von Heike Miethig
Rachel (Name geändert) ist in der Gruppe meiner Kollegin. Da ich als teil-freigestellte Leiterin arbeite, kenne ich die Kinder dieser Gruppe nicht ganz so gut. Deshalb habe ich mich auf eine intensive, komprimierte Beobachtung über eine Zeit von zwei Wochen eingestellt. In dieser Zeit habe ich Rachel täglich über mehrere Stunden beobachtet. Die Zeit habe ich gleichzeitig genutzt, um wieder einmal viel vom Gruppengeschehen in dieser Gruppe mitzubekommen und auch die anderen Kinder dieser Gruppe besser kennen zu lernen.
Rachel ist mir schon früh durch ihre Selbstständigkeit sowie durch ihr konzentriertes und ausdauerndes Spielverhalten aufgefallen. Ihre rasche Auffassungsgabe und Lösungsorientiertheit hebt sie im sprachlichen, kognitiven, im fein- und grobmotorischen und besonders im kreativen Bereich hervor.
… kurz gefasst …
Die Autorin hat das kleine Mädchen sehr ausführlich zum Bereich
A „Allgemeine Merkmale“ des Beobachtungsbogens beobachtet und beschrieben. Im Verlaufe dieser Arbeit wurde Rachels sprachliche Begabung deutlicher, und die Autorin hat ihre Darstellung auch auf den Bereich „C Sprachliche Intelligenz“ ausgeweitet. Hieran knüpften sich später auch die besonderen Förderangebote für Rachel.
Auffällig finde ich, dass sie innerhalb der Gesamtgruppe, zum Beispiel bei der Projektarbeit im Kreis, sehr auf die anderen Kinder achtet, ihre Reaktionen abwartet und sich den Äußerungen der Kinder anpasst und sie wiederholt.
Dieses Verhalten bei gezielten inhaltlichen Angeboten einerseits und das doch sehr selbstbewusste Auftreten im Freispiel und bei spielerischen Aktivitäten andererseits, fand ich sehr widersprüchlich, so dass hieraus für mich eine Aufgabenstellung entstand.
Zielsetzung:
Ich möchte herausfinden:
- Über welche Fähigkeiten verfügt Rachel in den verschiedenen Bereichen?
- Wie geht sie mit erhöhten Anforderungen um?
- Verfügt sie vielleicht in den verschiedenen Bereichen über unterschiedliche Begabungen?
- Hat sie besondere Interessenschwerpunkte?
- Warum verhält sie sich bei der inhaltlichen Projektarbeit in der Gesamtgruppe so abwartend und angepasst?
Aufgabenstellung:
Ich möchte Rachel Spielangebote machen, die eher dem Leistungsvermögens eines 6-jährigen Kindes entsprechen, und dadurch herausfinden, wie sie mit den vielleicht entstehenden Schwierigkeiten umgeht (= provozierende Beobachtung).
A 1 Allgemeiner Entwicklungsvorsprung, großes Interesse für Buchstaben und Zahlen
1. Geometrische Grundformen erkennen, benennen und damit umgehen
Ich habe ein Spiel ausgewählt, das die Grundformen Quadrat, Kreis, Dreieck und Rechteck in unterschiedlichen Größen und Farben enthält. Gleichzeitig stellt es Umrisse zum Beispiel von einem Haus, einem Baum oder einer Lokomotive zur Verfügung. Diese Umrisse können mit den Grundformen ausgelegt werden. Ich erkläre ihr das Spiel, wobei sie die Aufgabenstellung sofort erfasst und umsetzt.
Ich frage sie, welche Grundformen sie kennt und benennen kann. Sie nennt Viereck, Dreieck und Kreis. Das Rechteck kann sie nicht benennen. Ich benenne das Rechteck und erkläre dazu, dass es zwei lange und zwei kurze Seiten und vier Ecken wie ein Quadrat hat.
Rachel sagt dazu: “Dann ist es ein Langeck.“
(Dieses Bild hat sie von sich aus und ohne Hilfe gemalt.)
