von Diana Verch
Änne ist ein sehr aufgewecktes, fröhliches und lebensbejahendes Kind.
In der Kindergartengruppe ist sie beliebt und ein gern gesehener Spielpartner, da ihrem Fantasiereichtum keine Grenzen gesetzt sind. Ihre Spielpartner sind nicht immer im gleichen Alter. Je nachdem, was sie spielen möchte, wählt sie ältere oder jüngere Kinder.
Ihre besonderen Begabungen sehe ich im sprachlichen und im sozialen Bereich. Hier versetzt sie mich immer wieder in Erstaunen.
Siehe auch: Mädchen setzen sich durch
… kurz gefasst …
Diese Erstbeobachtung betrifft ein sehr selbstbewusstes kleines Mädchen, das sprachlich sehr weit entwickelt und sozial kompetent ist. Sie weiß, dass sie klug ist, und geht offen damit um. Im integrativen Schwerpunktkindergarten für Hochbegabtenförderung, in dem die Autorin arbeitet, wird sie darin nicht ausgebremst.
Änne verfügt über einen sehr großen Wortschatz. Sie liebt es, in Bildern zu sprechen. Oftmals benutzt sie dabei die „Erwachsenensprache“. Reimwörter zu finden, stellt für sie keine Schwierigkeit dar.
Sie spricht mit Haupt- und Nebensätzen und grammatikalisch weitgehend fehlerfrei. Ihre Wortgewandheit ist sehr eindrucksvoll. Dadurch bin ich auf Änne aufmerksam geworden und habe sie zu meinem Beobachtungskind gewählt.
Interesse an Zahlen und Buchstaben
Änne hat ein sehr großes Interesse an Buchstaben und Zahlen. Sie hat sich die Buchstaben selbst beigebracht und kann das, was sie aufgeschrieben hat, auch vorlesen. Es handelt sich dabei nicht einfach nur um eine Aneinanderkettung von Buchstaben, sondern es sind ganze Wörter und kurze Sätze.
Beobachtung:
Änne malt ein Bild und beschriftet dann alle gemalten Personen. Sie sagt zu Jona:
„Alle 5-jährigen Menschen können sauber ausmalen und malen. Ich kann sogar schon schreiben. Das hab ich ganz allein gelernt. Ich habe überlegt, wie es gehen könnte, und dachte Papa, aha also P a p a. So hab ich das dann auch geschrieben und meinen Papa gefragt, ob das richtig ist. Ja, ganz allein hab ich mir das beigebracht.“
Für Änne ist das Schreiben und Malen im Kindergarten ein großes Betätigungsfeld. Sie liebt es, Geschichten zu schreiben. Daher ist meine provozierende Beobachtung darauf ausgerichtet, ich will ihr vorschlagen, selber ein Bilderbuch zu gestalten.
Was daraus geworden ist, können Sie hier lesen: Änne malt und schreibt ein Buch.
Da Änne ein sehr aufgewecktes Kind ist, und wir im Kindergarten Vorschulkinder haben, die bereits lesen und schreiben, fühlt sie sich am Lese-Schreibe-Maltisch sehr wohl.
Lustig findet sie es, mit bunten Stiften Wörter zu legen. Dies weist auf eine ausgeprägte Kreativität und Originalität hin.
Auch die Zahlen auf der Waschmaschine und Mikrowelle nutzt Änne, um ihr Wissen zu testen.
Beobachtung:
Die Mikrowelle in der Küche zeigt 9:07 Uhr an.
Änne: „Oh guck mal die Zahlen!“
Diana: „Was meinst du?“
Änne: „Na guck doch, 9 und 7 sind doch 16. Ja da staunst du, nicht?!“
Änne strahlt mich an.
Ich sage ihr, wie toll ich das finde, dass sie so super rechnen kann und sie mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass sogar an einer Mikrowelle solche Aufgaben versteckt sind.
Gedächtnis
Über Ännes verblüffende Gedächtnisfähigkeit konnten wir schon mehrmals staunen.
Beobachtung:
Änne sitzt am Maltisch und malt ein Bild. Ich sehe eine Frau in einem langen Kleid und einen Mann.
