Ein Konzept von Freundschaft wird entwickelt

Auszug aus dem Handbuch-Beitrag:
Zum Denken und Fühlen hoch begabter Vorschulkinder

 

Sven war zusammen mit seinem Freund Tom in derselben Kindergartengruppe. Von ganz klein auf waren sie und ihre Familien dick befreundet und unternahmen auch am Wochenende viel gemeinsam. Die beiden Jungen kannten sich gut und haben auch im Kindergarten viel miteinander gespielt.
Sven erwies sich als hoch begabt, wurde später auch getestet, Tom war ein aufgeweckter, auch überdurchschnittlich intelligenter Junge, ohne hoch begabt zu sein.

Beide waren nun fünf Jahre alt geworden. Da kam Sven, der hoch begabte Junge, eines Tages im Kindergarten traurig auf seine Erzieherin zu und sagte: „Der Tom kann nicht mehr mein Freund sein.“ Das war unerhört, und die Eltern, die Erzieherinnen, andere Kinder der Gruppe versuchten herauszufinden, was passiert war, und versuchten, Tom und Sven wieder zusammen zu bringen. Vor allem der unglückliche, von seinem Freund so plötzlich zurückgewiesene Tom versuchte dies immer wieder.

Sven war ebenso tieftraurig und verstört, war aber offenbar nicht in der Lage, seinen Entschluss zu erklären, an dem er aber ganz unbeirrbar festhielt. Er ließ sich auf kein gemeinsames Spiel mehr mit Tom ein und wiederholte einige Tage lang immer nur seine Aussage: „Du kannst nicht mehr mein Freund sein.“ Die ganze Zeit litten beide Kinder sichtlich.

Dann kam Sven eines Tages auf seine Erzieherin zu und sprach den Satz, den er sich offenbar längere Zeit überlegt und genau festgelegt hatte: „Ein richtiger Freund ist doch einer, mit dem man über das sprechen kann, was einen am meisten bewegt.“
Er wollte dazu die Meinung der Erzieherin hören, ob sie das für richtig hielte.
Erklären konnte er seinen Entschluss zunächst nicht.

Aber so allmählich – er dachte offenbar immer wieder selber darüber nach – tastete er sich an eine Erklärung für sich selbst und für die anderen heran. Jeden Tag kam er mit einer anderen Frage oder Aussage auf seine Erzieherin zu:

„In dem Krieg werden auch Kinder umgebracht. Erwachsene bringen Kinder um.“

„Die haben eine Brücke gesprengt. Jetzt können die Menschen nicht mehr über den Fluss, auch wenn einer plötzlich krank ist, der kann dann nicht schnell ins Krankenhaus.“

„Warum können die nicht aufhören mit dem Krieg?“ .

„Kann nicht wer kommen und die alle zwingen, aufzuhören und schnell wieder alles wieder aufzubauen?

„Tun denen denn die Kinder nicht Leid und die Babies?“

Also, Sven beschäftigte sich täglich mit dem Ereignis „Krieg, Tod und Zerstörung“, obwohl die Eltern sich bemühten, ihn von Nachrichten abzuschirmen. Sie wollten mit ihrem Sohn nicht über Krieg reden, weil sie glaubten, dass er dafür noch zu klein wäre. Sven konnte aber schon lesen, las irgendwo die Schlagzeilen der Zeitungen, und vor allem stellte er sich vieles selber vor und dachte darüber nach.

Schließlich hatte Sven die Erklärung gefunden und vertraute sie seiner Erzieherin an:
„Mit Tom wollte ich so reden wie mit dir, über den Krieg und so, aber er hat nur gesagt: >Ja, schlimm – aber lass uns jetzt Lego spielen.< Und am nächsten Tag hat er gesagt: >Hör doch auf damit, das nervt.< Und da konnte er nicht mehr mein Freund sein.“