Kreativität und Komplexität
Nach: Csikszentmihalyi, M. (1997). Kreativität. Stuttgart: Klett-Cotta
Kapitel: Die kreative Persönlichkeit (S. 80-115)
„Ohne eine gute Portion Neugier, Staunen und Interesse für das Wesen und die Funktionsweise der Dinge (und sozialen Prozesse – H.V.) ist es schwierig, ein interessantes Problem zu erkennen. Offenheit für neue Erfahrungen, unvoreingenommene Wahrnehmung und flexible Verarbeitung von äußeren Eindrücken sind von großem Vorteil, wenn man kreative Veränderungsmöglichkeiten erkennen will.“ (S. 82)
„Wenn ich mit einem Wort zusammenfassen sollte, was ihre Persönlichkeit (die Persönlichkeit kreativer Menschen -HV) von anderen unterscheidet, so wäre es Komplexität. Kreative Personen vereinen widersprüchliche Extreme in sich …… normalerweise bilden wir nur einen Pol des Widersprüchlichen aus…“ (S. 88)
„Die Ausbildung einer komplexen Persönlichkeit hat nichts mit Farblosigkeit oder Durchschnittlichkeit zu tun. Es ist keine Mittelstellung zwischen zwei Extremen. Es bedeutet zum Beispiel nicht, daß man sich immer nur wischi-waschi verhält und nie besonders wettbewerbsorientiert oder besonders kooperativ ist, sondern viel eher die Fähigkeit, von einem Extrem ins andere zu wechseln, wenn es die Situation erfordert.“ (S. 89)
Die zehn Dimensionen der Komplexität – Zusammenfassung
Besonders kreative und begabte Menschen vereinen in sich folgende gegensätzliche Merkmale:
1)
Sie verfügen über eine Menge physischer Energie, aber sind auch häufig ruhig und entspannt. Sie haben Kontrolle über ihre Energieressourcen.
2)
Sie sind weltklug und naiv zugleich. (Weisheit und Kindlichkeit.) Sie können sowohl divergentes (flüssiges, flexibles, originelles) Denken, als auch konvergentes Denken (=gute von schlechten Ideen unterscheiden können) gut nutzen.
3)
Sie verbinden Disziplin und Verantwortungsbewusstsein mit Spielerischem und Ungebundenheit. Leichtigkeit, das Experimentieren mit Ideen werden ergänzt durch Hartnäckigkeit, Dickköpfigkeit und Ausdauer.
4)
Sie wechseln zwischen Imagination und Fantasie auf der anderen und bodenständiger Realität auf der anderen Seite. Sie begreifen Wirklichkeit als etwas Relatives und Veränderliches. Sie erkennen Zeichen von Veränderbarkeit.
5)
Sie vereinen Extroversion und Introversion. Sie können interagieren, gesellig sein, Kontakte knüpfen und pflegen – aber sie können sich auch zurückziehen (bis hin zur Unhöflichkeit und sogar Rücksichtslosigkeit), sie können auch Alleinsein und zeitweilig Einsamkeit gut ertragen, wenn es die Verfolgung ihrer Ziele erfordert.
6)
Sie zeigen eine Mischung aus Demut (Scheu und Bescheidenheit vor ihrer Domäne) und Stolz (ein starkes Selbstbewusstsein; sie wissen, dass sie viel können oder erreicht haben).
Dazu kommt der Gegensatz zwischen Ehrgeiz und Wettbewerb auf der einen Seite, sowie Selbstlosigkeit und Kooperation auf der anderen Seite. Aggressivität = Veränderungswille erfordert harten Kampf. Oft werden große Nachteile in Kauf genommen, um eine Veränderung zu erreichen (z.B. eine wissenschaftliche Idee durchzusetzen).
7)
Sie vereinen „männliche“ und „weibliche“ Verhaltensweisen. Sie entfliehen der rigiden Geschlechtsrollenverteilung. Kreative und besonders begabte Mädchen sind dominierender und durchsetzungsfähiger als andere Mädchen. Kreative und besonders begabte Jungen sind sensibler und weniger aggressiv als andere Jungen.
8)
Sie sind rebellisch und unabhängig, stellen Traditionelles in Frage (nur so kann Weiterentwicklung stattfinden), Sie sind auch Traditionalisten, die Bewährtes erkennen können und daran anknüpfen und darauf aufbauen.
Sie haben Mut, Risiken einzugehen. Mangelnder Mut ist häufig die Ursache, wenn Leute scheitern.
9)
Sie bringen sehr viel Leidenschaft für ihre Arbeit auf und können ihr dennoch mit einem großen Maß an Objektivität begegnen. Ohne Leidenschaft verliert man schnell das Interesse an einer schwierigen Aufgabe; aber ohne Objektivität leiden Qualität und Glaubwürdigkeit der Arbeit.
10)
Sie erleben durch ihre Offenheit und Sensibilität oft Leid und Schmerz, sind aber auch intensiver Freude ausgesetzt. „Wahr ist…, daß ein tiefes Interesse oder Engagement für komplizierte Sachverhalte häufig nicht belohnt wird oder gar auf Hohn und Spott stößt. Ein divergierendes Denken wird von der Mehrheit oft als Abweichung von der Norm aufgefaßt, was dazu führen kann, daß die kreative Person sich isoliert und mißverstanden fühlt.“ (S. 112) „Aber sobald die Person in ihrem jeweiligen Spezialgebiet arbeitet, verdrängt Freude alle Ängste und Sorgen. Die vielleicht wichtigste Eigenschaft, die sich bei fast allen kreativen Personen findet, ist die Fähigkeit, den Schaffensprozeß um seiner selbst willen zu genießen.“ (S. 113)