Ich frage sie, welches Umrissbild sie gern auslegen möchte. Sie entscheidet sich für ein Haus, arbeitet ruhig und konzentriert. In drei Minuten hat sie das Haus mit den geometrischen Formen ausgelegt. Während dieser Zeit hat sie nicht gesprochen. Ihre zweite Wahl einer Vorlage fällt auf die Lokomotive. Diese Lokomotive könnte sie sehr leicht mit der größeren Variante der Formen auslegen. Rachel entscheidet sich aber für die kleineren Grundformen. Auf meinen Hinweis, sie könne auch die größeren Formen verwenden, antwortet sie: “Will ich aber nicht.“
Auch beim zweiten Bild arbeitet sie konzentriert und korrigiert sich beim Auslegen des Schornsteins, indem sie die gelegten zwei Quadrate entfernt und sie durch ein Rechteck austauscht. Auch beim zweiten Bild spricht sie nicht und beendet es ebenfalls nach drei Minuten. Es erscheint mir, dass sie die Grundformen (bis auf das Rechteck) gut kennt und ihr der Umgang damit leicht fällt. Ihr räumliches Vorstellungsvermögen ist anscheinend gut ausgeprägt.
Dann beginnt sie ein Auto und ein Haus ohne Vorlage aus den geometrischen Formen zu legen. Aus freien Stücken und ohne Aufforderung meinerseits. Dies gelingt ebenso schnell und mühelos.
2. Zahlen und Buchstaben
Auf meine Bitte hin, mir einfach mal zu zeigen, wie weit sie zählen kann, beginnt Rachel freudig. Sie zählt bis zwanzig, wobei die Aufzählung bis 14 fehlerfrei bleibt und danach Verwechslungen der Zahlen auftreten. Sie hat sichtlich Spaß daran. Als ich sie bitte, 10 Perlen aus der Kiste zu holen, gelingt das durch Abzählen mühelos. Dann bitte ich sie, 5 Perlen zu entfernen. Sie tut es und sagt: “Dann bleiben 5 Perlen übrig.“ Meine nächste Äußerung: „Wenn ich dir jetzt 2 Perlen wegschnappe – wie viele Perlen hast du dann noch?“ Sie überlegt kurz, schaut mich sehr gezielt an und nennt die Zahl 3. Ich nehme die 2 Perlen jetzt tatsächlich weg. Sie schaut auf die übrigen Perlen, dann auf mich und sagt: “Siehste, hab ich doch gesagt.“
Nach diesem Schema gehen wir einige Male vor. Dabei zeigt sich, dass sie sich im Zahlenraum bis 5 sicher bewegen kann (ohne abzuzählen).
Ab der Zahl 6 beginnt sie abzuzählen und wirkt unsicher. Hier verändere ich die Aufgabenstellung, weil ich den Eindruck habe, dass sie immer unsicherer wird, Angst vor Fehlern hat und sich zurückziehen will. Da ich Rachel aber nicht in diesem Gefühl zurücklassen will (und ich nicht abbrechen will), wechsele ich spontan auf die spielerische Ebene. Ich frage sie, wer von uns beiden größer oder kleiner ist. Das erkennt sie sofort. Dann sage ich, sie solle versuchen größer zu sein als ich, und ich versuche gleichzeitig, kleiner zu sein als sie. Ich gehe in die Hocke, und sie versteht sofort, was gemeint ist, stellt sich auf einen Stuhl und ruft freudig: “Ich bin größer!“
Anschließend suchen wir beide Gegenstände aus dem Raum aus und vergleichen sie miteinander, ob sie größer, kleiner, dicker oder dünner sind. Jetzt wirkt sie wieder sehr sicher und kann die Unterschiede leicht benennen.
Weil ich in der Einzelaktivität den Eindruck gewonnen hatte, dass Rachels Angst, zu versagen oder Fehler zu machen, sehr schnell aufkommt, habe ich einen Tag später eine Kleingruppe aus vier Kindern im Alter von 4 bis 5 und drei Kindern im Alter von 5 bis 6 Jahren zusammengestellt.
Mit ihnen habe ich kleine mathematische Spiele bis zur Zahl 7 gespielt. Wenn 5 Kinder im Kreis stehen und 1 versteckt sich – wie viele bleiben? Oder 3Teile liegen im Raum – wie viele sind versteckt, um auf die Zahl 5 zu kommen, usw.
Hier war Rachel sehr aktiv, hat die Ergebnisse frei in den Raum gerufen. In der Kleingruppe fühlte sie sich sichtbar wohl. Sie lachte und war sehr unbeschwert. Als wir bei der Zahl 7 angekommen waren, fiel mir auf, dass ihre Aufmerksamkeit den anderen Kindern gegenüber wuchs.
