von Anja Kintscher
In diesem Projekt spielt Lea wieder eine sehr engagierte Rolle. (Siehe: Lea, 3 Jahre alt.) Sie ist jetzt zu Beginn dieses Projekts 5;2 und es hat sich bestätigt, dass sie deutlich überdurchschnittlich begabt ist. Obwohl sie hierbei – mit einer Ausnahme – mit Abstand die Jüngste ist, hat sie sich sehr engagiert, viele Ideen stammen von ihr.
1. Tag: Projektplanung
(mit Lea, Marla, Lina)
Ausgangspunkt für die Planung des Projektes war der Umstand, dass einige unserer leistungsstarken Kinder (Lea, Lina, Marla, Matthias, Elias) sich jeden Tag in unserem Polsterraum ein „Klassenzimmer“ aufbauten. Sie stellten eine Tafel auf, holten sich Blätter, schrieben dort Buchstaben und Zahlen. Der Polsterraum ist jedoch ein Raum, den die Kinder nach einiger Zeit verlassen müssen, um anderen Kindern die Gelegenheit zu geben, dort zu spielen.
lch bat die Kinder zu mir, um eine Lösung zu suchen. Doch nur die Mädchen kamen. Im Verlaufe unserer Diskussion stellten wir folgende Überlegungen an:
- Wir wollen einen Bereich für ein Klassenzimmer.
- Wir wollen dort ungestört sein.
- Die kleinen Kinder sollen dort nichts kaputt machen.
- Alle Fächer sollen „unterrichtet“ werden:
Rechnen, Deutsch, Religion, Sport, Musik, Englisch, Biologie. - Wir wollen dort schreiben und rechnen.
So kamen wir auf die Lösung, unsere flexible Ebene (zur Zeit noch eine Ritterburg, ein Ergebnis des letzten Projektes) umzugestalten und dort ein Klassenzimmer einzurichten.
…kurz gefasst …
Lea (5;2) spielt mit ihren älteren Freundinnen und Freunden im Kindergarten immer wieder „Schule“. Sie wünschen sich dafür einen geschützten Raum. Das „Klassenzimmer“ wird geschaffen, weitere Kinder machen mit, das Projekt entwickelt sich und mündet schließlich in ein Dauerangebot für die Kinder.
Die Kinder können sich nun, ihren Interessen und ihrer Entwicklung entsprechend, konzentriert auch mit so genannten schulischen Dingen befassen und lernen, ihre Arbeit zu organisieren.
Am nächsten Tag wollten wir im Morgenkreis die bevorstehenden Veränderungen einbringen, um alle Kinder darüber zu informieren.
Material wie Hefte, Bücher, Etuis, Tafelkreide, Stifte wollten die Kinder von zu Hause mitbringen.
2. Tag: Einrichten des Klassenzimmers
(mit Lea, Marla, Lina)
Motiviert kommen die Kinder in den Kindergarten, um dort ihre mitgebrachten Materialen vorzuzeigen. Dann machen wir uns an die Arbeit, die Ritterburg abzubauen. Zuvor überlegten wir, was wir von der Burg für das Klassenzimmer gebrauchen könnten:
- das Regal (für Bücher und Hefte),
- den Tisch mit den Stühlen,
- die Wände der Burg (bleiben als Sichtschutz),
- die „Kemenate“ (wird als Schul-Spielecke umgebaut).
Alles andere soll abgebaut werden, wobei sofort festgelegt wird, wohin diese Dinge gebracht werden sollen: die Burgtürme ins Altpapier, die Matratze in die Polsterecke, die Ritterkleidung in die Verkleidungsecke, …).
Stundenlange anstrengende Arbeit (von 9 bis 13 Uhr) wird getan, bis das Klassenzimmer steht.
Meine Befürchtung, dass die Lust der Kinder zwischenzeitlich nachlassen könnte, trifft gar nicht zu.
Lediglich eine kurze gemeinsame Frühstückspause legen wir ein.
