „SEID“ und „JETS“ statt „JETZT“.
Durch das frühe und heftige Lesen weiß sie aber auch schon etliche Wörter richtig zu schreiben, deren Schreibweise man nicht genau hören kann – zum Beispiel „IHR“ und „LIEB“.
Und sie hat sich offenbar schon gemerkt, dass die Vorsilbe „ver“ mit v geschrieben wird.

 

 

2. Der Grundriss

Diesmal hat sich das Mädchen (5;11) etwas anderes vorgenommen: Sie zeichnet einen Grundriss der Wohnung. Die Zuordnung der Zimmer, die Wege und Richtungen sind fast richtig getroffen. Nur das Zimmer der Eltern wurde vergessen.

Kleinbuchstaben kann sie noch nicht schreiben. Es erscheint ihr offenbar (noch) nicht nötig, Kleinbuchstaben zu erlernen, denn die Großbuchstaben reichen für ihre Zwecke (noch) aus.
Das ist ein Hinweis darauf, dass es ihr nicht darauf ankommt, perfekt zu schreiben, sondern dass sie von Anfang an die Schrift benutzen will, um ihre Ideen auszudrücken.
Die Motivation zum Schreiben-Üben entsteht aus der Lust an der geistigen Tätigkeit, ist also intrinsisch.

3. Die Einladung zum 6. Geburtstag

Da beide Eltern berufstätig waren und auch die ältere Schwester viel unterwegs war, wurden viele Benachrichtigungs- und Grußzettel geschrieben und auf den Esstisch gelegt. Die Kleine (5;11) war sehr darauf aus, sich in diese Praxis einzuklinken.
Dies ist einer der ersten Zettel, den die anderen Familienmitglieder vorfanden:

Hier wurde schon der Bindestrich verwendet, mit dem man ein Wort trennen kann, damit es in einen vorgegebenen Rahmen (das Herz) passt.
Er wurde gebraucht, also kam er dem viel lesenden Mädchen in den Sinn. (Bestes learning by doing.)

Das ß war zwar schon in Gebrauch (siehe oben: Eßecke), aber bei „GRUS“ nicht herausgehört.

 

 

 

4. Die Geschichte

Mit 6;1 schreibt das Mädchen im Kindergarten eine selbst ausgedachte Geschichte. Sie tut es heimlich („Die anderen waren alle draußen“) und schmuggelt die Kärtchen mit der Geschichte auch heimlich in der Brotdose aus dem Kindergarten heraus.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Beherrschung der Rechtschreibung ist noch lückenhaft, die Buchstaben sind nicht besonders korrekt geschrieben, aber: Das Kind hat die Möglichkeit und den Mut, sich mit Hilfe der Schrift kreativ auszudrücken.
Und das ist das Wichtigste.
Neue Elemente, die seit der Einladung hinzu gekommen sind: Durchstreichen, Unterstreichen, Ausrufezeichen, (was für die Dramatik der Geschichte gebraucht wird).

 

5. Der Brief

Das Mädchen war nun 6;4 und immer noch nicht in der Schule. (Sie konnte dann drei Wochen nach der Einschulung von der 1. in die 2. Klasse springen.)

Sie war eine Woche lang alleine bei Freunden der Familie und schrieb den Brief ganz ohne Hilfe.

Hier hat schon jeder Satz am Ende einen Punkt.

Sehr vieles ist schon richtig geschrieben.
Nur das Dehnungs-E nach dem I und die Verdoppelung von Konsonanten klappen noch nicht immer:

Noch: „DISEN BRIF“  – aber schon: „LIEBER PAPA“,

Noch: „VERSCHIDENEN“ – aber schon: „HIER“ und „SPIELPLÄTZEN“, „VIELE“.

Noch: „WEN“ statt WENN und „SCHWIMEN“.

 

 

6. Der Bericht

Nun war das Mädchen 6;10 und in der 2. Klasse. Sie holte nach Hort-Schluss ihre Mutter von der Arbeit ab und musste eines Tages noch eine Weile im Büro warten. Sie setzte sich zum ersten Mal an eine Schreibmaschine (die war alt, hakte an vielen Stellen und war längst ausrangiert).

Kleinbuchstaben und Schreibschrift hatte sie inzwischen gelernt. Aber diese Dinge interessierten sie nur am Rande. Mit ihren Gedanken war sie schon wieder weiter:
Die Form des Berichts (etwas knapp und präzise aufschreiben) war gerade interessant, als dieses Beispiel entstand.

Die Rechtschreibung hat sich durchs Bücherlesen weiter entwickelt. Auch die Zeichensetzung wurde durch das Komma, den Doppelpunkt und die Anführungszeichen bereichert.

 

Der gesamte Schreiblernprozess vollzog sich unabhängig von der Schule.

 

Datum der Veröffentlichung: Juni 2012
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.

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