Sie begann jetzt die Kinder zu beobachten und orientierte sich wieder an den älteren, war abwartend. An der Suche der Gegenstände oder anderen Aufgaben beteiligte sie sich aber gelöst. Sie lachte mit den anderen Kindern und freute sich, wenn sie ein Teil fand. Aber bei allen Aufgaben, die über die Zahl 5 hinausgingen, äußerte sie keine eigenen Beiträge, sondern wiederholte die Aussagen der anderen Kinder.
Im Bereich der Buchstaben, wie überhaupt der Sprache, wirkt Rachel sehr interessiert. Hier wollte ich herausfinden, welche Buchstaben sie schon kennt und wie sie mit ihnen umgeht. Ausgewählt habe ich ein Buchstabenpuzzle, bei dem der Buchstabe (Anlaut) dem Bild zugeordnet werden soll, zum Beispiel A zu Apfel; nur dann passen die Puzzleteile zueinander.
Ich nehme zuerst die Karten mit den Bildern zur Seite, verteile nur die Buchstaben auf dem Tisch und bitte Rachel, diejenigen Buchstaben heraus zu suchen, die sie schon kennt.
Sie beginnt damit die Buchstaben A, O, K, T, M, N, I, S, L, F heraus zu suchen, jeweils mit den Worten: “Das kenne ich, das kenne ich.“ Während Rachel die Buchstaben heraus sucht, sortiere ich die dazu passenden Bilder heraus und lege sie auf einen Haufen. Dann bitte ich sie zu versuchen, die Bilderkarten den Buchstaben zuzuordnen.
Die erste Karte zu dem Buchstaben L zu Löwe suchen wir gemeinsam heraus, und Rachel setzt sie zusammen. Sie sagt: „In meinem Namen ist auch ein L!“
Die Aufgabenstellung an sich wird von Rachel sofort verstanden.
Es fällt ihr aber schwer, die weiteren Buchstaben den Bildern zuzuordnen, so dass ich ihr Hilfestellung gebe, indem ich den Buchstaben sehr deutlich ausspreche und die jeweiligen Bilder benenne. Das mache ich dreimal. Daraufhin sucht sie die Bilder heraus und setzt Buchstaben und Bild zusammen. Ich bitte sie, den nächsten Begriff einmal allein heraus zu suchen. Sie schaut sich die durcheinander liegenden Buchstaben- und Bilderkarten an und sagt: “Ich glaub, ich kann das nicht.“ Ich ermutige sie und sage, sie solle es noch einmal versuchen, ansonsten würden wir es gemeinsam beenden.
Sie schaut sich die Karten sehr genau an und beginnt. Sie orientiert sich dabei an der Form der Puzzleteile und setzt die Karten in kurzer Zeit zusammen, wobei ich den Eindruck habe, dass die Buchstaben jetzt völlig uninteressant sind. Sie will die Karten zusammensetzen. Es fasziniert mich, wie sie für sich eine Lösung findet (nämlich nach der Form der Karten zu gehen) um es selbstständig zu beenden.
Anschließend sagt sie: “Das ist ein K wie bei Karen.“
Als wir das Spiel gemeinsam einräumen, fällt ihr der Buchstabe Q auf, und sie fragt, was das für ein Buchstabe sei. Ich benenne ihn.
Sie sagt: “Ich finde ihn schön!“ Ich frage nach dem Grund, und sie sagt: “Weil er rund ist und einen Strich hat.“
Am nächsten Tag malt sie ein Bild. Das Bild ist sehr schön, und sie hat in vielen bunten Farben ihren Namen und ihr Alter (4) auf das Blatt geschrieben. Ich bin erstaunt, weil sie ihr Alter mit darauf geschrieben hat und frage sie, ob sie Lust hat, mir die Zahlen aufzuschreiben, die sie schon kennt. Sie antwortet: “Na klar!“ Sie beginnt selbstständig. Als ich einige Minuten später wieder nach ihr schaue, hat sie Zahlen sowie die ihr bekannten Buchstaben auf das Blatt geschrieben. Unter anderem den Buchstaben Q. Ich frage sie, ob sie den Buchstaben Q noch vom Vortag behalten hat. Sie sagt: „Nein, mein Vater braucht den Buchstaben immer zuhause.“
A 2 Schnelle Auffassungsgabe und Neugierde
Eigentlich wird in vielen Situationen des Alltags und auch in gezielten Aktivitäten deutlich, wie viel Interessiertheit und Neugierde bei Rachel vorhanden ist. Sie interessiert stets, was andere Kinder tun, insbesondere die Vorschulkinder. Sie stellt sich beobachtend daneben und beteiligt sich durch Hinweise und Mithilfe. Zum Beispiel hatte ein Vorschulkind Probleme mit einem geometrischen Puzzle. Rachel beobachtet dies und sagt sehr freundlich: „Ich kann das, soll ich dir helfen?“
Das andere Kind nickt nur, und sie beenden das Puzzle gemeinsam. Deutlich wird auch hier, dass Rachel sehr schnell das System des Puzzles erkennt und strategisch umsetzt, indem sie die verschiedenen Teile immer parallel zueinander anordnet. Alltägliche und auch neue Handlungsabläufe erfüllt sie mit Leichtigkeit.
