von Hanna Vock
„Ich lese grade ‚Emil und die Detektive‘. Das hat mir mein großer Bruder aus der Stadtbücherei mitgebracht. Aber morgen habe ich es durch, und dann weiß ich noch nicht, was ich dann lesen könnte.“ Die das sagt, ist ein kleines Bonner Mädchen, gerade mal 5 Jahre und 2 Monate alt.
Ich frage nach:
„Habt ihr denn im Kindergarten keine Bücher?“ – „Ja, aber nur Bilderbücher.“ – „Und wenn du mal nach anderen Büchern fragst?“ – „Die wissen doch nicht, dass ich lesen kann.“ – „Aber du kannst es ihnen doch sagen!“ – „Nee, lieber nicht…“
Das ist ein Beispiel aus meiner Beratungspraxis für Eltern hoch begabter Kinder.
Sie ist nicht das einzige sehr begabte Kind, das ich kennengelernt habe und das sich lange vor der Schule und ohne großen Aufwand, quasi nebenbei, das Lesen beigebracht hat.
Warum tun Kinder das? Was haben sie davon?
Was sagt Anna (Name geändert) dazu?
„Ich muss nicht mehr warten, bis wer Zeit hat, mir was vorzulesen…Ich kann lesen, was ich will. Zum Beispiel in der Zeitung sind manchmal interessante Sachen…. Wenn ich abends ins Bett soll, bin ich noch gar nicht müde. Dann lese ich gerne, bis ich einschlafe.“
„Was hast du denn in der Zeitung gelesen?“- „Gestern habe ich gelesen, dass Kinder mit einem Esel auf den Drachenfels reiten können. Das ist für die Ferien, wenn man nicht wegfährt. Oder man kann mit einer Kutsche fahren oder mit der Zahnradbahn. Aber ich möchte am liebsten auf einem Esel reiten.“
„Hast Du den Artikel selber gefunden? Die Zeitung ist doch ganz schön dick!“ – „Ja. Ich lese die Überschriften, und das meiste interessiert mich nicht: Ein Laster ist umgekippt oder so andere Unglücke. Über Unglücke lese ich nicht gern. Aber das ist oft drin. Das lese ich dann nicht. Bei dem Artikel über den Drachenfels war so ein Bild von einem niedlichen Drachen, da hat mich das interessiert.“
In Annas Antwort offenbart sich eine für eine Fünfjährige erstaunliche Urteilskraft. Eine eigene, selbstständige Entscheidung steuert ihr Leseverhalten nach einem selbst gefundenen Grundsatz: Über Unglücke lese ich nicht gerne.
Sie hat auch eine Strategie gefunden, sich in der Zeitung zurechtzufinden und Artikel heraus zu finden, die sie interessieren: Sie orientiert sich an den Überschriften und an Bildern. Genauso machen es auch viele Erwachsene.
Was hat das alles nun mit dem Kindergarten zu tun?
Es ergeben sich wichtige Fragen für uns Erzieherinnen:
Wann sollte ein Kind am besten Lesen lernen?
Darf Lesen lernen weiter ein Vorrecht der Schule sein, oder ist nicht auch der Kindergarten ein Ort, wo Lesenlernen stattfinden darf?
Früh ernsthaft Lesenlernen-Wollen ist ein Anzeichen für eine hohe Begabung.
Ist Lesen lernen vielleicht gar nicht so schwierig?
Sie kennen ein kleines Kind, das auf ein Kinderfahrrad aufgestiegen ist, mit Lust und Konzentration selbstständig geübt hat und nach ganz kurzer Zeit fahren konnte? Sie haben ein motorisch besonders begabtes Kind gesehen.
Für dieses Kind war es nicht schwierig, Fahrrad fahren zu lernen. Manche andere Kinder brauchen Monate, um so weit zu kommen, und es geht nicht ohne Heulen und Zähneklappern ab.
Mit dem Lesen- (und Schreiben- und Rechnen-) Lernen ist es nicht anders. Intellektuell hoch begabte Kinder interessieren sich früh für abstrakte Zeichen und fühlen sich herausgefordert, wenn sich eine Möglichkeit auftut, Systeme zu verstehen und Zusammenhänge zu erkennen.
Sie haben früh intuitiv begriffen, dass die gesprochene Sprache eine ungeheure Bedeutung hat, wenn es darum geht, interessante Dinge zu erfahren. Wer sich sprachlich verständigen kann, vervielfältigt seine Möglichkeiten des Inputs, verglichen mit dem einfachen konkreten Sehen und Begreifen, das dem Kind vorher zur Verfügung stand. Dies möglichst gut auszuschöpfen, ist der Antrieb für hoch begabte Kinder, früh eine reiche und differenzierte Lautsprache zu entwickeln. Und wir Erwachsenen staunen dann nicht schlecht, wenn wir auf ein Dreijähriges treffen, das sich mit einem riesigen Wortschatz und in komplizierten Satzgefügen ausdrücken kann.
Für das hoch begabte Kind ist es dann der nächste logische Schritt, die Bedeutung der Schriftsprache zu erfassen. Wir sind in unserem Alltag umgeben von Buchstaben, von gedruckter Schrift, und dem hoch begabten Kleinkind bleibt nicht lange verborgen, dass die Älteren da einen ganz gewaltigen Zugang zu Informationen haben, der ihm noch verschlossen ist. Originalton vierjähriges Mädchen zu Eltern und älteren Geschwistern: „Ihr könnt alle lesen, nur ich nicht, ich finde das gemein!“
Buchstaben zu erkennen, das lernen hoch begabte Kinder häufig schon mit zwei bis drei Jahren nebenbei, wenn die Erwachsenen bereitwillig auf die Fragen des Kindes eingehen. Hier spielt – wie beim Rad fahren lernen – die Funktionslust eine große Rolle. Ihr Gehirn beschäftigt sich gern und mit Lust mit abstrakten Zeichen, mit systematischen und logischen Zusammenhängen. Die üblichen Altersnorm-Vorstellungen, nach denen Kinder erst viel später abstrakt denken wollen und können, gelten eben für diese Kinder nicht.
Methodische Hinweise zum Lese-Lern-Prozess finden Sie hier:
Früh Lesen lernen.
Datum der Veröffentlichung: Mai 2022
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