von Susanne Höfl

 

Ich arbeite als gruppenübergreifende Fachkraft in unserem Kindergarten und habe mir für den Zertifikatskurs Florian als Beobachtungskind gewählt. Er ist jetzt 6;1 Jahre alt.

Wie ich Florian am Anfang erlebte und was mir über ihn berichtet wurde, lesen Sie hier:

Erste Annäherung an ein schwieriges Kind.

Um Florian noch besser kennen zu lernen und zu verstehen, kamen der im IHVO-Zertifikatskurs kennen gelernte Fragebogen „Interessenfragebogen für Kindergarten und 1.(2.) Klasse“ nach J. Huser/U. Stedtnitz (veröffentlicht in Huser) jetzt genau zur richtigen Zeit. Er wurde zur Grundlage für meine 2. Praxisaufgabe; ich benutzte ihn als Leitfaden für das Interview mit Florian.

 

… kurz gefasst …

Die Autorin führte das Interview auf Grundlage des Interessen-Fragebogens für den Kindergarten mit mehreren Kindern durch und beschreibt, dass Florian sich dabei anders verhält als die anderen Kinder.

Im Interview mit Florian konnte ich neben seinen Lesekenntnissen wieder einmal seine Lerngeschwindigkeit erleben: Er nahm sich sofort einen Kuli, begann die Fragen zu lesen und gab mir direkte, präzise Antworten, ohne Verständnisfragen zu stellen oder lange zu überlegen. Seine „professionelle“ Herangehensweise bei diesem Interview, seine Sprachgewandtheit machten mich neugierig darauf, andere Kindergartenkinder in vergleichbarem Alter zu interviewen und dies wiederum mit Florians Art zu vergleichen.
Kommentar Hanna Vock:
Im Rahmen der Weiterbildung war dieses Vorgehen interessant und erhellend. Die Ergebnisse zeigen auch noch einmal, dass der Fragebogen gezielt für hoch und besonders begabte Kinder entworfen wurde und für die Arbeit mit ihnen geeignet ist.
Florians große Fähigkeit über das Denken zu denken faszinieren mich sehr.

Florian antwortet anders als die anderen Kinder

Im Vergleich mit den anderen Kindern fällt mir auf, dass sie sich in der Art, wie sie die Fragen beantworten, untereinander sehr ähneln – und Florian sich deutlich mit seinem Wissen und der Art der Bearbeitung im Interview von den anderen Kindern unterscheidet.Er zeigt starkes Interesse an der Interviewaktion als solcher, die anderen Kinder zeigen Interesse, etwas mit mir zu machen. Ich lese die Fragen vor, Florian liest mit/liest selbst, er versteht die Fragen sofort, er zeigt „strukturiertes Wissen/ein geordnetes System“ – bei den anderen Kindern muss ich zum Teil langsam lesen und warten, bis sie die Fragen gedanklich erfasst haben.

Ich spüre deutlich Florians starken inneren Antrieb nach Wissen (er wollte das Tempo vorgeben, wollte noch schneller und noch mehr … ). Die anderen Kinder warten ab, was ich mache, geben sich mit meinen Vorgaben und meinem Tempo zufrieden, orientieren sich also an mir als Erwachsener.

Florian zeigt eine Art „Perfektionismus“. Er versucht genaues, vollständiges Wissen in der Beantwortung der Fragen wiederzugeben, die anderen Kinder antworten mir besonnen, so wie ich es von Kindern dieser Altersgruppe gewohnt bin.

Wie wir Florian inzwischen besser verstehen

Aus den Gesprächen mit Florian ergab sich, dass er ein stark entwickeltes moralisches Empfinden hat und dass er selber um seine besonderen Fähigkeiten und seine Intelligenz weiß.

Seine große Sensibilität führt zu erheblichen Komplikationen im Gruppenalltag und zu großen inneren Widersprüchen bei ihm selbst. So war es ihm zum Beispiel häufig nicht möglich, seine Kleidung beisammen zu halten: Wurde es ihm zu warm, zog er seinen Pullover aus, verlegte ihn. Dann konnte er es nicht ertragen und nicht fassen, den Pullover nicht mehr wieder zu finden. Er reagierte ungehalten, beleidigt, gab uns die „Schuld“ und verbalisierte dies den ganzen Tag über.

Bei Brett- und Gesellschaftsspielen, die er während des Freispiels mit uns spielte, wurde er in eine missliche Lage gebracht: Er hatte die Gruppenprozesse im Blick, wollte sich an allen Tischgesprächen beteiligen, verfolgte das Spiel und hatte dabei den Anspruch, natürlich zu gewinnen. Dies alles „perfekt“ zusammen bringen zu müssen, versetzte ihn in eine schwierige Lage.

Leider wusste ich das vor meinem Kurs noch nicht so einzuordnen … Allerdings ging es Florian nach seiner „Entdeckung“ besser. Probleme gab es nun kaum noch, wenn seine Gruppenleiterin Sandra in der Gruppe war. Er fühlte sich ernst genommen, fragte mich häufiger, ob ich Zeit hätte, ein Spiel (meistens aus dem Hort) mit ihm zu spielen. Bei Unterhaltungen kamen wir oft ins Philosophieren, was er auch mit dem Horterzieher und seiner Gruppenleiterin Sandra liebte, mit denen ich wiederum in regem Austausch über Florian, seine mögliche Hochbegabung und seine Förderung stand.

Heute weiß ich, dass Florian schon im frühen Kindesalter eine hohe Sensibilität der Sinne hatte. Dabrowski erklärt diese Intensität mit „over-excitabilities“ (OE), die eine erweiterte Wahrnehmung und Reaktion auf Reize verschiedener Art darstellen.

(Siehe dazu: Hoch begabte Kinder und besondere emotionale Sensibilität.)

Heute sehe ich, dass Florian bereits als Dreijähriger eine intellektuelle OE zeigte: Er stellte untersuchende und testende Fragen, er besaß eine große Fähigkeit zu intellektuellen Anstrengungen (mit langen Phasen von Konzentration und Ausdauer), er dachte bereits über das Denken nach. Solche Gedanken konnte er zunächst nur seiner Freundin Eileen (damals 5;3 Jahre alt) uneingeschränkt mitteilen. Später suchte er sich einen noch geeigneteren Partner: seine Gruppenleiterin Sandra.

Auch die Eltern beantworten den Interessen-Fragebogen … und reagieren

Zum geplanten Elterngespräch über Florian, das noch in unserer Kita in Köln stattfand, bevor Florian nach Berlin umzog, kam der Vater eigens aus Berlin angereist. Um eine zusätzliche Gesprächsgrundlage zu haben, stellte ich den Eltern dieselben Fragen aus dem Fragebogen, die ich Florian gestellt hatte. In einer sehr angenehmen Gesprächsatmosphäre erfuhr ich, dass er mit 2;5 Jahren bereits starkes Interesse am Umgang mit dem PC zeigte, mit drei Jahren anfing, sich selbst Lesen beizubringen, schnell abstrakte Dinge erfassen kann, gerne über technische Zusammenhänge spricht und in einem harmonischen Verhältnis mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester lebt.

Den Eltern war bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Gedanke an eine besondere Begabung oder gar Hochbegabung gekommen, sie wunderten sich nur über seine Freunde, die acht und elf Jahre alt sind.

Nach dem Elterngespräch haben Florians Eltern in Berlin eine passendere Grundschule für ihn gesucht.

Datum der Veröffentlichung: Januar 2012
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