Sie ist grundsätzlich an allem Neuen interessiert, die Bereiche sind vielfältig. Sie kann unterschiedliche Aufgabenstellungen bei Spielen oder Aktivitäten sehr schnell erfassen und umsetzen.
Ihre Merkfähigkeit wird besonders deutlich beim Lernen von Texten und Liedern. Bei der Einführung eines neuen Liedes konnte sie zum Beispiel nach dem dritten Vorsingen der Strophe den Text und die Melodie fehlerfrei wiedergeben. Sie meldete sich freiwillig, um allein vorzusingen. Sie war die einzige, der es fehlerfrei gelang. Rachel beteiligt sich sehr gern an Auftritten bei Gottesdiensten, Festen und Feiern, wenn vorgesungen wird und wenn Gedichte vorgetragen werden. Dabei wirkt sie sehr selbstbewusst und sicher. Die Betonung der Inhalte gelingt ihr ausgesprochen gut.
A 3 Orientierung an älteren Kindern und Erwachsenen
Rachel beobachtet häufig die älteren Kinder und hat auch keine Barrieren, um mit ihnen in Kontakt zu treten, bleibt hierbei aber vorsichtig. Bevorzugt spielt sie allerdings mit gleichaltrigen Kindern, wobei sie hier häufig die Führungsrolle übernimmt. Sie sucht selten den Kontakt zu Erwachsenen, und an ihren Gesprächen scheint sie nicht interessiert.
A 4 Verblüffende Gedächtnisfähigkeit
Wie schon erwähnt, verfügt Rachel anscheinend über eine besondere Merkfähigkeit. Dies gilt meiner Meinung nach insbesondere für den Sprachgebrauch (Texte, Lieder, etc.).
Aber auch alltägliche Dinge, wie zum Beispiel den Ablauf von Konflikten kann sie auch noch nach Tagen genau wiedergeben.
Vor ein paar Tagen beobachtete sie genau den Konflikt zwischen zwei Schulkindern. Es ging darum, dass ein Kind dem anderen das Spielzeug entwendet hatte. Es folgte eine verbale Auseinandersetzung mit Gerangel bis zu körperlichen Übergriffen. Rachel beobachtete den Konflikt aus der Entfernung, bis er gelöst war.
Zwei Tage später entstand eine ähnliche Situation. Ich löste mit den Kindern den Konflikt, und Rachel trat an mich heran und sagte: “Das war wie bei Mark und Luca“ (Namen geändert) und begann deren Konflikt minutiös zu schildern. Sie wiederholte teilweise sogar die Wortbeiträge der beteiligten Kinder. Das erscheint mir schon sehr außergewöhnlich.
A 5 Lange Aufmerksamkeit und starke Eigenmotivation
Im sprachlichen und kreativen Bereich erscheint ihre Aufmerksamkeit unerschöpflich. Wenn Geschichten erzählt oder vorgelesen werden – auch über einen längeren Zeitraum von 30 Minuten – bemerkt man bei Rachel kaum ein Zeichen der Unruhe. Ihre Augen sind fast ausschließlich auf den Erzähler gerichtet.
Ihrem Spiel bringt sie ebensolche Aufmerksamkeit entgegen. Bei Legespielen, die für 6-Jährige gedacht sind, arbeitet sie enorm konzentriert, erkennt sehr schnell das System und bleibt bei der Sache, bis sie es erfolgreich beendet hat.