Änne: „Diana, das sind meine Mama und mein Papa an einer Tankstelle. Mama hat ihr Hochzeitskleid an, weil sich Mama und Papa da das erste Mal gesehen haben. Dann haben sie nämlich geheiratet.“
Ich finde das Bild sehr gelungen und sage, dass ich das Kleid auch besonders schön finde. Auf meine Frage, woher sie das wohl wüsste, meint sie: „Das hat mir meine Mama gesagt.“
Als die Mama kam, fragte ich natürlich gleich nach dem Hochzeitskleid in der Tankstelle und die Mama war ganz verdutzt, dass Änne das noch weiß. Sie meinte: „Mein Gott, wie alt war Änne denn, als ich ihr das erzählt habe?… Das ist ja schon ewig her.“
Kontaktverhalten und Aufmerksamkeit
Wenn Änne jemanden vor sich hat, von dem sie nicht genau weiß, was er von ihr will, dann stellt sie sich erst einmal ganz klein und abwartend. „Sie schraubt sich zurück“, waren die Worte der Mutter. Das ist im Umgang mit fremden Kindern und auch Erwachsenen zu erkennen.
Ännes Aufmerksamkeitsdauer hängt sehr von der Aufgabe ab. Wird es für Änne zu langweilig, zu eintönig, schaltet sie ab und artikuliert das auch klar und deutlich.
Sie verfügt über eine starke Eigenmotivation und sucht auch bewußt die Herausforderung.
Beobachtung:
Änne: „Komm Diana, wir wollen was Schwieriges machen.“
Ich habe vor kurzem ein Spiel aus der anderen Gruppe geholt, wir tauschen die Spiele ab und zu untereinander aus. Mit Änne habe ich es aber bis dahin noch nicht gespielt. Es handelt sich um Triplet. Die Aufgabe besteht darin, mit Dreiecken entweder eine Raute, ein Dreieck, ein Sechseck oder ein Stern zu legen. Vor jeder Seite gibt es ein Raster, welches angibt, wieviel Dreiecke benötigt werden. Es gibt hierbei verschiedene Schwierigkeitsstufen, so dass für die leichtere Variante, mit 4 Dreiecken gearbeitet wird, es aber bis zu 12 Dreiecken gehen kann. Jedes Dreieck beinhaltet noch einmal 4 Dreiecke, entweder in derselben Farbe, oder auch bunt gemischt. Insgesamt können 34 Vorlagen nachgebaut werden. Ich spiele das Spiel sehr gern mit Kindern, da hier sehr gut zu erkennen ist, wer gut kombinieren, konstruieren und sich konzentrieren kann.
Ich erkläre Änne das Spiel und zeige ihr auf der Vorlage die erste Figur. Es ist ein Dreieck aus 4 Dreiecken, wobei sie auf die Farben achten muß. Ruck zuck hat sie das System verstanden und sagt:
„Guck Diana, ich hab es schon geschafft. Das war zu Baby.“
Also wähle ich eine höhere Stufe: einen Stern aus 12 Dreiecken legen. Das ist gleich ein ganz schön großer Sprung, und ich zeige ihr, wieviel Blätter ich nun übersprungen habe, um ihr zu demonstrieren, um wieviel schwieriger diese Aufgabe ist.
Selbstsicher geht Änne an die Aufgabe heran. Sie überlegt und arbeitet hochkonzentriert. Jill ist ein Vorschulkind und nähert sich unserem Tisch. Als sie recht nah ist, sagt Änne: „Vermassel mir hier nichts!“
Jill daraufhin: „Was heißt vermasseln? Was bedeutet das?“
Änne: „Das erklär ich dir später, ich bin beschäftigt.“
Jill bleibt also daneben stehen und beobachtet uns. Dann sagt sie: „Meinst du nicht, dass das ein bisschen zu schwer ist?“
Änne: „Nee, nee das ist mir auf keinen Fall zu schwer. Ich muss auch gar nicht die Teile so oft drehen, denn die sind ja alle gleich groß und gleich lang.“
Änne löst die Aufgabe und ich lobe sie, da ich oftmals bei anderen Kindern eine Hilfestellung gebe, indem ich die einzelnen Teile abdecke; aber sie hat es ganz allein geschafft. Ich bin begeistert und frage sie: „Wie fandest du das denn von der Schwierigkeit her?“
Änne: „Leicht, ach nein mittel, aber ich will noch eins machen.“
Am Ende sage ich ihr, dass sie sehr konzentriert gearbeitet hat, ohne sich von den anderen Kindern ablenken zu lassen. Das war eine tolle Leistung, worauf sie stolz sein kann.
