von Hanna Vock

 

Jedes Kind geht seine eigenen Lernwege und braucht dabei passgenaue Unterstützung auch in der Kita. Auf dieses Problem möchte ich zwei Schlaglichter werfen: Das Beispiel von Luc und Milena und das Beispiel von Frieder.

Ein Beispiel aus meinem Kindergartenalltag

Es geht um zwei Kinder meiner Gruppe, deren sprachliche Förderung im Kindergarten ganz unterschiedlich ausgesehen hat.

Luc
beherrschte vor der Einschulung sowohl die deutsche wie auch die französische Sprache sehr gut. Diese Sprachleistung kam in einer Familie zustande, die sehr viel Wert auf die Zweisprachigkeit und auf gutes Sprechen überhaupt legte. Es wurde viel gesprochen, erzählt, vorgelesen. Es gab eine hohe Sprachkultur. Beide Eltern verstanden es hervorragend, dem Kind ihre jeweilige Muttersprache beizubringen.

Milena
zeigte ein großes Interesse an sprachlichen Dingen, die sie leicht und schnell erlernte. Sie sprach mit vier Jahren einwandfrei und differenziert. Mit fünf Jahren beantwortete sie meine Frage, ob sie gern lesen lernen würde, mit einem klaren Ja. Milena hatte ihr hohes Sprachniveau erreicht, obwohl sie zu Hause nur wenig sprachliche Anregung hatte und dort auch kein gutes Sprachmodell vorfand.

Beide Kinder waren sprachbegabt; aber es war klar, dass die sprachliche Förderung beider Kinder an ihre Voraussetzungen angepasst werden musste.

Luc
war von Hause aus gesättigt mit Geschichten und ausgiebigen Gesprächen. Er suchte im Kindergarten andere Lernfelder. Sprachlich konnte er gefördert werden, indem seine spezifische Fähigkeit, die Zweisprachigkeit, in der Gruppe gewürdigt wurde. Denn er zeigte sich in der Gruppe trotz seiner prima Sprachfähigkeit über längere Zeit stark gehemmt und vermied das Reden. Er wirkte insgesamt eher schüchtern und sprach im Stuhlkreis grundsätzlich nur in Einwortsätzen.

Wie immer wollte ich an seinen Stärken ansetzen. Ich machte seine Zweisprachigkeit im Stuhlkreis zum Thema, er hörte sehr aufmerksam zu. Bei Spielen fragte ich immer wieder nach dem französischen Wort (so musste er auch nur 1 Wort sagen) und fand bewundernde Worte für seine besondere „Kunst“. Als auch die Kinder zunehmend staunten, taute er auf und konnte auf seinem Entwicklungsniveau tätig werden:

Er brachte französische Bilderbücher von zu Hause mit, die er anderen Kindern auf Französisch und Deutsch im Wechsel erzählte. Eine weitere Bestätigung und Stärkung war es für ihn, dass ich aus meinem Urlaub drei kleine Bilderbücher aus Frankreich mitbrachte. Sie blieben in der frei zugänglichen Bücherkiste, und einzelne Kinder ließen sich daraus immer wieder von ihm „vorlesen“. Das gemeinsam gelernte Lied „Frère Jacques“ (Bruder Jakob) sang Luc in der französischen Version besonders laut und gern. Er kostete die Tatsache aus, dass es ihm besonders leicht fiel, den französischen Text zu erlernen.
Und er hatte sichtlich an Selbstbewusstsein gewonnen.

Eine Bemerkung zu den Versuchen, im Kindergarten Fremdsprachenunterricht einzuführen:
Die natürlichste, den Kindergartenalltag und das freie Kinderspiel am wenigsten störende Methode ist nicht die Etablierung von Kursen zu festen Zeiten und mit Extra-Personal. Besser und zielgenauer finde ich die situationsgerechte Nutzung der in fast jedem Kindergarten gegebenen Mehrsprachigkeit, etwa wie oben beschrieben. Denkbar (und sicher auch in der Praxis zu finden) sind viele Anknüpfungspunkte und Methoden. In ihrer Ausbildung und in Fortbildungsveranstaltungen sollten Erzieherinnen dazu methodische Kenntnisse erwerben können.
(Siehe dazu: Fremdsprachen im Kindergarten.)