Einmal wurde es an dem Tisch, an dem sie puzzelte, sehr unruhig. Zwei kleinere Kinder spielten sehr laut neben ihr. Ein drittes Kind kam hinzu und verstärkte durch ein lautes: Gib mir das! das Spektakel. Rachel ließ sich überhaupt nicht stören, sie zeigte keinerlei Reaktion auf diese wirklich massive Unruhe. Sie brachte ihr Puzzle ruhig und in voller Aufmerksamkeit auf ihr Tun zu Ende. Als sie es fertig hatte, suchte sie sich gleich ein neues aus und machte weiter. In diesem Moment habe ich Rachel bewundert, mir wäre es sicher nicht gelungen, so gelassen und konzentriert zu bleiben!
Besonders im Bereich Kunst sehe ich bei ihr eine hohe Eigenmotivation. Malen gehört neben dem Puzzeln zu ihren größten Leidenschaften. Wenn sie beginnt ein Bild zu malen, hat man den Eindruck, als wäre es in ihrem Kopf schon fertig. Sie malt zielgerichtet mit genauer Vorstellung, wo auf ihrem Bild etwas platziert wird. Die Details kommen genauso bewusst und schnell auf das Bild. Ihre Bilder wirken klar, konkret und strukturiert, sind bunt und fröhlich.
Ich möchte sagen, dass Rachel insgesamt sehr viel eigene Motivation besitzt. Ich habe sie selten erlebt, ohne dass sie beschäftigt war, sie ist immer auf der Suche nach Aktivität. Ich könnte keinen Moment beschreiben, wo sie gelangweilt war oder sich nicht freudig zu beschäftigen wusste.
A 6 Kritische Einstellung zur eigenen Leistung – hohe Ansprüche an sich selbst
Ich glaube, dass Rachel ihre eigene Leistung schon recht gut einschätzen kann. Sie scheint bei gezielten Aktivitäten abzuwägen, ob es ihr gelingen könnte oder nicht. Wenn sie zum Beispiel im Kreis gefragt wird, ob sie die Spielleitung übernehmen möchte, antwortet sie sehr klar: „Ja, das kann ich!“ Wenn sie den Eindruck gewinnt, es könnte ihr nicht gelingen, verneint sie ebenso deutlich und bestimmt. Ich denke schon, dass sie den Anspruch an sich hat, alles „richtig“ zu machen. So wollte sie mir zum Beispiel an der Kletterstange eine Rolle vorturnen, die sie normaler Weise sehr gut beherrscht. Bei dieser „Vorzeigerolle“ rutschte sie ab und fiel auf den Boden. Sie begann zu weinen. Ich fragte sie, ob sie sich verletzt habe, und sie antwortete: “Nein, weil ich es nicht geschafft habe!“ Ich ermunterte sie, es noch einmal zu versuchen, was sie erst verneinte, aber dann doch tat. Diesmal gelang es ihr, sie strahlte und sagte: “Das habe ich ja auch schon öfter gemacht.“ Außer dieser Situation gibt es noch andere, die nahe legen, dass sie schnell Versagensängste entwickelt.
A 7 Vorliebe für Komplexität, Schwierigkeitsgrad bei neuen Aufgaben
Hier konnte ich nicht beobachten, dass Rachel besonders schwierige oder die Minimalvarianten wählt.
A 8 Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit
Rachel war schon zu Beginn ihrer Kindergartenzeit sehr selbstständig. Sie konnte sich bereits allein an– und ausziehen.
Ihre Spielinteressen hat sie auch schon früh eigenständig umgesetzt. Wichtig war ihr auch, den Toilettengang allein zu bewerkstelligen. Wenn ihr Hilfen angeboten werden, zum Beispiel beim Schließen des Reißverschlusses oder beim Tragen von Spielmaterial, sagt sie stets: “Das kann ich schon allein!“ Sie versucht auch in Konfliktsituationen allein zurecht zu kommen. Als ein Junge ihr einen Lastwagen entwenden wollte und sie von ihm auch körperlich angegriffen wurde, wehrte sie sich, indem sie den Jungen wegdrückte und sich mit ihrem gesamten Körpergewicht auf den Lastwagen legte. Sie wehrte die Attacken des Jungen stetig ab, bis der irgendwann aufgab. Ich hatte den Eindruck, sie hätte den Lastwagen nur unter äußerster Bedrängung hergegeben. Nur im Notfall wendet sie sich an die Erzieherin. Kleinere Probleme im alltäglichen Geschehen löst sie in der Regel ohne Hilfestellung. Wenn zum Beispiel der Maltisch noch nicht fertig ist, beginnt sie einfach damit, die Tischdecke aufzulegen und die notwendigen Materialien bereit zu stellen.