Hier hab ich wieder einmal gestaunt, denn das Spiel ist echt eine Herausforderung. Für Änne war es pure Freude und Lust, etwas Neues zu entdecken und sich den Anforderungen zu stellen.
Änne zeigte hier auch ganz klar ihre Vorliebe für Komplexität und den hohen Schwierigkeitsgrad der neuen Aufgabe.
Spielführerin
Sie möchte bei neuen Aufgaben so schnell wie möglich beginnen und ist oftmals die Spielführerin. Das liegt auch an der Qualität ihrer Spiele, die sehr von ihrer Fantasie geprägt sind. Die Kinder lieben es, mit ihr zu spielen.
Beobachtung:
Änne: „Wir machen heute einen Klug-Club und alle die klug sind, dürfen da mit rein.“
Es melden sich sogleich fünf Kinder und möchten unbedingt mitmachen, unter anderem Jill, ein Vorschulkind. Alle Kinder sollen sich im Schneidersitz setzen, Änne erklärt noch einmal genau, wie das geht. Dann beginnt sie wie bei Yoga, die Finger nach oben zu strecken (Daumen und kleiner Finger berühren sich) und sagt:
„Ommmm, Ommm, wir werden ganz ruhig.“
Einige Kinder schauen etwas ungläubig, aber nach kurzer Zeit, sind alle in ihrem Bann.
Bemerkung:
Ich empfinde es immer als sehr schön, wenn ein Kind mit Anderen etwas Neues ausprobiert, und es ist enorm spannend, denn die Reaktionen können ja auch variieren. Änne schafft es immer wieder, Kinder zu begeistern.
Den direkten Wunsch, so schnell wie möglich in die Schule zu kommen, erwähnte Änne noch nicht. Schule spielen ist aber bei ihr ein sehr beliebtes Spiel, wobei sie natürlich die Lehrerin ist.
Mathematisch- logische Intelligenz
Beobachtung:
Änne kommt zu mir und fragt, ob wir gemeinsam etwas spielen könnten. Ich frage, worauf sie Lust hat, auf etwas Schwieriges, oder was Leichtes. Sie entscheidet sich für das Schwierige. Ich hole den LÜK-Kasten und das Arbeitsheft für Kinder im Alter von 5-8. Das zeige ich ihr und sage, dass ich jetzt mal was Schwieriges raussuchen werde.
Ich entscheide mich für die Additionsaufgaben. Das heißt, man sieht je Kästchen 3 Teller. Auf allen 3 Tellern sollen insgesamt 10 Äpfel liegen. Ein Teller ist aber noch leer. Außerdem sind die Kästchen noch farblich hinterlegt, so dass sie beim Ablegen auch auf die Farbe achten muss.
Die erste Aufgabe lösen wir gemeinsam und ich frage, ob sie es verstanden hat.
Änne: „Das ist ja babyleicht.“
Die nächste Aufgabe löst sie allein. Sie vergewissert sich per Blickkontakt, nachdem sie den Stein abgelegt hat. Beim Arbeiten sagt sie: „Änne konzentrier dich! Konzentrier dich!“
Insgesamt sind es 12 Aufgaben, und nach dem 7. abgelegten Stein sagt sie: „Jetzt sind es nur noch 5 Steine, die ich ablege.“
Nach dem Lösen der Aufgabe klatscht sie in die Hände, überlegt kurz, ob gelbes ober blaues Kästchen und legt ab.
Am Ende führt sie die Selbstkontrolle durch, was hier durch Umdrehen möglich ist, da auf der anderen Seite ein bestimmtes Muster entstehen sollte. Änne schaut mich glücklich an und ich gratuliere ihr, dass sie hier wirklich fehlerfrei gearbeitet hat, obwohl sie an verschiedene Merkmale denken musste.
Änne: „Ja, ich kann gut nachdenken, denn ich versuche immer alles im Kopf zu ordnen und kann mich dann gut erinnern.“
Auch hier ist gut zu erkennen, dass Änne logisch denken und abstrahieren kann, sowie über eine enorme Konzentrationsfähigkeit verfügt.
Und sie ist bereits fähig zur Metakognition, das heißt, sie kann bereits über ihre eigene geistige Arbeit nachdenken.