Milena
brauchte im Unterschied zu Luc Gespräche und Geschichten, soviel sie nur kriegen konnte. Außerdem war ihr Interesse am Lesenlernen zu fördern. Milena war das erste Kind, bei dem ich in dieser Frage über meinen Schatten springen konnte: Immer schon hatte ich das Lesenlernen vor der Schule zugelassen und begrüßt, auch schon mal kleine Hilfestellungen im Leselernprozess der Kinder gegeben.

Jetzt fasste ich den Entschluss, Milena einen „Leselern-Kurs“ anzubieten. Sie war mit ihrem Lerntempo in diesem Feld den anderen Kindern der Gruppe weit überlegen, deshalb arbeitete ich mit ihr jeden Tag etwa 10 Minuten – sie konnte nach wenigen Wochen die einfachen Texte aus meiner alten Fibel lesen, obwohl sie am Anfang fast noch keine Buchstabenkenntnisse hatte.

Wie das gehen kann, siehe hier: Früh Lesen lernen.

Für Milena war es von großem Vorteil, dass sie bei der Einschulung schon lesen konnte. So konnte ihre Lehrerin früh erkennen, dass sie es mit einem sehr begabten Kind zu tun hatte. Auch konnte Milena Unterrichtsphasen, die sie nicht brauchte und bei denen sie sich hätte langweilen müssen, mit Bücherlesen überbrücken.

Das Beispiel von Milena und Luc finden Sie mit etwas anderer Auswertung auch hier: Woher kommen die außergewöhnlichen Fähigkeiten – Hochbegabung oder supergute Förderung?

Was macht es schwierig?

Die Schwierigkeit, individualisiertes Lernen zu fördern, vergrößert sich für die Erzieherin scheinbar dadurch, dass im Kindergarten Lernen in Gruppen, im sozialen Zusammenhang mit anderen Kindern geschehen soll.
In Wirklichkeit sind es die vielerorts unzureichenden Rahmenbedingungen (Gruppengröße, Personalbesetzung, Raumnot…) die ein sinnvolles Nebeneinander und Ineinandergreifen von Lernen in der Gesamtgruppe, in Kleingruppen und individuell auf ein Kind zugeschnitten behindern.
(Siehe: Rahmenbedingungen verbessern!)

Hinzu kommt ein verständlicher und in seiner Wirkung nicht zu unterschätzender Frust darüber, dass etliche (in manchen Kitas auch viele) Eltern ihre Bildungspflichten gegenüber ihrem Kind nur sehr unvollkommen erfüllen. Landaus, Landein wird in den Kindergärten zu Recht beklagt, dass manche Eltern ihren (deutschsprachigen!) Kindern keine guten Sprachfähigkeiten vermitteln. Viele versäumen es auch, ihrem Kind Ansätze zu planvollem Handeln, ein hinreichendes Maß an Weltwissen und die nötigsten praktischen Fähigkeiten zu vermitteln. (Siehe: Wenn die Eltern wenig fördern.)
Diese Kinder haben oft herzerweichend wenig Möglichkeiten, von den Angeboten des Kindergartens zu profitieren, und gleichzeitig haben sie einen besonders großen Förderbedarf.

Das macht eine verstärkte Hinwendung vieler Erzieher*innen zu den schwächer begabten und/oder schlechter geförderten Kindern verständlich. Unter dem Gesichtspunkt sehr eingeschränkter Ressourcen bedeutet diese Hinwendung zu den Schwachen oft zwangsläufig eine Abwendung von den besonders begabten und noch stärker von den hoch begabten Kindern.
(Siehe: Hochbegabung ist kein Luxusproblem.)

Es ist auch hier wieder deutlich, dass verstärkte Bildungsarbeit und Hochbegabtenförderung nach besseren Arbeitsbedingungen für die Erzieher*innen schreit!

Unterschiedliche Interessen, Lernwege und Lernfortschritte von Anfang an

Kinder (und Erwachsene) lernen nicht gut, wenn ihnen in einer großen Gruppe allen das gleiche Bildungsfutter zugeworfen wird.

Es folgt ein bemerkenswertes Beispiel, das die Erzieherin Renate Ashraf in ihrer Kita beobachtet und in ihrer ersten Hausarbeit für den IHVO-Kurs geschildert hat:

„Ort: Kreativraum, Basteltisch

Während eines Gesamtgruppenangebotes, bei welchem Zahlen von 1 bis 4 ausgeschnitten werden, die auf Tonkarton aufgemalt sind, beobachte ich Frieder (4;3).