3. Tag: Gespenstheuschrecken und Schreiben
(Lea, Marla, Lina, Matthias, Elias)
An diesem Morgen sind zunächst unsere neuen Gepenstheuschrecken interessant, die ins Terrarium gesetzt werden sollen. Dazu muss das Terrarium gereinigt, desinfiziert und eingerichtet werden. Diese Aufgabe übernimmt Matthias mit Hilfe von Elias.
Er bestückt das Terrarium nach dem Säubern mit Erde, mit einem Holzstück und mit Brombeerstängeln. Dann setzt er die Heuschrecken hinein. (Igitt, er fasst sie an! ! !)
Vorher hatten wir uns im Internet informiert, was diese Heuschrecken zum Leben brauchen. Also suchen wir einen hellen Platz für die Tiere und organisieren aus der Abstellkammer eine Blumensprühflasche, um damit die notwendige Luftfeuchtigkeit für die Heuschrecken zu erzielen.
Lea, Marla und Lina gehören mit anderen Kindern zum begeisterten Publikum, halten sich aber bei der Ausführung zurück. Alle sind fasziniert, beobachten die Tiere beim Fressen, stellen Fragen und sind sehr interessiert. Lea stellt fest, dass solche Themen auch in die Schule gehören.
Also ist unsere allererste Schulstunde eine Biologie-Stunde.
Nach einer gewissen Zeit bekunden die Kinder ihr Interesse, an der Schule weiterzuarbeiten. Wieder werden mitgebrachte Materialien gezeigt und in den Klassenraum gebracht. Matthias und Eliasschließen sich uns an. In der Klasse besprechen wir unser weiteres Vorgehen. Die Kinder möchten schreiben und benutzen hierfür das Buchstabenheft „Tinto“ von Cornelsen.
Die Kinder kennen größtenteils das Alphabet, aber nicht die Lautsprache, die sie nun kennen lernen wollen.
Sie wollen ebenfalls genau nach „Anweisung“schreiben, also folgen sie den Pfeilen, die die im „Tinto“-Heft die Schreibreihenfolge und -richtung für jeden Buchstaben zeigen, und lassen sich erklären, warum dies wichtig sein kann (nämlich weil es später den Schreibfluss verbessert). Sie gehen die Buchstaben so durch, wie sie im „Tinto“ vorgegeben sind. Während ihrer Arbeit stellen sie fest, in welchen Wörtern sich welche Laute befinden.
Sie schreiben ihre Buchstaben an die Tafel und sie schreiben sie mit Filzstiften großflächig auf Zeichenblockblätter und malen sie aus. Hefte, die sie in nächster Zeit benutzen wollen, beschriften sie mit ihren Namen.
Währenddessen werden folgende Wünsche und Gedanken geäußert:
- Alles, was gemacht wurde, müsste abgeheftet werden.
- Man braucht Eigentumskisten.
- Störungen sind unerwünscht.
- Eine Absperrung / ein Schultor wird benötigt.
Als Matthias, ein Kind, das sich sonst eher freut, wenn es abgeholt wird (und das sich wahrscheinlich manchmal unterfordert fühlt), nach Hause soll, will er unbedingt noch bleiben:
„Das macht so einen Spaß!“
Da die Abholzeit beginnt, schließen wir unsere Arbeiten ab, sammeln alles in einem Korb, bis Hefter und Eigentumskisten vorhanden sind.
4. Tag: Buchstaben und Laute
(Lea, Marla, Lina, Sonia, Teresa, Sara, Jule, Paula – Matthias und Elias machen Urlaub.)
An diesem Tag bringt eines der Kinder eine Anlauttabelle mit. Lea, Marla und Lina überlegen bereits, wohin sie gehängt werden soll, damit sie gut zu sehen ist. In diesem Zusammenhang werden nochmals die Tische verstellt, um die Sitzordnung eventuell zu verbessern. Die erste Anordnung erweist sich allerdings als die Beste. Aber die Spielecke wird verkleinert.Wichtiger erscheint den Kindern ein Lehrerpult, an dem die erforderlichen Arbeitsblätter angefertigt werden können. Tastatur, Locher und Tacker werden organisiert und aufgestellt.
