von Hanna Vock

 

Wer sind heutzutage Helden und Vorbilder für sehr viele Kinder und Jugendliche?

Ganz oft sind es diejenigen, die in einem Fußballspiel zwei Tore schießen oder die täglich einen neuen „Style“ ins Internet stellen oder mit irrem Tempo einen beschneiten Hang runter rasen oder in Videospielen und fantastischen Filmen Unmögliches vollbringen. Sehr viel seltener leider diejenigen, die eine erstaunliche naturwissenschaftliche oder technische Leistung vollbringen. Für die Auswahl der „Helden“ junger Kinder sind Eltern, Lehrer*innen und Medien in starkem Maße verantwortlich, dadurch dass sie den Kindern diese oder eben jene „Helden“ nahe bringen.

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es immer mehr gute, spannende Wissenschaftssendungen, die auch viele junge Zuschauer*innen verstehen können und die ihnen die Menschen vor Augen führen (könnten), die in der Wirklichkeit wissenschaftliche und technische Leistungen vollbringen oder früher vollbracht haben. Wieviele Eltern und Lehrer*innen nutzen diese Möglichkeit gezielt und intensiv für sich und vor allem für ihre Kinder bzw. Schüler*innen?

 

Für hoch begabte Kinder sind solche Sendungen von besonders großem Wert.

Aber auch schon im Kindergartenalltag sind nicht so sehr Menschen wie der Astronaut Alexander Gerst (der wunderbar erklären kann), sondern eher solche wie Fußballtorwart Manuel Neuer (dessen Leistungen ich auch toll finde) als bewunderte Typen präsent.

Hoch begabte Kinder leiten daraus durchaus auch gedanklich ab, was viel wert und bewunderungswürdig ist und was eher nebensächlich ist.
Ein Beispiel:
Techniker*innen haben eine Solarlampe in einem Einmachglas entwickelt, die es vielen Menschen zum Beispiel in entlegenen Regionen in Afrika oder Indien möglich macht, auch nach Sonnenuntergang zu lernen (nachdem alle notwendigen Alltagsarbeiten endlich erledigt sind). Waahnsinn! Diese Nachricht ist aber eher nicht Tagesgespräch der älteren Kinder im Kindergarten. Das hoch begabte Kind bleibt (wieder mal) mit seiner Begeisterung, also mit seinen Erkenntnissen und Gefühlen, allein. Nach einigen solchen Erlebnissen lernt es in vielen Kita-Gruppen, dass es mit „sowas“ gar nicht anzukommen braucht. (Diese Lampe kann man auch in Deutschland kaufen.)

Aber es geht nicht nur um die angemessene Würdigung der intellektuellen Leistungen möglicher erwachsener Vorbilder. Das Kind erfährt oft am eigenen Leib, dass Kognitives in seiner Umwelt einen geringeren Wert hat als zum Beispiel Sportliches.

Kognitive Leistungen sind im Kindergarten scheinbar nicht so wichtig

Ein regelmäßiges Aha-Erlebnis ergab sich für mich in Fortbildungen, wenn ich die Erzieher*innen gefragt habe, wann sie zum letzten Mal ein Kind gelobt oder bestätigt haben, weil

    • es ein schönes Bild gemalt hat,
    • es geschickt gebastelt hat,
    • es einen klugen Gedanken geäußert hat,
    • es Buchstaben oder Zahlen gemalt hat.

Die ersten beiden Situationen wurden leicht erinnert und lagen regelmäßig in der letzten Woche vor der Fortbildung.

An die beiden letztgenannten Situationen konnten sich manche Erzieher*innen gar nicht erinnern, andere mit Mühe, und nur wenigen fiel eine Episode aus jüngster Zeit ein.

Kinder, deren Stärken im scharfen und/oder kreativen Denken liegen oder deren Interessen sich auf vermeintlich „schulischen Stoff“ wie Lesen, Schreiben, Rechnen beziehen, erhalten für ihre Tätigkeiten nach Auskunft der Erzieher*innen nur selten oder sogar nie Bestätigung. Die Tätigkeiten werden, wenn nicht kritisiert oder abgewehrt, so doch weitgehend ignoriert.

Für die Kinder steckt darin die Botschaft: Diese Dinge sind nicht so wichtig oder sie sind nicht so viel wert.

Diese Signale erreichen die gesamte Gruppe und bremsen sie in kognitiver Hinsicht. Für die hoch begabten Kinder, ihr Selbstwertgefühl und ihre Motivation ergibt sich eine verschärfte Situation, weil es genau ihre besonderen Stärken sind, die gering geschätzt werden. Wenn sie zusätzlich nicht gern basteln, malen und vielleicht auch nicht auffällig sportlich sind, können sie in der Gruppe leicht „untergehen“.

Die Ursache für diese faktische Unterbewertung von kognitiven Fähigkeiten liegt zum Teil wieder in der Ausbildung der Erzieher*innen. Unter dem richtigen und wichtigen Anspruch, Kinder ganzheitlich zu bilden und zu erziehen, wurde oft die kognitive Förderung vernachlässigt.

