von Holger Scharn

 

In meiner Gruppe war Paul (Name geändert), 4 Jahre alt. Er war ein sehr intelligenter, womöglich hoch begabter Junge, der bei Ausflügen immer wieder Ausflüchte fand, warum er nicht mitkommen konnte.

Paul war während des IHVO-Zertifikatskurses mein „Beobachtungskind“, das heißt in der Beziehung zu diesem Kind wollte ich während der Kurszeit mein Verständnis für die Besonderheiten hoch begabter Kinder vertiefen.

Inzwischen war Pauls Vertrauen zu mir so weit gewachsen, dass ich auf meine Fragen auch ernst gemeinte Antworten von ihm erhielt. Auf die Frage, welche Sorgen ihn beschäftigten, wenn er an den geplanten Ausflug in den Zoo dachte, antwortete er mit einer Gegenfrage: „Aber was ist denn, wenn ich dann mal Pipi muss?“ Und das war es auch schon!

Der Junge, dem seine noch recht neu errungene Fähigkeit wichtig war, Pipi in die Toilette zu machen, sorgte sich, wie er das unterwegs und im Zoo regeln könnte. Er hatte Angst, dass er diese Situation dann nicht bewältigen könnte. Und er gab zu erkennen, dass er sich dann natürlich fürchterlich schämen würde. (Früh auftretendes Schamgefühl, typisch für viele hoch begabte Kinder.)

Im Kurs wurde erarbeitet, dass ich Pauls vermeintliches Defizit in eine besondere Kompetenz umdefinieren sollte.

Also besprach ich mit ihm, wie wir das Problem lösen könnten.

Es kam die Idee auf, im Zoo anzurufen, und so wurde nachgefragt, ob es im Zoo eine Toilette gibt – es gab eine am Eingang und eine in der Mitte des Geländes, von allen Stellen des Zoogeländes in wenigen Minuten zu erreichen. Dies erschien Paul ausreichend sicher.

Das Problem mit der fehlenden Toilette im Bus wurde für ihn dadurch befriedigend gelöst, dass ich versprach, ihn vor dem Aufbruch aus dem Kindergarten zu erinnern, „die Blase zu entleeren, damit darin dann wieder genug Platz da ist für den neuen Urin“.

Paul war einverstanden, dieses Toiletten-Problem auch im Morgenkreis zu erörtern – wobei sich ein kleines Mädchen zu Wort meldete, das sich ähnliche Sorgen gemacht hatte.

Selbstverständlich scheute ich mich nicht, Paul und anderen interessierten Kindern in diesem Zusammenhang die Funktion der Blase zu erklären, so dass sie den Sinn einsehen konnten, die Toilette vorsorglich aufzusuchen, wenn voraussichtlich für eine längere Zeit keine Toilette verfügbar sein würde.

Verstärkt wurde der Effekt, ein „Defizit“ in eine Stärke umzudefinieren dadurch, dass er mein „Sicherheitsbeauftragter“ wurde. Vor jedem Ausflug besprachen wir beide, was zu bedenken wäre. Und Paul zeigte, dass er sich schon diverse Gedanken gemacht hatte:

Er machte sich zum Beispiel Sorgen, wie die Wunde eines Kindes versorgt werden könnte, das sich unterwegs das Knie blutig aufschlägt. Im Kindergarten gab es ja eine Box mit Pflaster für solche Notfälle. Sein Vorschlag war, auf jeden Fall Pflaster auf jeden Ausflug mitzunehmen.

Weitergehend war seine Sorge, was passieren würde, wenn ein Kind unterwegs einen schweren Unfall hätte oder plötzlich krank würde, sodass es sofort ins Krankenhaus gebracht werden müsste. „Im Büro habt ihr doch so eine Liste mit allen Telefonnummern von den Eltern, damit die dann schnell zu ihrem Kind ins Krankenhaus können.“

Es wurde beschlossen, diese Liste zu kopieren. Der Sicherheitsbeauftragte, der sich in seinem zarten Alter schon durch eine so große Fähigkeit zur Vorsorge auszeichnete, trug die Liste in seiner Hosentasche mit.

Paul gewann an Ansehen in der Gruppe. Er war sehr bald nicht mehr der Angsthase, sondern der Vorausschauende. Er hatte erfahren, dass man manche Ängste durch klare Überlegungen und durch Vorsorgemaßnahmen besiegen kann.

Auch anderen Kindern berichtete er von seinen Überlegungen und Vorsorgemaßnahmen, und viele hörten ihm interessiert zu.

Heute, einige Jahre später, habe ich noch Kontakt zu Paul und weiß daher, dass er inzwischen 3 Klassen übersprungen hat, was jeweils sein eigener Entschluss war.