von Sabine Handke

 

Tom ist 4 Jahre und 5 Monate alt. Seine Mutter erzählt mir, dass Tom einen „besten oder besonderen Freund“ hat, den siebenjährigen Anton aus der Nachbarschaft. Auch Tom benennt ihn als seinen einzigen Freund, als ich mit ihm den Kinder-Interessen-Fragebogen bearbeite.

Im Kindergarten spielt Tom mit verschiedenen Kindern, bezeichnet aber keines der Kinder als Freund.

 

… kurz gefasst …

Die Erzieherin des 4-jährigen Tom wird darauf aufmerksam, dass Tom in der Kita-Gruppe kein Kind als seinen Freund bezeichnen würde.

Der Beitrag beschreibt ihre Überlegungen, wie Tom passende Spielgefährten finden kann, die zu Freunden werden.

Im Interessen-Fragebogen gibt Tom an, dass er im Kindergarten am liebsten mit Leon spielen würde. Leon ist ein älterer hoch begabter Junge. Ein gemeinsames Spiel ist bisher noch nicht zustande gekommen.

Tom äußert im Fragebogen den Wunsch, mit Leon zu spielen. Dies ist für mich ein wichtiger Hinweis darauf, dass Tom gleichgesinnte Spielpartner sehr wohl wahrnimmt, aber Unterstützung braucht, um den Kontakt her zu stellen. Dies kann gelingen, indem ich Aktionen auswähle, die diese beiden Kinder gleichermaßen ansprechen, in diesem Fall Computer-Aktionen.

Zu Weihnachten bekommen die Kinder in der Kita zwei neue Computerspiele. Zu Beginn des neuen Jahres probiere ich sie mit den Beiden aus. Zwar werden Tom und Leon hier noch keine Freunde. Leon ist ja auch deutlich älter. Im gemeinsamen, für ihn interessanten Spiel mit Leon erlebt Tom aber erste Erfolge.

Er traut sich nun stärker, seine Bedürfnisse zu artikulieren. Ihm fällt aber auch immer mehr auf, inwiefern er sich in Teilbereichen von seinen Spielpartnern in der Kindergartengruppe unterscheidet.

In dieser Situation sehe ich meine Aufgabe vor allen Dingen darin, Tom sinnvolle Erklärungsmuster anzubieten. Diese helfen ihm auch weiter, ein positives und realistisches Selbstkonzept zu entwickeln.

Ermutigt durch seine positiven Erfahrungen mit Leon (und die Gespräche mit mir) sucht Tom jetzt nachmittags vermehrt Kontakt zu den Hortkindern. Dies führt in letzter Zeit dazu, dass er nicht mehr so früh abgeholt werden möchte.

Ich fördere dieses Zusammensein. Ich sehe, dass Tom ohne Probleme bei gemeinsamen Tischspielen mithalten kann. In der Turnhalle ist er glücklich, wenn die „großen“ Jungs (aus dem Hort) ihn neuerdings mit ins Spiel einbeziehen.

Am Vormittag in der Kita-Gruppe gibt es neben seinem bevorzugten Spielpartner Fabio aber bis jetzt noch keine nennenswerten Spielkontakte.

Mir sind allerdings in der letzten Zeit zwei Jungen aufgefallen, die ähnliche Interessen haben könnten wie Tom. Ich möchte sie näher beschreiben:

Silvio (5;6)

Silvio ist ein freundliches, eher zurückhaltendes Kind.

Er besucht unsere Kita seit seinem dritten Lebensjahr.

Schon von Beginn an fiel mir bei Silvio auf, wie intensiv er Spielsituationen oder Aktionen beobachtete. Schnell erkannte er Muster und Gesetzmäßigkeiten im Kindergartenalltag.

Er kann sich gut im Haus orientieren und sucht gern die Nähe von älteren Kindern und Erwachsenen.

Er nimmt mit großem Eifer an Gesprächskreisen teil und fällt auf durch seinen sehr großen Wortschatz und Wissensstand.

Silvio rätselt gern und fordert hier auch schwierige Rätsel ein. Er lernt sehr schnell und sicher Texte oder Lieder auswendig.

Silvio zeigt ausgeprägtes Interesse an naturwissenschaftlichen Phänomenen. Er kann erklären, wie ein Regenbogen entsteht oder warum eine Flasche platzt, wenn die Flüssigkeit in ihr gefriert.

In Konfliktsituationen beweist Silvio eine große Kompetenz im Vermitteln, er zeigt einen großen Gerechtigkeitssinn. Allerdings ist es für ihn schwierig, für sich selbst zu sprechen, wenn er in den Konflikt involviert ist. Er beginnt dann zu weinen und holt sich Hilfe bei Erwachsenen.

Wenn ihm langweilig ist, spricht er meistens Erwachsene an und bittet um Unterstützung.

