von Martina Werner

 

Ein deutlich hoch begabtes Mädchen aus meiner Gruppe zog leider kurz vor Beginn meines IHVO-Fortbildungskurses in eine andere Stadt. Da musste ich mich dann schnell für ein anderes Kind entscheiden.

Bei drei weiteren Kindern in meiner Gruppe vermute ich eine höhere Begabung. Ich habe mich dann für das „auffälligste“ dieser Kinder entschieden, das meiner Meinung nach am nötigsten Unterstützung benötigt. Das Problem bei diesen drei Kindern ist jedoch, sie wechseln im Sommer alle in eine andere Gruppe, weil dort die Vorschulkinder zusammengefasst werden. Daher weiß ich noch nicht, wie ich mit meinem Beobachtungskind in Zukunft zusammen arbeiten kann.

Trotzdem habe ich mich entschieden für: Malte (jetzt fast 5 Jahre). Er besucht unsere Einrichtung seit zwei Jahren, die Familie hat 25 Stunden gebucht, das heißt, er ist ungefähr von 7:30 Uhr bis 12:30 Uhr bei uns. In der Strolchengruppe gibt es zur Zeit 19 Kinder im Alter von 2 bis 5 Jahren.

Malte ist schwierig, aber auch klug

Malte ist in vielerlei Hinsicht „auffällig“. Er hat wenig Freunde, er hat oft Streit und auch handgreifliche Auseinandersetzungen, er spielt oft den Clown, er spielt am liebsten mit Erwachsenen, er kann sehr hilfsbereit und zuverlässig sein, er speichert schnell großes Wissen, wenn ihn etwas interessiert,… Mit ihm möchte ich mich nun näher befassen.

Für mich gab es schon vor einem Jahr eine bemerkenswerte Beobachtung: Malte war damals  wieder mal durch Möbel umschmeißen und handfesten Streit mit anderen Kindern aufgefallen und ich wollte dies unterbrechen, indem ich ihm ein schwierigeres Lernspiel („Heinevetters Zehnertrainer“) angeboten habe.

Zu diesem Zeitpunkt war er noch keine vier Jahre alt und konnte nur die ersten drei Zahlen lesen. Das Spiel ging aber bis 20. Da er die Zahlen nicht lesen konnte, hat er einfach jedes mal abgezählt. Er musste Plättchen mit geschriebenen Zahlen auf eine Karte sortieren, die verschiedene Symbole in verschiedenen Mengen enthielt. Außerdem spielten noch Farben eine Rolle: rot von 1-14, blau von 1-14 und schwarz von 1-20. Die Plättchen waren in einer schwierigen Anordnung vorsortiert. Er musste also erst mal diese Sortierung erkennen, dann die Farbe behalten, die Symbole abzählen, dann in der richtigen Farbe die Plättchen abzählen, das vorher gezählte behalten,…

Das alles erforderte jedenfalls ein hohes Maß an Denkvermögen. Ich habe ihm nur  einmal einen Tipp geben müssen, Informationen wurden sofort abgespeichert und umgesetzt. Er hat sich sein System selber erfunden und zeigte große intrinsische Motivation und Ausdauer. Inzwischen hatte die Abholzeit begonnen und seine Mutter hat geduldig gewartet. Ihm war allerdings wichtig, dass ich dabei blieb, um ihn eventuell doch zu unterstützen.

Seitdem beobachte ich ihn viel genauer und habe
viel mehr positive als negative Seiten an ihm entdeckt.

Ich meine, hier zeigt er:
Freude an geistiger Tätigkeit und am Erkennen von Zusammenhängen, schnelle Informationsaufnahme und –verarbeitung, logisches Denken, selbstständiges Problemlösen und Ausdauer bei interessierenden Themen.

Zahlen und Buchstaben

Von Januar bis März habe ich Malte besonders intensiv beobachtet (4;10 bis 5;0 Jahre). Sein Interesse an Zahlen hat sich bestätigt. Als ich einen Wannentisch mit Sand und Zahlen aus Holz gefüllt hatte, hat Malte die Zahlen im Sand gesucht und konnte sie alle von 0 bis 9 benennen. Er konnte sie auch in die richtige Reihenfolge legen, indem er immer wieder bei 1 begonnen hat zu zählen. Eine Kollegin hat ihm dann gezeigt, wie sich die Zahlen über die 9 hinaus zusammensetzen, zum Beispiel, dass die 10 aus einer 1 und einer 0 besteht. Das System hatte er schnell verstanden und konnte weitere Zahlen legen. Um zu prüfen, ob er das System verinnerlicht hat, habe ich am nächsten Tag mit diesen Holzzahlen eine Übung für das Portfolio gemacht. Dort konnte er das wiederholen. Zählen kann er mittlerweile bis 30.

