von Hanna Vock
Hoch begabte Kinder haben häufig zwei Probleme mit ihren Eltern und / oder mit ihren Pädagogen. Sie erleben auch schon im Kindergarten, besonders stark in den letzten beiden Kindergarten-Jahren, immer wieder erstens Unverständnis und zweitens Unterforderung.
Unterforderung
bedeutet, dass die intellektuellen Bedürfnisse und Ansprüche des hoch begabten Kindes vernachlässigt werden.
Unverständnis
bedeutet, dass die Eigenart des Kindes, die in starkem Maße durch seine Hochbegabung geprägt ist, nicht gesehen, nicht respektiert und erst recht nicht verstanden wird.
Wie dieses Unverständnis und diese Unterforderung konkret aussehen können, dazu lesen Sie bitte:
Spezifische Probleme hoch begabter Kinder im Kindergarten.
Starke Gefühle
Hier in diesem Beitrag geht es um die Folgen dieser beiden Probleme.
Wenn eins dieser Probleme, oder sogar alle beide, über längere Zeit anhalten, führen Dauer-Unverständnis und Dauer-Unterforderung durch die Umwelt zu einer
Dauer-Frustration,
die – je nach der Persönlichkeit des Kindes – mit folgenden Gefühlen verbunden sein kann:
Verwirrung
Verstörung
Langeweile
Innere Leere
Schuldgefühl
Traurigkeit
Enttäuschung
Ärger
Wut
Menschen jeden Alters versuchen, Situationen zu entkommen, die dauerhaft solche Gefühle erzeugen. Sie wagen die Trennung vom Partner, die Flucht aus dem Elternhaus, die Vermeidung des Altersheims, das Schwänzen des Schulunterrichts, die Suche nach einer passenderen Arbeitsstelle.
Kleine Kinder haben wenige Möglichkeiten, an ihrer Situation etwas zu ändern. Manche versuchen es trotzdem – so zum Beispiel der kleine Junge im folgenden Beispiel und die noch jüngere Anita, von der noch die Rede sein wird.
… kurz gefasst …
Ständige geistige Unterforderung und das ständige Gefühl, von der Umwelt falsch gesehen und nicht verstanden zu werden, erzeugen auch schon bei Kindergartenkindern eine Dauerfrustration, die schwerwiegende negative Folgen haben kann. Um diese Folgen zu vermeiden oder auch, wenn sie bereits eingetreten sind, zu beheben, muss das Kind besser verstanden und angemessener geistig gefördert werden.
„Ich kündige!“ – aber oft ist kein Ausweg in Sicht
Hier folgt das Beispiel eines Kindes, das versucht, der Unterforderung zu entkommen:
Ein hoch begabter Junge kommt endlich in die Schule. Er hatte sich im Kindergarten viel gelangweilt, nun rennt er in die Schule – mit großen Erwartungen, was das Lernen betrifft. Er ist bei der Einschulung 5 Jahre und 9 Monate alt. Er kann fließend Bücher lesen und rechnet wie ein Drittklässler. Nach dem ersten Schultag fragt ihn die Mutter: „Wie war´s, was habt ihr gemacht?“ Der Fünfjährige erzählt ausführlich vom Ausmalen eines kopierten Blattes und von dem Buchstaben O. Er habe die Lehrerin gefragt, was sie morgen machen würden. Sie antwortete, dass sie dann Wörter mit O kennen lernen würden. Er hat dann gesagt:
„Ja, danke, ich kündige dann.“
Der Fünfjährige überblickt die Situation: Er passt auch da nicht hin, für ihn gibt es wieder nichts zu lernen. Nur leider, die Freiheit zu kündigen, hat er nicht. Stattdessen liegt eine lange, frustrierende Schulzeit vor ihm.
Ein weiteres Beispiel:
Originalton eines hoch begabten Mädchens (11 Jahre alt, 7. Klasse Gymnasium), das am frühen Nachmittag grade aus der Schule zurück gekehrt ist:
„Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute hin gegangen bin???
Kannst du mir mal sagen, warum ich da heute 6 Stunden gesessen habe??? Soll ich dir mal sagen, was ich da heute gelernt habe???