Silvio kann schon sehr viele Buchstaben und beginnt, diese miteinander zu verbinden. Er kann zählen und rechnen, wagt sich auch an Multiplikations-Aufgaben.

Er zeichnet detailgetreu, ausdauernd und konzentriert.

Wenn ihn etwas fesselt, bleibt er lange dabei und lässt sich nicht von anderen Kindern ablenken.

Costas (5;0)

Costas ist auf den ersten Blick zurückhaltend und wirkt schüchtern.

Im Alltag fällt mir oft auf, dass Costas starken Widerwillen gegen Rituale unseres Kinderhauses entwickelt hat. Der Morgenkreis gibt ihm immer wiederkehrend Anlass zu stören. Ich habe das Gefühl, dass er sich langweilt.

Diese Langeweile führt auch dazu, dass er andere Kinder (meist jüngere) ärgert und knufft.

Bei Rechenspielen ist er hoch motiviert dabei, das gleiche gilt für Musikaktionen, interessante Buchbetrachtungen und Nähaktionen mit der Nähmaschine.

Costas ist sehr kritisch und spricht diese Kritik auch Erwachsenen gegenüber aus.

Er zeigt große Ausdauer und Belastbarkeit bei Aufgaben, die er sich selbst gestellt hat. So hat er zum Beispiel bei einem Spiel mit Zahlenkarten eine neue Spielform entwickelt. Er bildete zunächst Zahlengruppen, dann entwickelte er Rechenaufgaben, die er auch richtig löste. Hierbei handelte es sich auch um Aufgaben wie zum Beispiel 13 + 11. Diese Aktion dauerte über eine Stunde.

Er hat keine festen Spielpartner, sondern sucht häufig die Nähe von Erwachsenen. Costas lässt sich nie lange auf ein Gespräch ein, sondern möchte immer irgendetwas tun.
Hier fällt auf, dass er nicht benennt, was er gern machen würde. („Ich weiß nicht, sag du!“)

Wie reagieren die Kinder aufeinander?

Silvio und Costas sind zwei interessante und auf ihre Art aufgeweckte Kinder. Bis jetzt haben sich Tom, Silvio, Costas und auch Leon noch nicht entdeckt. Dazu muss man wissen, dass wir in unserer Kita Offene Arbeit praktizieren und dabei sehr viel beobachten und unterstützen. Es sind dies also 4 von insgesamt 65 Kindern.
(Siehe auch: Janusz Korczak und unsere Offene Arbeit.)

Costas und Leon hatten letztens die Möglichkeit, sich zu entdecken, und zwar bei einer gemeinsamen Nähaktion. Leon hat den Morgenkreis konsequent und erfolgreich gestört und erhielt von mir die Möglichkeit, den Morgenkreis zu verlassen und etwas anderes zu machen.

Am Vortag hatte Leon seine alten Hausschuhe auseinander genommen. Das griff ich auf und schlug vor, dass er selber neue Hausschuhe nähen könnte. Leon war sofort dabei, Costas bekam dies mit und schon hatten sich zwei verwandte Seelen getroffen. Beide stellten im Laufe der Aktion fest, dass sie gar nicht wussten, dass der Andere so gerne näht. Daraus entwickelte sich ein Gespräch über das Thema Freundschaften und wie man Freunde findet. Costas erkannte: „… hier gibt es ja so viele Kinder, da finde ich ja wirklich jemanden.“

Ich möchte allen vier Kindern ermöglichen, etwas gemeinsam zu tun und Gemeinsamkeiten zu entdecken.

Das bedeutet, Aktionen oder Projekte zu entwickeln, die diesen Kindern Anreize bieten.
Vorrangig geht es mir bei diesen Angeboten darum, dass Tom erkennt, dass er nicht allein mit seinen Begabungen ist und er für sich nachvollziehbare Muster und Hilfestellungen bekommt und dass sein „Anders-Sein“ bei uns nicht Isolation bedeuten muss.

Diese Erfahrung sollen auch die anderen Drei machen. Besonders Costas liegt mir da auch am Herzen, sein destruktives Verhalten soll sich nicht fest als Methode etablieren können. Auch er braucht Erklärungsmuster, Orientierung und Akzeptanz.

Silvio hat schon einige Strategien entwickelt um Herausforderungen für sich zu entdecken.

Neben der Gemeinsamkeit, besondere Begabungen zu haben, haben die Vier erkennbar das Bedürfnis nach adäquaten Spielpartnern.

Es stellte sich als sehr erfolgreich heraus, die Kinder gezielt zusammen zu bringen:

Schließlich sind die Vier Freunde geworden, als sie entdeckt hatten, dass sie gemeinsam sehr komplexe Bauwerke erstellen konnten.

 

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2014
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