Er hat großes Interesse an Zahlen, er ist neugierig, weitere Zahlen kennen zu lernen, und zeigt eine schnelle Auffassungsgabe und eine gute Gedächtnisleistung. Er beschäftigt sich gerne und lange mit Zahlen, meist aus eigenem Antrieb.

Malte hat auch Interesse an Buchstaben. Im Februar hat ein Kollege eine „Reimwerkstatt“ angeboten. Er ist zu den interessierten Kindern persönlich hingegangen und hat gefragt, ob sie mit ihm etwas reimen möchten. Malte war gerade in ein Spiel mit Autos vertieft und so hat mein Kollege sich zu ihm gesetzt und angefangen mit ihm in Reimform zu erzählen. Malte zeigte zwar Interesse, wollte sein Spiel aber nicht unterbrechen. Im gemeinsamen Gespräch kam dann doch langsam ein Gedicht zustande. Malte vernachlässigte sein Spiel immer mehr und wandte sich immer intensiver dem Reimen zu. Mein Kollege Sinan hat das Gedicht in Großbuchstaben mitgeschrieben und am nächsten Tag haben sie es gemeinsam in den Computer eingegeben.

Geplant ist ein Gedichtband, den auch die Eltern einsehen können. Auch beim Schreiben am Computer hatte Malte großes Interesse. Zu Beginn hat Sinan ihm die einzelnen Buchstaben gezeigt, nach kurzer Zeit hat er erste Buchstaben von alleine wieder gefunden, er hat gesehen, dass Sinan zwischen den Wörtern die Leertaste benutzt hat, er hat mitbekommen, wie man in die nächste Zeile kommt,… und am Ende hat er das Gedicht alleine abgeschrieben. Es fiel ihm allerdings schwer, um Hilfe zu bitten. Stattdessen hat er so lange einen Buchstaben gezeigt, bis Sinan ihn bestätigt hat. Nach beiden Angeboten hatte er noch den Wunsch, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen.

Gedicht:
Lars lebt auf dem Mars,
und spielt gern mit Cars
oder mit dem Gras.

Er hat auch einen Hasen,
der heißt Haas.
Das war´s!

Auch hier sieht man wieder seine schnelle Auffassungsgabe, wenn er am Ende das Gedicht schon alleine schreibt.
Er zeigt Eigenmotivation und lange Ausdauer, besonders wenn er mit Erwachsenen zusammen arbeitet. Es zeigen sich außerdem sein Sinn für Wortspiele, sein großer Wortschatz und seine gute Ausdrucksweise. Hier sieht man aber auch, dass er hohe Ansprüche an sich selbst hat. Er zeigt nicht gerne, dass er etwas nicht kann.

Dafür habe ich noch andere Beispiele:

Er macht auch gerne mit einem Erwachsenen zusammen Mini-LÜK. Er sucht sich dann die Aufgaben selber aus und wählt eher leichte Aufgaben, die er problemlos kann. Wenn ich ihm schwerere Aufgaben hinlege, fragt er gerne bei jedem Plättchen so lange nach der richtigen Position, bis ich ja sage.

Oder bei AGen meldet er sich gerne an, er ist neugierig für alles Neue, aber er macht erst mal nicht mit. Er setzt sich dabei und guckt zu.

Meine Vermutung ist, dass er sehr hohe Ansprüche an sich selber hat und erst mitmacht, wenn er sich sicher ist, dass er alles kann.

So hat er das zum Beispiel auch bei der musikalischen Früherziehung gemacht, die eine externe Kollegin in unserer Kita anbietet.

Ich habe sie um Informationen zu Maltes Verhalten und Können gebeten. Ihrer Einschätzung nach hat Malte keine besonderen Fähigkeiten, er sei gut, rage aber nicht heraus. Dafür habe er große Defizite im Sozialverhalten. Er stört oft die anderen, hält sich teils nicht an Regeln, macht manchmal gar nicht mit,… Das sind genau die Beobachtungen, die ich auch gemacht habe.

Aber ich glaube, dass bei näherem Hinsehen eben mehr in Malte steckt!