Die Fähigkeit zur Selbstständigkeit ermöglicht ihr auch eine hohe Unabhängigkeit. In ihrem Spielverhalten zeigt sie, dass sie ausgesprochen gern die Führungsrolle übernimmt. Dies zeigt sich insbesondere in der Puppenecke, wo sie das Spielgeschehen in der Regel beherrscht. Sie bestimmt den Spielinhalt, zum Beispiel: Wir sind zur Hochzeit eingeladen. Dann sucht sie für das andere Mädchen die Kleidung und den Schmuck aus und sagt ihr, wo sie sich platzieren soll. Die Spielvorschläge, die durch das andere Kind eingebracht werden, verneint sie kurz und knapp. Sie fährt unbeirrt mit ihrem Spiel fort und sagt forsch: “Ich decke jetzt den Tisch!“ Auch weitere Versuche von Vera (Name geändert), in das Spielgeschehen einzugreifen, scheitern nach ähnlicher Manier. Manchmal mit Diskussion, manchmal ohne, was an dem Ergebnis, dass Rachel sich durchsetzt, nichts ändert.
Ihre Unabhängigkeit zeigt sich auch daran, dass sie sehr selten um Spielpartner wirbt (was sie auch selten braucht), da sie sich immer unabhängig beschäftigen kann, Spielideen hat und Spielvorschläge macht, denen sich die anderen Kinder gerne anschließen. Insgesamt erscheint sie mir sehr lösungsorientiert und entscheidungsfreudig.
A 10 Wunsch nach frühzeitiger Einschulung
Bisher hat Rachel den Wunsch, zur Schule zu gehen, noch nicht geäußert. Sie interessiert sich für die Aufgaben der Schulkinder, beobachtet sie dabei und fragt gelegentlich, ob sie auch so eine Aufgabe bekommen könnte. Meistens beschränkt sie sich aber auf die Beobachtung.
A 11 Qualität der Fragen und Beispiele
Mir ist aufgefallen, dass Rachel viele Verknüpfungen durch Vergleiche herstellt. Zum Beispiel ging es um das Einpflanzen von Apfelkernen, die später zu kleinen Apfelbäumen heranwuchsen. Rachel sagt dazu: „Ich habe mal eine Backpflaume eingepflanzt, daraus ist aber nichts geworden.“ Auch bei Geschichten, Bilderbüchern und alltäglichen Vorkommnissen stellt sie gern Vergleiche an, die entweder ihr häusliches Umfeld betreffen oder ihr eigenes Erleben.
A 13 Innovativer Gebrauch von Materialien – künstlerische Originalität
Rachel malt sehr viel. Ihre Bilder sind phantasievoll und detailliert gestaltet.
(Ein „Traumbild“: Ich fliege mit dem Sandmännchen und den Luftballons durch die Luft.)
Die Menschen, die sie malt, lachen, haben bunte Kleidung an; alle Körperteile sind vorhanden, die Proportionen stimmen. Ihre Figuren haben eine Frisur. Rachel malt grundsätzlich gegenständlich und sehr strukturiert. Alles soll an seinem „richtigen“ Platz sein. Abgrenzungen einzuhalten gelingt ihr mühelos.
Rachel bastelt auch sehr gerne. Sie schneidet sicher und korrekt aus. Die Bastelangebote beendet sie erstaunlich schnell und zügig. Nach einmaliger Erklärung fertigt sie die Bastelarbeit selbstständig und ohne Hilfestellung an. Sie behält genau, wie sie welche Teile zusammensetzen muss. Auch hier legt sie Wert auf ihre Eigenständigkeit.