Beim Lösen von Aufgaben sucht sie selbstständig nach Problemlösungen. Als sie die Aufgabe 10 plus 9 bewältigen will, schaut sie auf ihre Finger und stellt fest, dass die nicht reichen. Also legte sie noch entsprechend viele Stifte auf den Tisch, um abzählen zu können.
Inter- und intrapersonale Intelligenz
Änne verfügt über außerordentliche Fähigkeiten, wenn es darum geht, sich in Jemanden hinein zu versetzen.
Beobachtung:
Wir sind in der Turnhalle, alle sitzen im Kreis. Meine Kollegin Elke erklärt ein Spiel. Änne:
„Elke, du hörst dich an, als ob du heute das erste Mal hier wärst.“
Elke: „Warum?“
Änne: „Na, deine Stimme ist so verändert.“
Ich fragte Elke später, wie sie sich das erklärt, und sie meinte, dass sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Sie dachte daran, was sie noch alles zu erledigen hatte, und sie war daher nicht voll konzentriert.
Empfindsamkeit und Empathie kommen hier klar zum Ausdruck.
Auch ist es oftmals Änne, die sich der neuen Kinder in der Gruppe annimmt. Sie zeigt ihnen den Kindergarten und versucht sie zu integrieren. Dabei spielt das Alter für Änne keine Rolle, es können genausogut Vorschulkinder sein, die neu aufgenommen wurden, wie kleine Kindergarten-Neuankömmlinge.
Beim Spielen mit den anderen Kindern merkt sie sofort, wenn ein Kind langsam die Lust verliert und gibt diesem Kind kurzzeitig das Gefühl, Spielführer zu sein, obwohl sie natürlich im Hintergrund darauf achtet, dass sie das Sagen behält. Sie achtet darauf, die Struktur des Spiels zu bestimmen, aber immer so, dass alle Beteiligten sich gut dabei fühlen und wichtig sind.
Ihre eigenen Bedürfnisse möchte sie durchsetzen. Sie wirkt dann auch oftmals egozentrisch. Gut finde ich, dass sie für sich sorgt, aber das ist schon manchmal recht schwierig, da sie dann auch zu einer Lüge greift oder völlig abschaltet, sollte es nicht nach ihrem Sinn gehen.
Hier muß man ihr schon klare Grenzen setzen. Wenn sie Eine von Vielen ist, zeigt sie somit auch eine zweite Seite. Sie spricht dann nicht und ist partout nicht zu bewegen, das Geforderte durchzuführen.
Beobachtung:
Eine andere Kindergartengruppe kommt uns mit dem Fahrrad besuchen. Da es sehr warm ist, bekommen diese Kinder nach dem langen Weg ein Trinkpäckchen.
Änne fragte kurze Zeit später, ob sie auch solch ein Trinkpäckchen bekäme. Meine Kollegin erklärt ihr, dass wir nicht so viele haben, da ja dann alle Kinder ein Trinkpäckchen bekommen müssten. Danach fragte Änne mich und ohne es zu wissen, dass ich bereits der zweite Versuch bin, gebe ich die gleiche Erklärung ab, und Änne zieht von dannen. Beim Abholen nimmt sich Änne dann zwei Trinkpäckchen, gibt eines ihrer Schwester und nimmt eins für sich, welches sie auch schnell öffnet. Als ich sie damit sehe, frage ich, woher sie plötzlich solch ein Päckchen hat, und sie antwortet, meine Kollegin habe es ihr erlaubt.
Ich frage bei meiner Kollegin nach und wir stellen fest, dass Änne mich angelogen hat. Daraufhin spreche ich sie sofort an, doch sie beharrt darauf, eine Erlaubnis erhalten zu haben. Erst nach einigem hin und her, lenkt sie ein.
Da wir mit Änne schon oftmals über das Lügen geredet und ihr erklärt haben, welche Konsequenzen dies nach sich ziehen kann, ist es erstaunlich, wie beharrlich sie doch immer wieder zu diesem Mittel greift.
Im Einklang mit ihrer sprachlichen Gewandtheit ist Änne ein guter Konfliktlöser und setzt sich gern für das Wohl anderer Kinder ein.
Datum der Veröffentlichung: Januar 2012
Copyright © Hanna Vock 2012, siehe Impressum.