Unsere Anerkennungspraktikantin hat noch während der Schulzeit das therapeutische Reiten ins Leben gerufen, was sie derzeit weiter betreut. Dort konnten sich die vierjährigen Kinder anmelden. Malte hat sich sehr darauf gefreut und ist beim ersten Mal auch begeistert mitgegangen. Dort angekommen, hat er sich wieder sehr zurückgehalten und erstmal nur zugeschaut. Aber auch dabei hat er erstaunlich viele Informationen und Details behalten. So wusste er beim nächsten Ausflug noch, dass der Teil vom Huf, den man auskratzen soll, „Strahl“ heißt. Auch die anderen Kinder haben bemerkt, dass er viel weiß und fragen ihn, wenn sie etwas nicht wissen. Er ist sozusagen der „Experte“.

Malte hat eine besondere Gedächtnisfähigkeit und Beobachtungsfähigkeit. Er speichert Wissen nachhaltig ab. Er zeigt auch großes Wissen über naturkundliche Themen.

Er braucht zusätzliche Herausforderungen

Obwohl ihm das Reiten mittlerweile gut gefällt, wollte er vor kurzem nicht mehr mitgehen, das hatten mir die Eltern erzählt. Einen Grund konnte er ihnen nicht nennen. Laura, unsere Anerkennungspraktikantin, hat dann mit ihm darüber gesprochen und herausgefunden, dass Malte nicht gerne abwechseln möchte beim Reiten. Er möchte lieber die ganze Zeit zum Reiten nutzen. Es gehen aber immer 10 bis 12 Kinder zusammen mit drei Pferden in den Wald oder die Halle, so dass es ohne Abwechseln nicht geht. Laura und Malte konnten sich dann darauf einigen, dass er zwischendurch der „Fotograf“ sein könnte. Er ist jetzt also für das Fotografieren zuständig. Als Laura Malte die Einführung mit der Kamera gegeben hat, konnte ich wieder beobachten, wie schnell er Neues lernt. Laura hat mir hinterher berichtet, dass er sehr gut und nur mit wenig Hilfe mit der Kamera umgehen konnte. Beim nächsten Mal war zufälligerweise der Akku des Fotoapparates leer, so dass er keine Aufgabe in der Wartezeit hatte. Er hat sich dann kaum an Regeln halten können und den Ablauf des gemeinsamen Angebotes massiv gestört. Das ist wieder seine andere Seite!

Er hat also auch Interesse an technischen Abläufen, aber auch an naturkundlichen Themen, wie zum Beispiel am Reiten, am Fotografieren oder auch an Kaninchen.

Traurig über den Tod der Kaninchen

Wir haben in unserer Kita Kaninchen, die von den Kindern versorgt werden können.
Ich war krank geschrieben und bin am Karnevalsfreitag zu Besuch in den Kindergarten gekommen. Malte war als einziges Kind aus der Strolchengruppe da und wurde an diesem Tag mit in der Riesengruppe betreut (U3-Kinder). Die Kolleginnen erzählten mir, dass Malte weder gefrühstückt hatte noch spielen oder reden wollte. Als ich dann kam, hat er sich sehr gefreut und sofort ein Gespräch mit mir angefangen.

Er hatte an diesem Tag einen weißen Kuscheltier-Eisbären mitgebracht und sagte mir, den hätte er beim Karnevalszug gefangen. „Zu Hause habe ich den Bären in der Erde vergraben“, erzählte er. Ich fragte ihn: „In echt, aber der Bär ist doch weiß und er sieht noch ganz sauber aus, dann müsste er doch schmutzig sein.“ Darauf antwortete Malte: “Nein, nur im Spiel, weil unser Anton gestorben ist.“ „Wer ist denn Anton?“ „Unser Kaninchen zu Hause, das ist tot“, sagte Malte.
Er erzählte mir dann genau, was passiert war. Das Kaninchen ließ sich abends nicht einfangen und sie haben es über Nacht draußen gelassen. Ein Marder hatte das Tier gefangen, getötet und blutig auf dem Trampolin liegen lassen. Die Familie hat dann das Kaninchen zusammen beerdigt und sogar ein kleines Kreuz aufgestellt. Auch im Kindergarten ist vor kurzem ein Kaninchen gestorben, „Mo“. Diese beiden Geschichten haben ihn wohl schwer beschäftigt, so dass er das Erlebte zu Hause nachgespielt hat. Er konnte mir auch noch sagen, dass er über den Tod der beiden Kaninchen sehr traurig war.