Um herauszufinden, wie sie mit unterschiedlichen Materialien umgeht, habe ich an einem Morgen den Maltisch mit folgenden Dingen vorbereitet:
- unterschiedliche Papiersorten
- Erbsen
- Bohnen
- Korken
- kleine Plastikeier
- Federn
- Muscheln
- unterschiedliche Stoffblumen
- Klebstoff
- Wolle
- dicke Pappe
Rachel hat die einzelnen Dinge sehr genau betrachtet, bekannt waren ihr alle Materialien. Sie hat begonnen einzelne Teile auf das Blatt zu kleben, ohne dass ich den Eindruck hatte, dass es ihr Freude bereitet. Sie klebte weiter ein Teil neben das andere.
Nach kurzer Zeit sagte sie: “Ich habe keine Lust mehr.“
Ich setzte mich zu ihr und fragte, ob sie etwas Bestimmtes aufgeklebt hätte. Sie sagte: “Nö, ich habe nur geklebt.“
Ich hatte den Eindruck, dass sie mit dieser etwas abstrakten Form der Gestaltung nicht viel anfangen konnte oder an dieser Stelle mehr Anleitung braucht.
A14 Sinn für Humor und Wortspiele
Rachel ist ein fröhliches Kind, das gerne lacht. Wenn zum Beispiel lustige Geschichten erzählt werden, stellt sie ebenso lustige Vergleiche an und erzählt diese ausgesprochen freudig. Lustige Reime, wie zum Beispiel “ Ilse Bilse keiner will se, kam der Koch und nahm sie doch“ findet Rachel rasend komisch und sagt dazu: “Der hat die Ilse geheiratet.“ Tolle Schlussfolgerung! Ich glaube, dass sie viel Freude an Wortspielen hat. Ironische Bemerkungen im Alltag nimmt sie auf, lächelt auch, aber kommentiert sie nicht.
C 1 Sprachliche Intelligenz, großer Wortschatz
Im Gespräch mit Rachel wird schon deutlich, dass sie ihre Bedürfnisse und Anliegen sprachlich sehr gut vermitteln kann. Sie spricht klar und fließend. Ihr großer Wortschatz wurde auch durch die Lehrer der Sprachschule, die regelmäßig unsere Einrichtung besuchen, um festzustellen, ob bei den Kindern Sprachverzögerungen oder Sprachfehler vorliegen, bestätigt. Alle ihr vorgelegten Bilder wurden von ihr richtig benannt, und sie wies noch auf Einzelheiten hin. Zu diesem Zeitpunkt war sie 3;7 Jahre alt. Zum Beispiel sollte das Wort Pflaster benannt werden. Zu sehen war ein Kind, das ein Pflaster auf der Wange hatte.
Rachels Worte: “Das ist ein Pflaster, das Kind hat sich weh getan.“ So hat sie viele der Bilder sehr selbstverständlich genauer beschrieben.
Bei der Beschreibung einer vorgelegten Bildergeschichte konnte sie die Situationen sehr schnell erfassen. Die Handlungsabläufe schilderte sie genau, und die Bildbeschreibung war umfangreich. Zum Beispiel sagte sie: „In dem Haus wohnt ein Opa, und das ist sein Hund. Die beiden Kinder haben Angst vor dem Hund und trauen sich nicht über den Zaun zu klettern“ usw. So fließend, mit Haupt- und Nebensätzen, schilderte sie mit Leichtigkeit die Situation auf dem Bild. Auch die Stimmung, die das Bild vermittelt, konnte sie sofort erspüren. So sagte sie: „Die Jungs haben Angst.“
Ich finde, dass hier eine große Sprachgewandtheit erkennbar wird.
C 2 Schneller Erwerb von Fremdsprachen
In unserer Einrichtung wird seit sechs Jahren Englisch angeboten. Rachel hat zu Beginn ihrer Kindergartenzeit an einer Probestunde teilgenommen. Nach Aussage der Lehrerin sei es ihr leicht gefallen, sie hätte viel Spaß dabei entwickelt. Die Eltern haben sich aber gegen den Englischkurs entschieden, so dass ich nicht beurteilen kann, ob es ihr dauerhaft zugesagt hätte.
C 3 Gute Ausdrucksfähigkeit
Rachel spricht sehr fließend und zusammenhängend. Ihre Äußerungen wirken durchdacht. Ihr Satzaufbau ist stimmig. Haupt- und Nebensätze verwendet sie seit langem. Sie bildet Vergangenheitsformen völlig richtig. Da sie Texte inhaltlich sehr gut erfassen kann, gelingt es ihr ausgesprochen gut, richtig zu betonen. Sie kann Inhalte und Kernaussagen auch sehr genau und treffend schildern. Sie erkennt verschiedene Buchstaben und beginnt sie zusammenzufügen. Lesen kann sie noch nicht.