Kinder mit betont kognitiven Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnissen geraten leicht in den Verdacht,
zu einseitig entwickelt und interessiert zu sein, zu „verkopft“.

Aus Sorge, sie nicht noch mehr zur Einseitigkeit zu erziehen, werden ihre kognitiven Bedürfnisse übersehen und hintangestellt. Sie sollen „zunächst mal“ ihre Feinmotorik bei Schneideübungen ausbauen oder ihr Sozialverhalten entwickeln, indem sie Konflikte eingehen, die sie gar nicht eingehen wollen. Oder sie sollen – an Dingen, die sie nicht interessieren – Disziplin und Ausdauer lernen.

Dieses Vorgehen orientiert sich an tatsächlichen oder vermeintlichen Defiziten, was wenig Erfolg verspricht im Unterschied zu einem Ansetzen an den Stärken des Kindes.

Eine andere Angst, die hinter dem Ignorieren steckt und die von Erzieher*innen geäußert wird, ist die Sorge, die Kinder könnten zu viel von dem lernen, was erst in der Schule „dran“ ist – und sie könnten es vielleicht auf eine falsche Weise lernen. Die zu  erwartende Langeweile in der Schule würde sich dadurch verschlimmern.

Glücklicherweise sind aber immer mehr Grundschullehrer*innen und Rektor*innen bereit, sich konstruktiv und differenziert mit den Kindern zu befassen, die schon mit fortgeschrittenen Lese-, Schreib- oder Rechenfähigkeiten in die Schule eintreten. Es ist zu wünschen, dass immer mehr Lehrer*innen das Problem, das sich daraus ergibt, wenn ein Kind beim Schuleintritt zum Beispiel schon fließend lesen kann, als ihr Problem ansehen, das sie zu lösen haben, und nicht als das Problem des Kindes oder seiner Eltern. Sie anerkennen das Recht des Kindes, alles zu lernen, was es will, auch zu einem früheren Zeitpunkt als der schulische Lehrplan es vorsieht.

Zu viele negative Signale für hoch begabte Kinder

Ohne spezifisches Wissen zum Thema Hochbegabung geben Erzieher*innen gewollt oder ungewollt viele negative Signale an die Kinder. Kinder erfahren zum Beispiel immer wieder durch Reaktionen von Erzieher*innen, dass ihr Wissen und auch ihr Wissensdrang fehl am Platze sind.

Ein Beispiel:

Im Stuhlkreis wird über Tiere auf dem Bauernhof gesprochen. Die drei- bis sechsjährigen Kinder wollen alle mal dran kommen und etwas dazu sagen. Die jüngeren Kinder lernen zum Teil erst die Namen der Hoftiere und die zugehörigen Tierlaute. Einige Kinder wollen erzählen, was sie auf einem Bauernhof oder im Fernsehen gesehen haben. Ihre Erzählungen erschöpfen sich nach zwei bis drei einfachen Sätzen. Malte (5;10) war noch nie auf einem Bauernhof, aber er kennt ein detailliertes Bilderbuch, das er sich genau angesehen hat.

Er möchte darüber diskutieren, dass die Tiere im Bilderbuch draußen auf der Wiese herumlaufen, dass aber die meisten Eier, die man kaufen kann, aus Legebatterien kommen. Er verwickelt die Erzieherin in ein Zwiegespräch darüber und erklärt ihr, was das für das Glück der Hühner bedeutet und was „artgerecht“ heißt, nämlich dass Tiere so leben können, wie es ihren Instinkten entspricht. Er will wissen, wie das bei den anderen Hoftieren ist… Er ist noch lange nicht am Ende angekommen, sein Wissen darzulegen und seine Fragen zu stellen, aber die anderen Kinder werden unruhig, hören nicht mehr zu und machen Quatsch. Die Erzieherin ist beeindruckt, aber auch verstimmt, weil ihr der Stuhlkreis „aus dem Ruder läuft“ und weil sie auch Malte nicht gerecht werden kann. Sie stoppt ihn: „Ja, Malte, ist gut, wir wollen jetzt noch das Lied vom Hühnerhof singen.“

Maltes Bedürfnis nach längeren Gesprächen, die er mit der Erzieherin sucht, weil die anderen Kinder ihm erst recht nicht zuhören, ist riesig, aber höchst selten ist Zeit dafür übrig. Er wird ganz oft „abgewimmelt“ oder vertröstet.

Er empfängt die Botschaft,
lästig zu sein und sich unbotmäßig zu benehmen.

Oft besteht eine solche Situation der negativen Signale über Jahre, ohne dass das Kind eine ausgesprochene positive Reaktion seiner Erzieher*innen erhält.

Siehe: Passgenaue kognitive Förderung (Die Beispiele von Malte und Daniel. Dort wird das Beispiel wiederholt und ein Ansatz zum pädagogischen Handeln – einen Vertrag schließen – näher erläutert.)

Siehe auch:
Motivation pflegen
Checkliste: Kognitive Förderung in der Kita

 

 

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