Inzwischen sind andere Kinder aufmerksam geworden, sie stehen vor der Absperrung / dem Schultor und wollen mitmachen. Nach skeptischer Prüfung, um welche Kinder es sich handelt, und nach kurzer Beratung lassen die Kinder sie herein. Den „Neuen“ wird alles gezeigt und erklärt.
Dann schlägt Lea vor, sich die Anlauttabelle anzusehen, und wir gehen gemeinsam die Buchstaben durch.
Anschließend werden wieder „Tinto“-Aufgaben erledigt, die Tafel wird genutzt und es wird versucht, Laute aus Wörtern heraus zu hören. Einige Kinder werden bereits abgeholt, darum kommen wir zum Ende, räumen die Klasse auf, sammeln die Zettel in unserem Korb, setzen uns noch einmal zusammen und singen „Auf der Mauer, auf der Lauer“ und
„Alle Kinder lernen Lesen“.
Paula, die heute neu hinzu gekommen ist, ist erst seit kurzem im Kindergarten. Obwohl erst vier Jahre alt, ist sie sehr interessiert, beobachtet alles ganz genau und macht auch ein bisschen mit – und es wird sich im Laufe der Zeit heraus stellen, dass sie auch ein sehr begabtes Kind ist.
5. Tag: Ordnen und Zahlen
(Lea, Marla, Lina, Jule, Teresa, Sara, Sonia, Illa)
Marla, Lina und Jule sind mit die ersten im Kindergarten und gehen sofort in die Schule, wo sie Rechenblätter entdecken, die ein Vater für uns kopiert hat. Da ich noch allein bin und mit den Frühstücksvorbereitungen zu tun habe, bitte ich die Kinder, die Blätter erst mal nach den Zahlenwerten zu ordnen.
Bald darauf kommen die anderen Kinder der Schul-Gruppe hinzu und ich kann auch mitmachen.
Die Blätter werden von 1-10 sortiert. Dann zeige ich den Kindern, wie man möglichst gerade locht und Blätter abheftet. Die Kinder wechseln sich mit den zwei zur Verfügung stehenden Lochern geduldig ab, lochen ihren schon bearbeiteten Stapel und heften ihn in richtiger Reihenfolge in den Ordner, dabei helfen sie sich untereinander.
Für diesen Tag hatte ich eigentlich geplant, die Eigentumskisten zu fertigen, doch dies lehnen die Kinder ab, da sie nun lieber eine „Rechenstunde“ wollen.
Ich stelle ihnen das Buch „Ein mal Eins ist Eins“ von Reiner Stolte vor. Dieses Buch ist in Reimform geschrieben, so dass die Kinder die Strophen zu den Zahlen selbst beenden und so aktiv mitmachen können. Auch die Rechenaufgaben lesen sie mit und lösen sie – und es macht ihnen viel Spaß.
Danach setzen sie sich an die Tische, um dort die Arbeitsblätter zu machen. Einige arbeiten mit Zahlen bis 5, andere bis 6, wieder andere noch weiter. Wir überlegen zwischendurch, ob man den Klassenraum mit Zahlen schmücken könnte. Es entsteht die Idee, Zahlen groß auf Papier zu malen, auszuschneiden und aufzukleben. Die Zahlenbilder sammeln wir auf dem Tisch, treffen uns noch zum Abschlusskreis und beenden den Tag auf Wunsch der Kinder mit dem Lied „Alle meine Entchen“, vertont nach „We will rock you“.
6. Tag: Regeln und deren Weitergabe
(Lea, Marla, Lina, Sonia, Illa, Sara, Teresa)
Es ist der letzte Tag vor meinem Urlaub. Wir treffen uns in der Klasse und besprechen den Tag. Die Planung sieht vor:
– Der Treppenaufgang soll mit den Zahlen geschmückt werden.
– Die Eigentumskisten sollen beschriftet werden.