Alle Kinder sitzen an ihrem Platz und suchen sich Zahlen aus. Frieders Hinterkopf lehnt auf der Rückenlehne, der Po sitzt nur zur Hälfte auf der Sitzfläche und seine Arme baumeln an den Seiten herunter. Er wird von der Erzieherin aufgefordert, sich eine Zahl auszusuchen. Seine Haltung verändert er nicht.

Einige Minuten später hockt sich die Erzieherin neben ihn und legt eine Zahl vor ihn hin. Er setzt sich aufrecht hin, aber nimmt die Schere nicht in die Hand. Wieder fordert die Erzieherin ihn auf, mit dem Ausschneiden zu beginnen. Frieder fängt an zu jammern: „Ich will nicht schneiden!“ Er bekommt das Angebot, gemeinsam mit der Erzieherin zu schneiden. „Ich will nicht schneiden! Warum muss ich schneiden? Nein, nein, ich schneide nicht!“ Die Erzieherin erinnert ihn daran, dass sein Zahlenheft dann unvollständig ist. Frieder erwidert: „Ich brauche keine Zahlen. Ich habe zu Hause welche.“

Andere Kinder bitten die Erzieherin um Hilfe. Frieder rutscht wieder auf seinem Stuhl hin und her und starrt den Rest der Zeit vor sich hin. Er scheint erleichtert, als aufgeräumt wird und alle nach draußen gehen.

Vielleicht könnte man sein Verhalten als widerwillig und lustlos in Bezug auf diese Schneidearbeit bezeichnen. Nach diesem Erlebnis habe ich mich bei den Kollegen nach seinen Fähigkeiten im Malen und Basteln erkundigt und mir ein paar Arbeiten angeschaut. Es gibt sehr wenige Bilder und Bastelarbeiten von ihm. Seine Bilder sehen wie das Werk eines Zweijährigen aus. Frieder meidet den Kreativraum. Anscheinend verrichtet er nicht gerne solche Tätigkeiten.“

Lieben Dank für diese präzise Beobachtung!

An diesem Beispiel kann man die folgenden Fragen fachlich diskutieren:

– Hat Frieder recht oder unrecht mit seiner Weigerung und seiner Begründung?

– Welche pädagogischen Ziele waren mit dem Angebot „Zahlen ausschneiden“ verbunden?

– Wie weit hat Frieder die Zahlen nicht nur zu Hause, sondern vielleicht auch schon im Kopf? Hat sich seine Erzieherin später dafür interessiert?

– War es für ihn eine interessante, lernintensive Zeit oder war es aus seiner Sicht „vertane Zeit“?

– Warum sollen Kinder basteln, die offensichtlich kein Interesse daran haben? Es gibt kein Gesetz, dass sie es müssten. Und es gibt auch kein Naturgesetz, das besagt, dass zum Beispiel zur Entwicklung einer guten Feinmotorik Basteln nötig wäre. (In einer Untersuchung wurde festgestellt, dass die Kinder aus entlegenen afrikanischen Gebieten mit 6 Jahren über eine genauso gute, teilweise überlegene Feinmotorik verfügten wie die mitteleuropäischen Kinder, die 3 Jahre lang in ihren Kindergärten mit viel Material gebastelt hatten – obwohl die afrikanischen Kinder noch nie einen Stift geschweige denn eine Schere in der Hand gehabt hatten.)

– Wie begründet das Team den Sinn des Bastelns für die Kinder? Was lernen sie dabei – und könnten einige Kinder die angestrebten Fähigkeiten auch auf anderen Wegen lernen? Auf welchen?

– Was lernt ein Mensch bei einer Beschäftigung, die ihm zuwider ist, die ihm nicht „liegt“?

– Ist das Malen für alle Menschen gleich wichtig? Manche malen gern, andere nicht. Manche dieser nicht-malenden Kinder können sich aber sehr differenziert lautsprachlich ausdrücken, so dass das Ausdrücken von Gefühlen und Erlebnissen in Bildern für sie auch deshalb nicht so interessant sein mag.

Ich plädiere sehr dafür, sich als Erzieher*in die Zeit zu nehmen, mit einzelnen Kindern, deren Verhalten wir nicht auf Anhieb verstehen können, ins beständige Gespräch zu gehen. Beim Einstieg in einen solchen stetigen Austausch kann der Interessen-Fragebogen für den Kindergarten helfen.

 

Datum der Veröffentlichung: Dezember 2021
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum

 

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