Nichts! Wieder mal: Nichts!!!“
Dauer-Frustration, die sich in Wut äußert. Wut auf die Schule, die Lernbedürfnisse nicht erfüllt, die zum bloßen Absitzen des Unterrichts zwingt und viel zu viel Anpassung fordert.
Ähnlich ergeht es hoch begabten Kindern im Kindergarten; nur können sie ihre Situation oft noch nicht so präzise erfassen und formulieren.
Im Kindergartenalter können wir bemerken:
Die Grundstimmung verändert sich negativ.
Wenn kein Ausweg möglich ist, erzeugen diese Gefühle unweigerlich entweder eine aggressive oder eine depressive Verstimmung. Werden diese Warnzeichen nicht beachtet, kann sich die Verstimmung im Schulalter verfestigen und in allgemein aggressives Verhalten oder in eine manifeste, krankhafte Depression münden.
Aber auch schon die Vorstufen können dramatisch sein:
Das Beispiel von Anita soll das illustrieren.
Im Alter von 4;1 Jahren kam Anita in meine Kindergartengruppe. Es war bereits ihr zweiter Kindergarten. Die Eltern waren zu mir in die Beratung gekommen, weil Anita absolut nicht mehr in ihren ersten Kindergarten gehen wollte. Die Eltern sorgten sich, weil Anita sich seit dem Eintritt in den Kindergarten stark verändert hatte. “Sie war früher fröhlich, lustig, meistens gut gelaunt und auch sehr aktiv. Jetzt ist sie meistens unerträglich. Sie mault über alles, ist motzig und frech, hat zu nichts Lust, macht jeden Morgen Theater, wenn sie in den Kindergarten soll und steht sich oft selbst im Wege mit ihrer schlechten Laune”, berichtete die Mutter. Da den Eltern Anitas sehr fortgeschrittener Entwicklungsstand selbst aufgefallen war, ließen sie ihre Tochter testen, was einen sehr hohen IQ-Wert ergab.
Ich nahm zu Anita Kontakt auf, als sie noch nicht 4 Jahre alt war, unterhielt mich ausgiebig mit ihr und betrachtete mit ihr zusammen ein Bilderbuch. Mir fielen ihr sehr umfangreicher Wortschatz, ihre flüssige und ausdrucksstarke Sprechweise und vor allem ihre klugen Fragen und Gedanken zu der Bilderbuchgeschichte auf. Wenn ich sie nicht gesehen, sondern nur gehört und ihr Alter nicht gewusst hätte, hätte ich sie für ein kluges und gut gefördertes sechsjähriges Mädchen halten können. An diesem Tag lernte ich sie so kennen, wie sie nach Aussage der Eltern “eigentlich” war, also positiv gestimmt, aktiv, lustig und charmant.
Anitas Eltern waren schon zu der Entscheidung gekommen, den Kindergarten zu wechseln und hatten sich bereits zwei andere Einrichtungen mit Anita zusammen angesehen. Jedes Mal erklärte Anita mit Bestimmtheit, dass sie dort auch nicht hinwollte.
Die Eltern, die beide im Schichtdienst berufstätig waren, hatten nun einen Berg Probleme.
Da Anita schon positiv auf Hochbegabung getestet war, lag es nahe, die Ursache für ihre Verstimmung im Zusammenhang mit ihrer Hochbegabung und ihren Erfahrungen im Kindergarten zu suchen, zumal die Eltern versicherten, dass sich im familiären Umfeld nichts geändert hatte.
In letzter Zeit sind Eltern manchmal versucht, die Verhaltensprobleme ihrer Kinder mit Hochbegabung zu erklären – auch wenn vielleicht gar keine Hochbegabung vorhanden ist oder wenn das Kind erkennbar große Probleme in seiner Familie hat.
Hier müssen wir Erzieherinnen kritisch bleiben und auch andere Ursachen in Betracht ziehen, vor allem wenn wir auch bei qualifizierter Beobachtung keine Hinweise auf eine hohe Begabung erkennen können.
Siehe auch:
Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung
Beispiele für Erstbeobachtungen
Problematisches Verhalten
Eine Erzieherin schreibt:
„Mir ist das Thema Clownerien zurzeit sehr wichtig. Im Kindergarten, in dem ich mein Anerkennungsjahr ableiste, haben wir einen Jungen, bei dem sich das Clown-Verhalten schon etabliert hat.