Er beschäftigt sich nicht nur mit naturkundlichen Themen, sondern ist auch sensibel im Umgang mit Tieren. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Tod“ gehört zu den philosophischen Beschäftigungen.

Interesse an naturkundlichen Themen und die Beschäftigung mit der Umwelt zeigen sich auch an folgendem Beispiel: Malte spielt sehr gerne Rollenspiele, z.B. Polizei, Feuerwehr und besonders gerne Müllabfuhr. Er bringt oft sein Playmobil-Müllauto von zu Hause mit und dann werden zum Beispiel Holzbausteine zu Müll umfunktioniert. Genau so gerne spielt er Müllabfuhr im Nebenraum. Dann werden die Spielsachen der Puppenecke zu Müll, der in einer Ecke gehortet wird, und selbst die Möbel werden für den „Sperrmüll an die Straße gestellt“. Auch einfache leere Kartons oder Schleichtiere werden für dieses Spiel umfunktioniert. Er bindet seine Spielgefährten in dieses Spiel mit ein und da er auf diesem Gebiet großes Wissen hat, ist er in der Regel der Spielführer.
Auch zu Hause hat er schon bewusst ein Spielzeug von sich aussortiert, es an die Straße gestellt, gewartet und beobachtet, bis der Sperrmüll es abgeholt hat. (Dummerweise ist ihm einmal ein anderes Kind zuvorgekommen. Es hat das Spielzeug für sich mitgenommen, worüber sich Malte sehr aufgeregt hat (Erzählung der Eltern).

Beim Frühstück hat er mich oft gefragt, in welchen Mülleimer der Abfall, zum Beispiel der Joghurtbecher, gehört. Ich habe ihm dann die Mülltrennung erklärt: Der Joghurtbecher gehört in den gelben Mülleimer, weil er einen grünen Punkt hat. Ich habe ihm verschiedene Produkte mit dem grünen Punkt gezeigt und ihm auch Papiermüll und Restmüll erklärt. Der grüne Punkt hat ihn besonders interessiert.
Er hat zu Hause weitere Produkte gesucht und ein paar Tage später habe ich mitbekommen, wie er auch einem etwas älteren Kind den grünen Punkt erklärt hat, er war wieder der „Experte“.

Auch hier zeigen sich wieder eine schnelle Auffassungsgabe, ein gutes Gedächtnis, große intrinsische Motivation und Beschäftigung mit ökologischen Problemen. Außerdem zeigt sich hier seine künstlerische Originalität, er benutzt viele Alltagsmaterialien für sein Spiel und funktioniert sie um. Er besorgt sich umfassendes Wissen, indem er weiter nachfragt und Alltagssituationen nachspielt. Er zeigt Interesse an technischen Abläufen, was ihn über einen langen Zeitraum beschäftigt.

Seine aggressive Seite

In gewisser Weise zeigt er auch Führungskompetenz, da er die anderen Kinder anleitet bei seinem Spiel. Das Problem bei seiner Art der Führung ist jedoch, dass er alles bestimmen will und den anderen Kindern dabei keinen Handlungsspielraum lässt. Er achtet nicht auf die Signale anderer Kinder oder auch Erwachsener. Das führt oft zu Konflikten, die sogar handgreiflich werden können.

Ich kann mich an eine Situation erinnern, als Malte mit seiner Freundin Sarah (1 Monat älter als Malte) im Raum unter der Treppe etwa eine und eine halbe Stunde zusammen gespielt hat: Sie haben für Schleichtiere ein Gehege gebaut, anschließend ein „Restaurant“ für die Tiere und haben dann ein erfundenes Menü für die Tiere zusammengestellt. Sie hatten viel Spaß.