E Inter– und intrapersonale Intelligenz
E 1 Besonders gute Beobachtungs– und Wahrnehmungsfähigkeit
Rachels zweiter Vorname könnte Beobachtung sein. Besonders auffällig wird es im Kreis in der Gesamtgruppe. Bei Sachgesprächen oder wenn Bilderbücher besprochen werden, ist sie sehr aufmerksam. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass sie die Kinder ganz genau beobachtet und die Reaktionen der Kinder abwartet. So achtet sie sehr darauf, welche Antworten die Kinder auf Fragen der Erzieherin geben. Sie wartet die Antworten ab und wiederholt sie dann. In der Gesamtgruppe wiederholt sich dieses Verhalten laufend. Zum Beispiel kam es in einer Geschichte vor, dass ein Kind gähnte. Die Erzieherin fragte Rachel, ob sie das Gähnen einmal vormachen möchte. Rachel verneinte sehr absolut. Als die anderen Kinder dann aber gähnten, gähnte sie freudig mit.
Auf inhaltliche Fragen der Erzieherin wiederholt Rachel stets die Antworten der Anderen. Ich habe den Eindruck, dass sie sich nicht traut, in der Gesamtgruppe eigene inhaltliche Beiträge zu liefern.
Vollkommen anders verhält sie sich, wenn im Kreis in der Gesamtgruppe Spiele gespielt werden. Hier bringt sie sich sehr gern und freudig ein und übernimmt auch gern eine Führungsrolle. Hier ist sie keineswegs zurückhaltend oder vorsichtig. An diesem Punkt gibt sie ihre Beobachtungsposition auf.
Rachel malt sehr viel. Nebenbei beobachtet sie die Kinder, die mit ihr am Maltisch sitzen. Sie hält dann inne, schaut die Kinder nur an und arbeitet einige Zeit später kommentarlos weiter.
E 2 Hohe Fähigkeit zur sozialen Anpassung
Rachels Verhalten in der Gruppe möchte ich als unauffällig bezeichnen. Innerhalb des Gruppengeschehens fällt sie weder durch große Zurückhaltung noch durch aggressives Verhalten auf. Die bestehenden Regeln hält sie ein und begehrt fast nie auf. Sie wirkt oft bemüht, das „gewünschte“ Verhalten zu erfüllen, worauf nach Aussagen der Mutter im familiären Umfeld auch sehr geachtet wird.
Sie weist auch andere Kinder zurecht, wenn sie glaubt, sie hätten sich falsch verhalten. Dass sie bewusst Fehler macht, konnte ich bisher nicht beobachten. In neuen Gruppen oder Situationen verhält sie sich zunächst vorsichtig, findet sich dann aber schnell in die neue Situation ein.
E 3 Führungskompetenz
Auf der spielerischen Ebene zeigt Rachel sehr deutlich, dass sie über Führungskompetenz verfügt. Sie füllt diese Führungsrolle aus, indem sie das Spielgeschehen bestimmt, Spielteilnehmer aussucht, ihr eigenes Spielgeschehen und das der anderen strukturiert. Sie sorgt in der Regel auch für das nötige Material oder beauftragt ein anderes Kind. Sie gibt die Spielregeln vor. Besonders beim Spielen im Kreis oder in der Puppen- oder Bauecke.
E 4 Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn – hohe Sensibilität
Rachel löst fast all ihre Konflikte selbstständig und verbal. Hilfestellung erfragt sie nur selten. Eigentlich nur, wenn sie körperlich so attackiert wird, dass sie sich nicht mehr allein wehren kann. Mitunter bietet sie den Kindern Kompromisse an, meist beharrt sie aber auf ihrem eigenen Standpunkt. Dabei nimmt sie auch in Kauf, dass die Kinder sich abwenden und das Spiel beenden. Auf Kritik reagiert Rachel sehr empfindlich. Sie schämt sich sofort und bricht dann sehr schnell in Tränen aus. Sie muss dann erst einmal beruhigt werden, damit ein Gespräch stattfinden kann. Im Gespräch selbst äußert sie sich nur wenig, wiederholt aber immer wieder: „Das wollte ich nicht.“ Kritik kann Rachel sehr schnell aus der Fassung bringen.
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