Ich habe den Eindruck, er ist so unterfordert, dass er sich einfach nur Blödsinn ausdenkt, damit die anderen Kinder ihn bewundern oder einfach nur lachen. Es scheint, als ob er der Führer in der Gruppe sei, auch die Erzieherinnen sind ihm unterlegen. Sie lassen sich auf seine Spielchen ein, lassen sich in Blödeleien verwickeln und stehen schließlich dumm da.
Der Junge hat längst begriffen, wie er die Erwachsenen um den Finger wickeln kann. Er selbst, aber auch die Erwachsenen sehen nicht, dass er sich in einer Sackgasse befindet, dass er seine Talente nur auf einem einzigen Feld (Albern sein) gedeihen lässt.
Na ja, ein guter Komiker ist immer gerne gesehen, er bringt die anderen zum Nachdenken. Unser Junge bringt aber nur Chaos in die Gruppe, die anderen Jungen bewundern seine Fähigkeit, Chaos zu stiften, und kopieren ihn mehr schlecht als recht. Dann passiert es, dass einer nach dem anderen den gleichen Witz erzählt oder sich auf die gleiche Weise vor den Aufgaben drückt – nur um den gleichen Eindruck zu erzielen.
Die Erzieherinnen können nur einen nach dem anderen ermahnen, mit Strafen drohen, bestrafen, appellieren, kurz durchatmen, sich ablenken lassen, um nach einer Weile wieder Chaos wahrzunehmen. Ich kann sonst keine pädagogischen Handlungen erkennen.
Was kann man tun?“
Zunächst ist wichtig zu verstehen, warum der Junge sich in Clownerien flüchtet.
Je nach der Persönlichkeit des Kindes – und je nach der Beschaffenheit seiner sozialen Umwelt – können die oben beschriebenen Gefühle und Verstimmungen zu folgenden Verhaltensweisen führen:
Bei aggressiver Verstimmtheit:
Stören Kaspern Clownerie Zerstören Schlagen Schreien Heulen Zanken Andere ärgern Angreifen Trotzen Verweigern Wüten
Bei depressiver Verstimmtheit:
Rückzug Still werden Inaktivität Kaum bemerkt werden Selbstisolation Übertriebene Hilfsbereitschaft Müdigkeit Mattigkeit Somatisieren (Bauch-, Kopfschmerzen) Auto-Aggression Trauern Häufiges Weinen Zurückweichen vor Anderen und vor Aufgaben
Manche Kinder schwanken zwischen beiden Verstimmungsarten und den daraus resultierenden problematischen Verhaltensweisen hin und her, andere Kinder verhalten sich in der Familie aggressiv, in der Kita depressiv – oder umgekehrt.
Wie ist das zu erklären?
Das Hin- und Herschwanken zwischen depressiver und aggressiver Verstimmung erklärt sich aus den vielfältigen und oft diffusen Gefühlen, die eine Dauerfrustration hervorbringt.
Ein vereinfachtes Beispiel:
Das Kind ist ärgerlich und wütend darüber, dass in seiner Umwelt auch heute wieder nichts Interessantes geschehen ist. Es tobt und trotzt am Abendbrottisch. Die Reaktion der Eltern kann Verärgerung sein, sie machen dem Kind Vorhaltungen. Das Kind trotzt weiter, im Innern machen sich aber Schuldgefühle breit. Denn das Kind weiß, dass es seine Eltern genervt hat – und eigentlich will es das gar nicht, und doch ist es wieder passiert. Die Verstimmung kippt allmählich auf die depressive Seite. Das Kind ist traurig und verzweifelt über sein Unvermögen.
Die Eltern haben sich dann bald beruhigt, und das (noch) gesunde Kind kehrt zu seiner ausgeglichenen Normalform zurück.
Aber der nächste Anlass für Wut und Enttäuschung lässt bei einer Dauerfrustration nicht lange auf sich warten und der Prozess der Verstimmungen beginnt aufs Neue.
