von Birgit Walk

 

Im Rahmen unserer Anfangsbeobachtung im IHVO-Kurs sollen wir auch eine provozierende Beobachtung durchführen.

(Weitere Anfangsbeobachtungen können Sie hier lesen: Jonathan, 4;9 Jahre alt.)

Es ergibt sich die folgende Situation für eine provozierende Beobachtung:

Jonathan (4;9) beschäftigt sich aus eigenem Antrieb mit den kindbezogenen Symbolen für Garderobe, Fach etc. Er tut das während des Zähneputzens im Waschraum. Ich bemerke, dass er die Bildchen der Reihe nach anschaut, und frage ihn, ob er alle Zeichen den Kindern zuordnen könne?

Er sagt: „Ja klar!“ und putzt währenddessen weiter seine Zähne. Als er fertig ist, beginnt er zügig die betreffenden Namen zu nennen. In dem Moment kommt mir die Idee für die provozierende Beobachtung.

Ich weiß, dass Jonathan sich zurzeit sehr für Buchstaben, das Schreiben und das Erlesen von einzelnen Wörtern interessiert. Dieses Interesse will ich nutzen, um herauszufinden, ob Jonathan sich herausgefordert fühlt und die neue Aufgabe annimmt.

Wichtig ist mir ebenfalls, seine kontinuierlich starke Eigenmotivation bei neuen Aufgaben zu untermauern und zu überprüfen, ob es Jonathan gelingt, seine Aufmerksamkeit über die gesamte Aufgabendauer hoch zu halten.

Ich fragt ihn: „Kannst du die Namen der Kinder auch schreiben? Ich könnte dir zehn Symbole auf ein Blatt kleben und du schreibst die Namen dahinter…“. Er überlegt kurz und sagt dann: „Ja“.

Für kurze Zeit fordern mich nun andere Kinder, sodass ich noch nicht dazu komme, die Aufgabe vorzubereiten.

Fast vorwurfsvoll kommt Jonathan auf mich zu und fragt: „Hast du meine Aufgabe immer noch nicht fertig?“ Ich verspreche, so schnell wie möglich damit zu beginnen. Nun bleibt er in meiner Nähe und beobachtet aufmerksam meine Vorbereitungen.

Sobald Jonathan die Blätter in den Händen hat, holt er sich sofort einen Stift, legt beide Blätter mitten im Raum auf den Boden, legt sich bäuchlings hin und schaut sich alle Symbole an.

Ich mache ihm noch einen Alternativvorschlag: Er kann den Namen des Kindes schreiben, zu dem das Symbol gehört, oder er kann den Eigennamen des Zeichens aufschreiben. Ich sage ihm, er solle das selbst entscheiden und er könne auch jederzeit aufhören.

Er beginnt sofort. Ich frage ihn noch, ob ich dabei bleiben solle. Er schaut mich nur an und meint: „Mir egal“, und wendet sich wieder der Aufgabe zu. Ich lasse ihn allein.

Zwei Kinder kommen neugierig auf ihn zu und fragen, was er mache. „Schreiben“, sagt er nur knapp, steht dann auf und sucht sich einen Platz am Knietisch.

Zuerst schreibt er „Fogl“ nach Gehör, indem er das Wort immer wieder leise vor sich hin sagt. Das „g“ macht ihm Probleme und er verbessert. Er hört auf und überlegt. Er steht auf und sieht sich um. Als unsere Blicke sich treffen, fragt er: „Wie geht ein g?“

Ich hole die Buchstabenkiste, lasse ihn erst selber schauen und hole dann, als ich merke, dass ihm die Vorstellung vom Buchstaben fehlt, ein „g“ heraus und lege es vor ihm hin. „Ach ja, jetzt weiß ich es wieder!“, sagt er lächelnd. Ich gehe und lasse ihn allein.
Vier der zehn Zeichen bearbeitet er so.

Bei den sechs anderen Zeichen entscheidet er sich dafür, die Namen der Kinder neben die Bildchen zu schreiben. Ich sehe, dass er bei „Jannik“ länger überlegen muss – aber diesmal hat er selbst eine Strategie zur Lösung parat. So wie Laufdiktate in der Schule geschrieben werden, so schaut er sich nun die Namen ganz genau an den Eigentumsfächern an. Dort stehen die Namen jeweils unter dem Symbol in großen Druckbuchstaben. Er handelt nach dem Prinzip: angucken, zurück zum Platz laufen und schreiben.