– Lose Zettel sollen abgeheftet werden.
Als erstes wird der Treppenaufgang verschönert. Hierbei wird ein Klassenfoto geknipst. Das war Leas Vorschlag. Dann werden die Zettel abgeheftet und als nächstes die Schuhkartons mit Tonpapier beklebt und mit dem Namen versehen. Meine Vorstellung, aus den Kartons „kleine Kunstwerke“ zu gestalten, sie anzumalen, individuell zu gestalten, halten die Kinder für zu langwierig – schließlich brauchen sie die Kisten sofort.
Immer diese Erzieherinnen, die wollen, dass alles schön verziert ist!
Stolz sortieren die Kinder danach ihre „privaten“ Schulsachen in die Kisten. Sie überlegen gemeinsam, wo die Kisten am besten aufgestellt werden sollen. Dann treffen wir uns zum Gespräch.
Die Kinder wissen, dass ich Urlaub habe und zwei meiner Kolleginnen ihre „Angelegenheiten“ übernehmen werden. Regeln, die wir erarbeitet haben, sollen in der Kinderbesprechung weiter gegeben werden, so dass alle Kinder informiert sind. Wichtig ist der Gruppe, dass sie die „Bestimmer“ bleiben und so mitentscheiden, wer in die Schule darf.
Wir besprechen, dass diese Kinder nicht unbedingt „groß“ sein müssen, denn unsere Schulgruppe besteht ja sowieso jetzt schon aus 4- bis 6-Jährigen. Matthias und Elias sollen auch in jedem Falle wieder mitmachen. Keinesfalls sollen jedoch Kinder mitmachen, die „Chaos veranstalten“. Um das zu verhindern, soll das „Klassenfoto“ aufgehängt werden, damit jeder weiß, wer die „Schulkinder“ sind. Außerdem sollen wichtige Materialien im Schulregal nach ganz oben geräumt werden, damit immer eine Erzieherin gefragt werden muss. In den Rollcontainer soll Verbrauchsmaterial (Hefte, Filzstifte, Kladden, Schnellhefter … ), das nur die „Schulkinder“ herausnehmen dürfen. Die Schule ist geschlossen, sobald das „Schultor“ den Aufgang in die Klasse verhindert. Ich verspreche den Kindern, alle Infos an meine Kolleginnen weiterzugeben.
Es ist den Kindern offenbar wichtig, sich abzugrenzen, aber nicht um ein exklusives Klübchen zu sein, sondern um konzentriert und ungestört arbeiten zu können – ein oft zu wenig beachtetes Bedürfnis der (besonders begabten) Kinder.
Dazu schreibe ich auch die Ideen der Kinder, was weiterhin geplant ist, in das Besprechungsbuch:
- Die Absperrung / das Schultor fertig stellen (ist bisher nur provisorisch).
- Klassenfoto entwickeln und aufhängen.
- Weiter: Schreiben.
- Weiter: Rechnen.
- Eigentumskisten und Schnellhefter für Matthias und Elias (und weitere „Mitmacher“) herstellen.
- Die Wände des Klassenzimmers gestalten.
Neben dem Besprechungsbuch und den Informationen, die weiter gegeben werden, sind Literatur und Spiele vorhanden, um Ideen zu gewinnen, die als Impulse und Anregungen situationsbezogen in das Projekt eingebracht werden können.
Das Projekt lief dann auch ohne mich mit Schwung noch lange weiter.
Das Klassenzimmer konnte aus Platzgründen in dieser Form nicht auf Dauer erhalten bleiben, da die „flexible Ebene“ immer wieder für neue Projekte gebraucht wird. Aber nach den guten Erfahrungen und weil die Kinder immer wieder darauf drängten, haben wir bald darauf an einer anderen Stelle eine Klassenzimmerecke als ständiges Angebot für das Freispiel geschaffen, in der die Kinder auch weitgehend ungestört arbeiten können und dies auch munter tun.
Datum der Veröffentlichung: Mai 2012
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.