Das unterschiedliche Verhalten, das ein und dasselbe Kind in der Familie und im Kindergarten (oder in der Schule) zeigt, lässt sich folgendermaßen erklären:
Wir können immer wieder beobachten, dass gut erzogene hoch begabte Kinder, wenn sie wie Anita mit drei Jahren in den Kindergarten eintreten, alles richtig machen wollen. Sie sind sehr bemüht, alles schnell zu verstehen, die Regeln einzuhalten, keinen Ärger zu verursachen:
Sie wollen praktisch sofort „richtige“ Kindergartenkinder sein. Das kostet natürlich Kraft.
Übermäßig viel Kraft kostet es die Kinder aber erst dann, wenn sie im Kindergarten trotz aller Bemühung nicht wirklich klar kommen und sich nicht wirklich wohl, verstanden und angeregt fühlen. So erging es offenbar Anita.
Anitas Eltern konnten mit den kindlichen Aggressionen recht gelassen umgehen, deshalb zeigte Anita ihre Verstimmung und das daraus resultierende aggressive Verhalten ausschließlich zu Hause. Die Erzieherinnen in ihrem ersten Kindergarten verstanden nicht, was die Eltern von ihnen wollten, da Anita sich im Kindergarten völlig positiv-unauffällig verhielt. Die Vermutung lag für sie nahe, dass die Eltern zu Hause etwas falsch machten. Die Eltern spürten diese Vermutungen und waren dadurch zunächst sehr verunsichert.
Kinder, deren Eltern dagegen eher autoritär erziehen, kein Verständnis für kindliche Aggressivität aufbringen, sondern mit Strafen reagieren, versuchen die Strafen zu vermeiden, indem sie zu Hause „das brave Kind“ sind. Im Kindergarten, wo nicht gestraft wird, kommt die Verstimmung dann umso deutlicher zum Ausdruck. Auch in diesen Fällen haben Eltern und Erzieherinnen es schwer, sich gegenseitig zu glauben und zu respektieren.
In beiden Fällen sind die Beobachtungen von Eltern und Erzieherinnen tatsächlich sehr unterschiedlich, was die Kommunikation schwierig macht. Hilfreich ist hier auf jeden Fall, wenn beide Seiten möglichst konkrete Begebenheiten aus ihrem Wirkungsbereich berichten.
(Siehe auch Aggressiv-übergriffiges Verhalten und Hochbegabung und
Was ist Erziehung? Und wann beginnt sie?)
Was tun?
Hoch begabte Kinder im Kindergartenalter empfinden und erkennen meist selbst das Problematische an ihrem Verhalten. Deshalb hilft es oft wenig, sie immer wieder auf die Destruktivität ihres Verhaltens hinzuweisen; meistens sind sie sich darüber im Klaren.
Ohne Hilfe können sie aber nicht aus der frustrierenden Gesamtsituation herauskommen und deshalb wird auch das entsprechende Verhalten immer wieder auftauchen.
Welche Hilfe sie brauchen, zeigen uns hoch begabte Kinder, deren Verstimmtheit noch nicht tief greifend ist und die noch über gute psychische Ressourcen verfügen.
Von den Kindern lernen
Kinder, die in ihrer Familie gut verstanden und gefördert werden, produzieren oft eigene konstruktive Ideen und Strategien, um eine Unterforderungssituation zu beenden:
Sie zeigen im Kindergarten zum Beispiel
* eine verstärkte Hinwendung zur Erzieherin.
Dies ist ein für hoch begabte Kinder normales Verhalten, da sie in den Erwachsenen diejenigen vermuten, mit denen sie am ehesten auf einer Ebene kommunizieren können und von denen sie „das interessante Neue“ am ehesten erwarten.
Gut ist, wenn die Erzieherin diesen Erwartungen entsprechen kann.
* eine Suche nach verstärktem Kontakt zu älteren Kindern.
Manchmal schaffen sie es, diesen Kontakt selber herzustellen und sich die Anerkennung als gleichwertiger Spielpartner zu erkämpfen.
Empfehlenswert ist aber, sie von Anfang an darin zu unterstützen, zum Beispiel dadurch, dass sie bei Kleingruppenarbeit mit älteren Kindern absichtlich einbezogen werden.