Nach einer Weile wechselten sie gemeinsam auf den großen Teppich und begannen getrennt etwas mit Duplo zu bauen. Da die Abholzeit bevorstand, habe ich sie gebeten aufzuräumen. Das haben sie auch gemacht, dabei aber weiter ihr jeweiliges Spiel verfolgt. Jeder hatte eine Kiste, in die die Duplo-Teile hinein sollten. Sarah ist dann aufgestanden und hat in Maltes Nähe ein Teil aufgehoben. Davon fühlte sich Malte so gestört, dass er aufgesprungen ist, sie mit ihrem Namen angeschrien und ihr mit einem großen Duplo-Teil mitten ins Gesicht geschlagen hat. Sarah fing völlig verwirrt an zu weinen, und ich musste sie erst einmal trösten. Anschließend bin ich mit Malte unter die Treppe gegangen, damit Sarah in Ruhe aufräumen und ich mit Malte in Ruhe reden konnte. Auf meine Frage, warum er Sarah weh getan hat, antwortete er, dass Sarah ihn geärgert habe. Aber muss man dann jemandem wehtun oder kann man mit dem reden? Sowohl er als auch ich waren traurig darüber, dass ich mit Malte schimpfen musste. Er wollte dann auch alleine unter der Treppe aufräumen, obwohl ich ihm meine Hilfe angeboten hatte. Vielleicht war das seine Art der Wiedergutmachung.

Malte möchte möglichst viel selber bestimmen und verhält sich manchmal aggressiv, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen verläuft. Bei Konflikten oder Aufgaben, die er nicht mag, kann er meistens genau erklären, was ihn gestört hat. Regeln werden dann auch schon mal wörtlich ausgelegt und so umgangen.

Er spielt auch gerne den Clown, so lässt er sich zum Beispiel manchmal extra fallen und singt dabei, woran vor allem die jüngeren Kinder Spaß haben. Das macht er aber auch im Stuhlkreis oder Morgenkreis, wo es andere stört.

Morgenkreis-Leiter

Ich vermute, dass ihn die Kreise langweilen, da er die Antworten alle kennt. Er muss sich oft sehr zurückhalten, damit ihm die Antwort nicht rausplatzt. Die jüngeren Kinder wissen die Antworten eben noch nicht so schnell. Deshalb habe ich ihn gefragt, ob er einmal Morgenkreisleiter sein möchte. Die Idee fand er toll. Ich habe ihm dann den Vorschlag gemacht, das für die Wunschtafel aufzumalen. Das hat er sofort umgesetzt, indem er die Kerze und die Morgenkreistafel aufgemalt hat und ich musste noch dabei schreiben, was er sich gewünscht hat. Das hat er dann ausgeschnitten und an die Tafel gehängt.

Ein paar Tage später war es soweit, Malte durfte Morgenkreisleiter sein, mit meiner Unterstützung, die hatte er sich ausdrücklich gewünscht. Er saß also neben mir und ich habe die Kolleginnen darüber informiert. Er hat dann quasi die „Kommandos“ gegeben, zum Beispiel: alle die Hände geben oder wer anzählen darf. Wenn ich merkte, dass er etwas nicht wusste, habe ich ihn flüsternd unterstützt. So brauchte er sich mal nicht so zurück zu nehmen, sondern konnte selber entscheiden, ob und wie er den Kindern hilft. Leider waren meine Kolleginnen ziemlich ungeduldig und haben ihm einiges vorweggenommen. Wir hatten vorher wohl zu wenig darüber gesprochen.

(Das Beispiel anderer Jungen, die ihre Unzufriedenheit mit den Morgenkreisen zeigten, finden Sie im Beitrag Passgenaue kognitive Förderung, und zwar in den Abschnitten über Malte – es ist ein anderer Malte! – und Daniel.)

Malte spielt im Kindergarten lieber mit gleichaltrigen oder jüngeren Kindern, eigentlich sind nur zwei Kinder seine Freunde: Sarah (1 Monat älter) und Till (1 Jahr jünger). Aber auch die ziehen sich öfter mal von ihm zurück. So langsam beginnt er auch mit etwas älteren Kindern zu spielen, da hilft ihm sein Fachwissen in vielen Bereichen. Er wird als „Experte“ geschätzt und gesucht.

Vermutlich fehlen ihm Kinder mit gleichen Interessen und Wissensstand.

Malte spielt daher gerne mit Erwachsenen. Aber auch denen gegenüber ist er manchmal grenzüberschreitend, so zieht er mir zum Beispiel im Vorbeigehen so feste am Schal, dass mir einen Moment die Luft weg bleibt, oder er rennt anderen Eltern so feste gegen den Bauch, dass es sie schmerzt. Ist das Übermut oder der Wunsch nach Aufmerksamkeit? Alle seine Verhaltensweisen kann ich noch nicht einordnen.

Malte zeigt Stärken

Andererseits kann er sehr zuverlässig sein, wenn er Aufträge für Erwachsene erledigt. Er hilft gerne im Frühdienst und holt alleine Rohkost, die er selber bestimmen darf, oder bringt das Telefon zurück in eine andere Gruppe. Da kann man ihn gut selbstständig agieren lassen.