Jonathan beendet die Aufgabe erst, als alle zehn Symbole „beschrieben“ sind.

Mit einem Lachen im Gesicht zeigt er mir stolz das Ergebnis. Ich schaue mir die beiden Seiten intensiv an und lobe ihn gebührend vor allem für die Strategie, die er beim Lösen der Aufgabe angewendet hat.

Er bemerkt, dass ich eine Kopie seiner Aufgabe mache und fragte: „Was machst du damit?“ Ich antworte, die kannst du in dein Fach legen, falls du mal Lust hast, auch noch die Namen der Zeichen aufzuschreiben.“ Jonathan schaut mich an und legt die Blätter sofort in sein Eigentumsfach.

Ergebnis

Meine Erwartungen, die ich in den Vorüberlegungen geschildert habe, haben sich bestätigt. Anscheinend hat die Aufgabe sein großes Interesse an Buchstaben und am Schreibenlernen getroffen.

Im Nachhinein würde ich sagen, ich hätte Jonathan auch die komplette Vorbereitung für die Aufgabe überlassen können, so hätte er noch eigenständiger arbeiten können.
Die Aufgabe setzte bei Jonathan ja eine starke Eigenmotivation in Gang, dass er sogar nachfragte, wann die Aufgabe nun endlich bereit sei.

Im Verlauf der Beobachtung zeigte er eine kritische Einstellung zur eigenen Leistung: Jonathan erkannte, dass die Bezeichnung des Symbols, hier „Vogel“, für ihn noch schwieriger war, als die Namen der Kinder zu schreiben. Er schätzt für diesen Moment seine Leistung realistisch ein. Dennoch bleibt er dran.

Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit zeigt er, als er antwortet, dass es ihm unwichtig ist, ob ich dabei bleibe oder nicht.

Ein wesentlicher positiver Effekt war, dass Jonathan selbstständig eine Strategie für sich suchte, die Aufgabe zu bewältigen, als er unsicher war, wie einzelne Name geschrieben werden.

Beim Namen „Valerie“ fiel mir auf, dass er den Anlaut aus der Erinnerung verinnerlicht haben musste. Sehr sicher setzte er das „V“. Im Unterschied dazu schreib er „Vogel“ mit „F“ nach Gehör. Das „I“ als Schlusslaut bei „Valerie“ schrieb er wieder nach Gehör, das stumme „E“ am Ende ließ er weg.

Bei dieser provozierenden Beobachtung wurde mir wieder einmal deutlich, wie wichtig genaues und situatives Beobachten ist und was daraus entstehen kann.

35 Minuten lang war Jonathan, ohne dass ich eine Ablenkung beobachten konnte, mit einer hohen Leistungsmotivation bei der Sache.

Durch das Kopieren der Aufgabe und die Aufforderung an Jonathan, die Bezeichnungen der Bildchen aufzuschreiben, habe ich absichtlich den Schwierigkeitsgrad für eine neue Aufgabe erhöht und provoziert. Ich bin sicher, dass er sich daran erinnert und sie irgendwann bewältigen wird.

Interpretation der Beobachtungen

Ich vermute aufgrund der Fähigkeiten, die ich beobachten konnte (siehe auch im Beitrag: Jonathan, 4;9 Jahre) zumindest eine weit überdurchschnittliche Begabung in mindestens zwei Kategorien: mathematisch-logische Intelligenz und sprachliche Intelligenz.

Des Weiteren halte ich ihn für ein sehr sozial kompetentes Kind, und seine naturalistische Intelligenz schätze ich im Vergleich zum Altersdurchschnitt auch hoch ein.

Der Beobachtungsbogen nach Joelle Huser gab nach meiner Einschätzung eine totale Punktzahl von 22. Somit sollte Jonathan, aus meiner Sicht, weiterhin angemessen gefördert werden, um einen Einbruch seiner breit gefächerten Fähigkeiten zu vermeiden.

 

Datum der Veröffentlichung:
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