Ein Erfahrungswert ist, dass ein vierjähriges hoch begabtes Kind manchmal eher die enge Freundschaft eines anderen hoch begabten Vierjährigen sucht als die eines nicht so begabten Sechsjährigen. Wenn dies nicht möglich ist, genießt das Vierjährige aber auch die Anregungen, die kluge Sechsjährige zu bieten haben.
* den Drang zur Übernahme von besonderer Verantwortung.
Wenn sich ein hoch begabtes Kind viel zutraut, möchte es auch die entsprechende Verantwortung übernehmen. Sie wollen vor allem oft gerne die Verantwortung für sich selbst in größerem Maße übernehmen, als wir es gewohnt sind: Einen Weg allein zurücklaufen (weil sie ihn sich gut gemerkt haben), alleine draußen spielen (weil sie sich in der Lage fühlen, keinen Blödsinn zu machen und alle Regeln zu beachten), usw.
(Siehe auch:
Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung:
Früher Drang zu Selbststeuerung und Selbstbestimmung.)
Gut ist, wenn das Kind auch im Kindergarten die erforderlichen Freiräume erhält.
* ein eigenständiges Entwickeln schwieriger Aufgaben.
So stellte sich einmal ein Sechsjähriger die Aufgabe, das Düsseldorfer Nahverkehrsnetz zu erforschen…
(Siehe das Beispiel von Jan in:
Beispiele zu: Großes Interesse an Systematik, an logischen Zusammenhängen. )
Gut ist, wenn die Erzieherinnen die hoch begabten Kinder bei ihren „großen Plänen“ aktiv unterstützen.
* die Komplizierung von Aufgaben und Spielregeln.
Dies scheitert oft daran, dass die anderen Kinder das nicht wollen und auf den „richtigen“ Spielregeln beharren.
Oft kann man auch beobachten, dass sich Kinder bei einer eigentlich einfachen Tätigkeit (ein Bilderbuch herstellen – einige Bilder malen, zusammentackern, fertig) höhere Ansprüche stellen und selbst ausgedachte Zusatzaufgaben einflechten (Bilderbuch: es soll ein richtiges Buch werden; und damit ich es am Computer schreiben kann, muss ich erst das Programm „Word“ lernen.)
* die selbstständige Aneignung besonderer Fähigkeiten.
Hoch begabte Kinder verfolgen früh eigene Projekte. Wenn sie merken, dass ihnen dafür bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten fehlen, üben sie ausdauernd – wogegen sie eher unmotiviertes Üben ablehnen und verweigern.
* den Drang zur Darstellung des eigenen Wissens.
Oft wird dies als lästig oder als „will wieder angeben“ abgetan. Je unzufriedener ein hoch begabtes Kind mit seiner Stellung in der Gruppe ist und damit, wie es von den anderen gesehen wird, desto unkontrollierter kann dieser Drang werden.
Gut ist, wenn das Kind darin unterstützt wird, sein Wissen so zu zeigen, dass die anderen Kinder „etwas davon haben“ und es deshalb interessant und positiv finden, wie im folgenden Beispiel, das die IHVO-Kursteilnehmerin Christa Liethen berichtete:
Ben (6;5) (Name geändert) ist das einzige Kind aus unserer Gruppe, das alle Flieger aus dem Ordner problemlos falten kann, deshalb wird er oft von den anderen Kindern um Hilfe gebeten.
Vor einigen Wochen hat Ben noch – auf Grund seiner Unterforderung, wie ich jetzt weiß – oft gestört und wurde von der Kindergruppe gemieden; jetzt hat er durch seine Fachkompetenz eine neue Position in der Gruppe erlangt. Ben wirkt zufriedener und ausgeglichener. Die anderen Kinder suchen gerne seine Nähe und sind neugierig auf seine Experimente. Ben langweilt sich seltener.
* den Drang, die Regeln zu diskutieren.
Hier wird das Bedürfnis deutlich, sich im System der Regeln zurechtzufinden, aber auch die Fähigkeit und Neigung zum kritischen Denken, wenn Regeln nicht einsichtig sind.
Gut ist, wenn alle Kinder dazu angeregt werden, sich mit den Regeln auseinander zu setzen, und dabei der Wunsch des hoch begabten Kindes, einzelne Regeln zu diskutieren, zu modifizieren oder neue Regeln zu entwickeln, beachtet wird.