Ich habe des Weiteren noch ein Beispiel für gutes Abstraktionsvermögen: Da die Kinder wieder großes Interesse an Autos hatten, habe ich eine ganze Kiste voll herausgeholt. Zusätzlich habe ich noch ein Poster an der Wand angebracht, das verschiedene Modelle verschiedenen Alters zeigt. Malte hat dann angefangen, Autos auszusortieren. Ein großer Teil kam in eine Ecke und ein paar andere in eine Kiste. Ich habe ihn erst nur beobachtet und nicht verstanden, was er da vorhatte. Dann fragte er mich, ob ich ein Auto kaufen wollte. Man konnte die Modelle kaufen, die auf dem Poster zu sehen waren. Er hatte die Autos ausgewählt, die den Bildern am ähnlichsten waren. Wenn es kein ähnliches gab, stimmte zumindest die Farbe. Ich war erstaunt und habe gleich zwei Autos „gekauft“. Mit denen durfte man dann auf dem Autoteppich spielen. Weitere Kinder kamen hinzu und wollten auch Autos kaufen. Es wurde auch darüber diskutiert, ob die Autos denn wirklich gleich aussehen. Aber er hat alle überzeugen können und alle Autos „verkauft“. Tolle Idee!

Da sieht man, wie gut er sich Sachen vorstellen kann, wie kreativ er sein Spiel gestaltet und wie gewandt er im Umgang mit Sprache ist.

Auch für seine musikalische Intelligenz habe ich noch ein Beispiel: Rico hatte beim Mittagessen mit einem Löffel gegen eine Flasche gehauen und so „Musik“ gemacht. Er fand heraus, dass sich eine leere Flasche anders anhört, als eine volle. Da wir nach dem situationsorientierten Ansatz arbeiten, habe ich dieses Thema am nächsten Tag spontan aufgegriffen und bin mit unseren ältesten Kindern in unseren Forscherraum gegangen, im Gepäck einen Eimer Wasser, für jedes Kind eine leere Flasche, Löffel, Trichter und Messbecher. Wir haben uns um einen Wannentisch versammelt, und Rico hat erzählt, was er am Vortag herausgefunden hatte. Dann bekamen die Kinder den Auftrag ihre Flaschen unterschiedlich hoch mit Wasser zu befüllen. Das vorletzte Kind hatte seine Flasche ganz voll gemacht. Zufälligerweise war Malte das letzte Kind und stand nun vor dem Problem, wie viel Wasser er in die Flasche füllen sollte. Er hat sich alle Flaschen genau angeschaut und eine Menge gefunden, die zwischen den anderen noch fehlte. Ich hatte es leichter, meine Flasche blieb leer. So hatten wir 6 Flaschen befüllt. Jeder durfte jetzt nacheinander seiner Flasche Töne entlocken und dann haben wir verglichen. Jede Flasche hörte sich anders an. Als nächstes haben wir gleichzeitig „Musik“ gemacht und dann hatte einer die Idee, dabei zu singen, „Guten Morgen, Frau Sonne!“, damit die Sonne auch mal endlich raus kommt (Dieser Winter war schon sehr düster!). Alle waren sich einig, dass sich das sehr schön anhört. Ich hatte noch die Idee „Alle meine Entchen“ zu spielen, die Anzahl der Flaschen und Töne war zufällig dafür geeignet. Ich habe es den Kindern vorgesungen und gespielt, und alle wollten es einzeln nachmachen. Manche brauchten Unterstützung, indem ich auf die Flaschen gezeigt habe aber Malte hat durch das Beobachten bei den anderen Kindern das Lied auf Anhieb alleine und richtig nachspielen können. Ich war erstaunt.

Auch hier zeigt sich wieder seine schnelle Auffassungsgabe und große Merkfähigkeit. Er zeigte besondere Aufmerksamkeitsdauer und intrinsische Motivation.

 

Damit war dieses besondere Erlebnis aber noch nicht vorbei. Mir kam dann noch die Idee, unser gelerntes Lied und unsere selbst gemachten „Instrumente“ im Stuhlkreis vorzuführen. Es war schließlich Freitag, da versuchen wir immer einen Stuhlkreis zu machen. Die Kinder waren begeistert. Gesagt, getan! Wir haben zusammen die Stühle gestellt, einen Tisch in die Mitte geholt und alle „Instrumente“ vorbereitet. Die anderen Kinder waren gespannt. Da Rico der Initiator gewesen war, durfte er als erstes etwas vortragen. Aber auch Malte hat alleine „Alle meine Entchen“ vorgetragen, als einziger ohne Hilfestellung und fehlerfrei. Sogar von den jüngeren Kindern wollten welche das ausprobieren und es wurden sogar noch selbst erfunden Lieder gespielt und gesungen.

Meine Kollegin hatte dann noch den Gedanken, Weingläser dazu zu holen, mit Wasser zu füllen und mit nassem Finger über den Rand zu streichen. Die Kinder waren ganz fasziniert von den Geräuschen und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Einige Kinder haben dann versucht diese Geräusche auch zu erzeugen und waren überwältigt, wenn es ihnen gelang, darunter auch Malte.

Ich muss sagen, das war einer meiner schönsten Kindergartentage überhaupt. Nichts davon war geplant oder verfolgte ein bestimmtes Ziel. Es gab einfach nur Zeit und Raum zum Experimentieren und Erproben. Alles war möglich und am Ende gab es überraschende Erkenntnisse.

Im Hinblick auf Malte war ich erstaunt, wie gut er sich auf dieses Thema einlassen konnte, und er hat zu keiner Zeit den Clown spielen wollen. Ich glaube, das Geschehen hat ihn gefesselt und er war hoch konzentriert und engagiert. Hier fühlte er sich sicher und konnte vor der gesamten Gruppe etwas vortragen.

Malte hat auch einen guten Blick für Details. Wir haben mit vielen Kindern Feuerwehrautos gebastelt und sie in der Garderobe aufgehängt. Er wusste nicht, wie er das Auto basteln sollte, und hat sich zur Vorlage ein Buch geholt. Dann hat er sich die für ihn wichtigsten Details rausgesucht und losgelegt. Sein Auto war aus roter Pappe, die Lichter oben drauf waren blau, die Leiter musste silbern sein und die Fenster waren auch an einer bestimmten Stelle,… Wir zwei haben dann noch eine Straße für die Feuerwehrautos gebastelt. Ich wollte den Streifen auf der Fahrbahn mit schwarzer Pappe machen. Das durfte ich aber nicht, schließlich ist der in echt weiß!

Malte nimmt seine Umwelt sehr aufmerksam wahr und merkt sich Details.

Vor kurzem habe ich mit Malte zusammen einen Fragebogen ausgefüllt. Zufällig kam die Erzieherin der Räubergruppe dazu, die ihn im nächsten Kindergartenjahr betreuen wird, und ist mit ihm den Fragebogen noch mal durchgegangen. Dabei stellte sich heraus, dass ich einmal etwas falsch verstanden hatte. Er findet es nicht nur blöd, wenn sein Gebautes kaputt gemacht wird, sondern wenn überhaupt irgendetwas kaputt gemacht wird. Und als Berufswunsch hatte er „Krankenwagen“ angegeben. Ich habe, ohne nachzudenken, Krankenwagenfahrer aufgeschrieben. Das war auch nicht korrekt. Er meinte speziell den Sanitäter, der die Verletzten hinten in den Wagen schiebt und versorgt. Das konnten wir dann zusammen klären. Ich habe daraus gelernt, wie wichtig es ist, mit dem Kind zusammen im Dialog zu bleiben und nicht gleich eigene Interpretationen anzustellen.

Ich war erstaunt, wie genau Malte wusste, was er mir gesagt hatte. Hier sieht man noch mal seine erstaunliche Gedächtnisfähigkeit.

Was kann ich für Malte tun?

Ich habe geplant, mit Malte und einigen weiteren vermutlich höher begabten Kindern, eine Gruppe zu bilden, die sich regelmäßig ein mal die Woche trifft. Malte soll mit Kindern in Kontakt kommen, die ähnlich „funktionieren“ und ähnliche Interessen haben. Wenn er entsprechend gefordert und gefördert wird, erhoffe ich mir im sozialen Bereich eine Besserung, so dass sein Verhalten anderen Menschen gegenüber weniger aggressiv wird. Das ist sein Verhalten, mit dem er auffällt und in Verbindung gebracht wird, sozusagen „seine Schublade“, in die er gesteckt wird.