Mit all diesen Verhaltensweisen und Ansprüchen zeigen uns die hoch begabten Kinder, was sie brauchen – und es ist dasselbe, was denjenigen hoch begabten Kindern gut tut, die sich selbst nicht so gut helfen können.
Um nicht den Mut zu eigenen Ideen zu verlieren und um Ideen wirklich erfolgreich umzusetzen, sind alle hoch begabten Kinder auf entsprechende konkrete Hilfe und Unterstützung durch die Erzieherin angewiesen. Ansonsten drohen die oben beschriebenen negativen Verhaltensweisen.
Vor allem dann nicht, wenn sie noch sehr jung sind oder wenn sie an anderer Stelle schon einmal Schiffbruch mit derartigen Ideen erlitten haben.
Ganz besonders diese Kinder brauchen das aktive, geduldige, verständnisvolle, aber klare und deutliche Angebot einer angemessenen Förderung.
Anita lernt der neuen Situation zu vertrauen
Anita hatte sehr verständnisvolle und kluge Eltern, deshalb konnte sie, als die Situation für sie in ihrem ersten Kindergarten schwer erträglich wurde, kraftvoll rebellieren.
Und so ging es weiter:
Bei einer Besichtigung unseres Kindergartens sah sich Anita genau um und stellte mir Fragen, die sonst nur Eltern zu stellen pflegen, zum Beispiel:
“Dürfen die Kinder hier alleine raus gehen?”
oder
“Muss man hier nicht alles aufessen?”,
auf die ich ihr ausführlich antwortete. Am Ende erklärte sie, dass sie hier “wohl gerne wiederkommen” würde.
In den ersten Wochen saß sie fast die ganze Zeit auf einem Stuhl und beobachtete. Sie nahm kaum Kontakt zu anderen Kindern auf und reagierte auch kaum auf Kontaktversuche der anderen Kinder. Bei Gruppenaktivitäten verhielt sie sich still und zurückhaltend und sagte höchstens mal einen kurzen Satz. Sie hielt von Anfang an alle Regeln ein und machte keinen unzufriedenen oder angespannten Eindruck.
Die Eltern gaben die Rückmeldung, dass Anita sich morgens ohne Murren für den Kindergarten fertig machte und abends viel darüber erzählte, was andere Kinder und was die Erzieherinnen gemacht hatten. Ihre Bewertung der Dinge zu dieser Zeit:
“Es geht mir gut.”
Siehe auch:
In dieser Zeit zeigte Anita im Kindergarten so wenig von ihrer Hochbegabung, dass meine Kolleginnen ungläubig reagierten.
Als nach einigen Wochen mehrere dreijährige Kinder neu in die Gruppe kamen, begann Anita engagiert mit den “Kleinen” zu spielen, die etwa ein Jahr jünger waren als sie selbst. Das machte sie, auch nach Ansicht meiner Kolleginnen “sehr intelligent”.
Für Roedell, Jackson & Robinson (2000, Seite 63) ( Literaturverzeichnis ) ist eine “bemerkenswerte Verhaltensweise” hoch begabter Vorschulkinder:
“Bemerke, wenn ein Kind seine Sprache an den Entwicklungsstand Jüngerer anpaßt, beispielsweise kürzere Sätze benutzt oder schwierige Worte vermeidet oder die Tonlage verändert, falls es mit sehr jungen Kindern spricht.”
Anita erleichterte diesen Kindern entscheidend die Eingewöhnung in den Kindergarten und wurde von ihnen begeistert als Anführerin akzeptiert. Anita spielte die Rolle einer Erzieherin und zeigte dabei hohe kommunikative und sozial-emotionale Fähigkeiten. Mit den übrigen Kindern der Gruppe hatte sie weiterhin kaum Kontakt.
Die Familie fuhr dann drei Wochen in Urlaub, was für die Integration in die Gruppe kein günstiger Zeitpunkt war. Es stellte sich also die in so einem Fall übliche fachliche Frage: Was kann ich als ihre Erzieherin tun, damit Anita sich im Urlaub schon wieder auf den Kindergarten freut?
Bei diesem hoch begabten Kind fiel mir das Vorschulprogramm ein, das ich jährlich für die Kinder startete, die dann im nächsten Sommer eingeschult wurden. Das war wöchentlich ein Vormittag, an dem die Vorschulkinder besondere und schwierige Dinge taten, einige Erkundungs-Ausflüge machten (mal ohne auf die Kleinen Rücksicht nehmen zu müssen) und mit mir als „Lehrerin” Schule spielten. Diese Vormittage waren sehr beliebt, und der nächste Jahrgang freute sich schon, da es bald für sie losgehen sollte; das hatte Anita bereits bemerkt. Ich fragte sie also vor ihrem Urlaub, ob sie sich das nach dem Urlaub mal angucken wollte.
Sie sollte prüfen, ob ihr das Spaß machen könnte.
Anita wird wieder froh
Die Eltern erzählten dann, dass Anita sich tatsächlich auf das Vorschulprogramm freute und immer wieder fragte, wann sie wieder in den Kindergarten gehen könnte.
Am ersten Vorschulvormittag waren die anderen Kinder erstaunt, dass Anita mit in den Nebenraum ging, und wollten sie aufklären, dass sie da jetzt nicht hingehörte. Anita geriet in leichte Bedrängnis, ich stand ihr bei und erklärte den anderen: “Das ist o.k., Anita macht heute mal mit und guckt, ob das was für sie ist.” Die Kinder erkannten dann sehr schnell, dass Anita gut in die Gruppe der Vorschulkinder passte, sie machte mit und konnte sehr gut mithalten.
Für Anita brachte das den Durchbruch: Sie freute sich nicht nur auf die interessanten Vorschul-Vormittage, sondern war von nun an auch als Spielpartnerin bei den Großen voll akzeptiert. Sie war da angekommen, wo sie mit ihren erst 4;3 Jahren ihrer Entwicklung nach hingehörte: bei den fünfeinhalb- bis sechsjährigen Kindern. Im nächsten Sommer ging sie wie selbstverständlich in die Schule. Sie übersprang auch noch die 1. und die 4. Klasse.
Datum der Veröffentlichung: Dezember 2011
Copyright © Hanna Vock 2003, siehe Impressum.
Nachtrag August 2018
Kurz und knapp berichtet eine Mutter über die Erfahrungen ihres inzwischen 11-jährigen Sohnes:
„Sehr geehrte Frau Vock,
gerade habe ich Ihre interessanten Beiträge im Internet entdeckt und hätte mir gewünscht, das schon vor ein paar Jahren gelesen zu haben.
Das hat so gut getan, zu lesen, dass es normal ist, wenn er Spielregeln erweitert (oft bekommt er zu hören: Du willst nur, daß alles so läuft, damit Du gewinnst – niemand versteht, dass er das Spiel nur spannender machen möchte.)
oder dass er im Kindergarten selbst entscheiden wollte, ob er jetzt rausgeht oder drin bleibt
oder dass es normal ist, wenn er nicht „üben“ will, sondern lernt, wenn ihn etwas interessiert.
Und leider hat er bisher von seinem Umfeld (Erzieherinnen, Lehrerin in der Grundschule, diverse Lehrer in der weiterführenden Schule) kaum Unterstützung und so gut wie keine positive Rückmeldung bekommen.
Sein „Drang, Regeln zu diskutieren“, der aus dem Wunsch erwächst, die Regeln nicht nur zu kennen, sondern zu verstehen, wurde ihm von seiner Grundschullehrerin als „Infrage-Stellen ihrer Kompetenz“ ausgelegt. Später war er auf einer anderen Schule. Dort hat er einmal eine lange Diskussion mit der Schulleiterin gehabt. Diese hat ihn glücklicherweise ernst genommen. So ernst, dass sie zunächst über seine „Kritik“ nachgedacht hat und ihn dann sogar zu Hause angerufen hat, um ihm genau zu erklären, dass diese Regel so und nicht anders ist, weil…
Das Gespräch hat eine halbe Stunde gedauert. Danach war für unseren Sohn die Welt in Ordnung, weil er
a) sich ernst genommen fühlte und
b) verstanden hatte, dass die Schulleiterin ihm gegenüber auf der Grundlage des geltenden Schulrechts gehandelt hatte.
(Leider gibt es diese Schule nicht mehr.)