Nach Absprache im Großteam haben wir uns auf insgesamt 4 Kinder geeinigt. Um ihre gemeinsamen Interessen herauszufinden, lasse ich die Kinder einen Fragebogen ausfüllen. Bei zwei Kindern habe ich dies bisher gemacht.

Zusätzlich kam mir noch die Idee, Malte als „Streitschlichter“ auszubilden und einzusetzen. Schließlich kennt er die Regeln ganz genau und sie sind ihm wichtig. Noch dazu hat er das sprachliche Können, sie richtig zu vermitteln. Vielleicht erlangt er darüber mehr Empathie und kann auch seine eigenen Konflikte besser lösen.

Begabungen entdecken

Bei dieser ersten Praxisarbeit (im IHVO-Kurs) sollten wir uns im Besonderen mit dem Beobachtungsbogen nach Joelle Huser beschäftigen: Hohe Begabungen entdecken, Beobachtungsbogen für den Kindergarten

Zusammenfassend würde ich folgende Punkte aus diesem Beobachtungsbogen für Malte ankreuzen:

A Allgemeine Merkmale

    • Allgemeiner Entwicklungsvorsprung, großes Interesse an Buchstaben und Zahlen, (z.B. Zehner-Trainer, Reimwerkstatt)
    • Schnelle Auffassungsgabe und Neugierde, (z.B. Grüner Punkt)
    • Orientierung an Erwachsenen, (z.B. Reimwerkstatt)
    • Verblüffende Gedächtnisfähigkeit, (z.B. Fragebogen)
    • Lange Aufmerksamkeitsdauer und starke Eigenmotivation, (z.B. Zahlen)
    • Kritische Einstellung zur eigenen Leistung – hohe Ansprüche an sich selbst, (z.B. bei AGen)
    • Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, (z.B. Erwachsenen helfen)
    • Beschäftigung mit sozialen, philosophischen, politischen und ökologischen Problemen, (z.B. Tod von „Anton“)
    • Das „Wörtlich-nehmen“ und die Forderung nach Erklärungen, (z.B. Konflikte)
    • Innovativer Gebrauch von Materialien – künstlerische Originalität, (z.B. Müllabfuhr)
    • Sinn für Humor und Wortspiele, (z.B. Reimwerkstatt)

B Merkmale von unterforderten Kindern

    • Aggressives, forderndes oder clownhaftes Verhalten, (z.B. Morgenkreis)

C Sprachliche Intelligenz

    • Großer Wortschatz, (z.B. Reiten)
    • Gute Ausdrucksfähigkeit, (z.B. Autos)

D Mathematisch – logische Intelligenz

    • Vorliebe für ordnende und zählende Tätigkeit, (z.B. Mini-LÜK)
    • Gutes Abstraktionsvermögen – räumliches Denkvermögen, (z.B. Autos)

E Inter- und intrapersonale Intelligenz

    • Besonders gute Beobachtungs- und Wahrnehmungsfähigkeit, (z.B. Basteln)
    • Führungskompetenz, (z.B. Morgenkreisleiter)
    • Ausgeprägter Gerechtigkeitssinn – hohe Sensibilität, (z.B. Konflikte)

F Naturalistische Intelligenz

    • Informationstiefe und Informationsbreite, (z.B. Müll)
    • Großes Wissen über naturkundliche Themen, (z.B. Tiere)
    • Großes Wissen über und Interesse an physikalischen, technischen und chemischen Abläufen, (z.B. Fotografie, Müll)

Insgesamt hätte Malte damit eine Punktzahl von 22 und würde damit in den Bereich eines höher begabten Kindes fallen.

Aus Interesse habe ich den Eltern auch einen Elternfragebogen mit nach Hause gegeben. Sie haben ihren Sohn ähnlich eingeschätzt und haben am Ende folgende Fragen:

  • Ist unser Kind überdurchschnittlich begabt?

  • Was ist in diesem Fall zu tun?

  • Was müssen wir beachten?

Die erste Frage habe ich schon mit ja beantwortet, er ist auf jeden Fall ein höher begabtes Kind. Die Beantwortung der anderen Fragen hoffe ich im Verlauf der weiteren Weiterbildung zu erfahren. Außerdem möchte ich Malte helfen, im sozialen Miteinander mehr Kompetenzen zu erwerben, da braucht er am dringendsten Hilfe und Unterstützung.

Wie es mit Malte weiter geht, lesen Sie in Fünf Kinder bilden eine Gruppe und folgen ihren Interessen.

Datum der Veröffentlichung: April 2021
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum.