von Brigitte Gudat

 

Nachdem Tamara (5;5) sich in den letzten Monaten immer stärker mit Buchstaben beschäftigt hatte, zeigte sie Interesse, schon früher als gleichaltrige Kinder am Sprachtraining der angehenden Schulkinder teilzunehmen.

Wir haben ihre Teilnahme am Sprachtraining zur Beobachtung ihrer Fortschritte im Lese- und Schreib-Lernprozess und zur speziellen Förderung genutzt.

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Lese-Frühförderung

Das Programm zur vorschulischen Sprachförderung

Seit einigen Jahren wird in unserer Kita das Aachener Programm zur vorschulischen Sprachförderung und LRS-Prävention durchgeführt.

Ziel ist die Förderung der phonologischen Bewusstheit im Kindergarten. Dabei soll jedes Kind gemäß seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten die Chance bekommen, auf spielerischer Basis Grundlagen für seine späteren Lese- und Rechtschreibkenntnisse zu erwerben.

Das Programm beginnt mit Lauschspielen, danach geht es weiter mit Reimen, Silben, Anlauten, Phonemen und Spielen zur Buchstaben-Laut-Verknüpfung. Die Buchstaben werden mit den Kindern als Laut-Wahrnehmung erarbeitet.

Die Kinder freuen sich immer, wenn sie endlich beim Sprachtraining mitmachen dürfen. Wir haben dieses Programm zunächst in seiner vorgegeben Form durchgeführt und später mit eigenen Ideen erweitert.

Die Kinder haben viele Dinge, die sie gelernt haben oder die sie interessierten, mit in die Gruppe genommen. Dort gehören heute Reimwörter oder Silbenklatschen zum Alltag der Drei- bis Vierjährigen. Spiele des Sprachprogramms sind mittlerweile Gruppenspiele geworden.

Der Wunsch, den eigenen Namen zu schreiben, ist auch bei den kleineren Kindern schon vorhanden. Im Rahmen unserer Erweiterung sind Arbeitsblätter und Geschichten hinzugekommen. Inzwischen kombinieren wir die verschiedenen Sprachfördermaterialien, die wir in der Kita haben.

Tamara macht schon mit

Tamara war zunächst mit Begeisterung dabei. Die ersten Phasen wie Lauschspiele, Reime, Silben und Anlauten machten ihr sehr viel Spaß. Auch als dann einzelne Buchstaben vorgestellt wurden, machte sie gut mit. Der Buchstabe wurde meist in einer Tiergeschichte vorgestellt. Dabei hörte sie aufmerksam zu. Danach wurde noch einmal über die Geschichte gesprochen.

Anschließend erhielt jedes Kind die Geschichte nochmals in Kurzform für seine Vorschulmappe. Auf diesem Blatt war der Buchstabe, um den es ging, noch einmal in Groß- und Kleinschrift dargestellt. Einige Kinder haben selbstständig die Buchstaben im Text gesucht, angemalt und sogar gezählt.

Dieser immer gleiche Vorgang
im Anschluss an das Erlernen eines neuen Buchstabens
war für Tamara offensichtlich dann nicht sehr interessant.

Stattdessen hat Tamara eigene Wege gefunden, ihre neu gewonnenen Kenntnisse anzuwenden. Während des Freispiels schrieb sie immer wieder Buchstaben und Zahlen.

Tamara geht eigene (Lern-) Wege

Oft nahm sie sich unsere Buchstabentafeln (rechteckige Holztafeln mit aufgeklebten Großbuchstaben aus Sandpapier). Sie schrieb sie ab, pauste sie durch oder legte ihren Namen. Dabei fiel ihr beispielsweise auf, dass sie das „A“ dreimal verwenden musste.

Tamara schrieb immer wieder Buchstaben in ihre gemalten Bilder, darunter auch solche, die wir noch nicht besprochen hatten. Meistens konnte sie sie auch benennen. Oft kam sie während des Freispiels und ließ sich Wörter vorschreiben, die sie sich immer wieder vorlas und mit dem Stift den einzelnen Buchstaben nachging.

Tamara hat ihr Wissen auch an andere Kinder weitergegeben. So nahm sie sich kleine Kärtchen und schrieb auf jedes Kärtchen einen Buchstaben. Kindern, die am Maltisch saßen, nannte sie erst die einzelnen Buchstaben und zeigte sie ihnen. Dann vermischte sie die Karten, drehte sie so, dass kein Buchstabe zu sehen war, und ließ ein Kind eine Karte ziehen. Das Kind sollte nun sagen, welcher Buchstabe auf der Karte zu sehen war. Dieses Spiel dauerte eine ganze Weile und wurde auch mit vertauschten Rollen weitergespielt.

An dem Spiel beteiligten sich auch zwei dreieinhalbjährige Mädchen. Beiden hat Tamara immer wieder in aller Ruhe die Buchstaben erklärt. Das Spiel wurde tagelang immer wieder gespielt, selbst von den Kleineren. Tamara spielte aber nicht immer mit.

Sie hatte etwas Neues initiiert, in der Gruppe eingeführt und dann offensichtlich das Interesse verloren, nachdem das Thema für sie erfolgreich abgeschlossen war.

Da das Interesse der Kinder an Buchstaben so groß ist, habe ich ihnen weitere Möglichkeiten zum Experimentieren an die Hand gegeben. Ich habe also Buchstabenkarten gemacht und diese dann laminiert. Die mengenmäßige Verteilung der einzelnen Buchstaben habe ich dem Scrabble-Spiel entnommen.

Da ich eine Weile mit Laminieren und Ausschneiden beschäftigt war, fragten die Kinder immer wieder nach, wofür wir all diese Buchstaben brauchen würden. Ich habe Ihnen dann erklärt, dass wir aus den Buchstaben zum Beispiel unsere Namen legen könnten. Zwei Mädchen, die in diesem Jahr in die Schule kommen, suchten sofort die passenden Buchstaben ihrer Namen heraus. Das Interesse war also geweckt. Danach wurden die Buchstaben von den Kindern in einzelne Kästchen sortiert.

Am nächsten Tag wollte ich dies mit Tamara und drei Jungen aus unserer Gruppe, alle fünf Jahre alt, ebenfalls ausprobieren.
Zuerst habe ich gefragt, welche Buchstaben sie schon kennen. Es waren den Kindern schon sehr viele Buchstaben bekannt. Auf meine Frage, was wir damit machen könnten, kam die Antwort: „Wörter legen“.

Dies gestaltete sich erst einmal schwierig, weil sie nicht wussten, welches Wort sie nehmen sollten. Ich habe dann erzählt, dass die Kinder am Vortag die Buchstaben ihres Namens herausgesucht hätten. Die Buchstaben waren schnell gefunden.

Den drei Jungen fiel es schwer, die Buchstaben aus der Menge der Kästchen heraus zu suchen. Tamara hatte schnell die passenden Buchstaben gefunden und ihren Namen gelegt. Danach legte sie die Namen ihrer Schwester, ihrer Mutter und ihres Kuscheltiers.

Wenn sie nicht weiter kam und ich ihr das Wort langsam vorsprach, hörte sie die entsprechenden Buchstaben heraus und konnte das Wort legen. Danach legte sie noch Wörter wie „Mama“, „Papa“, „Oma“. Die Jungen legten ebenfalls ihre Namen und übernahmen dann Wörter, die Tamara gelegt hatte.

Als sie damit fertig waren, zeigte ich ihnen eine alte elektrische Schreibmaschine. Dabei war aber erst einmal das Gerät interessant, weil die Kinder eine Schreibmaschine gar nicht kannten. Nachdem ich ihnen die Funktionen erklärt hatte, wurde das Gerät zunächst getestet.

Die Schreib-Ecke entsteht

Das Gerät blieb im Gruppenraum und konnte von allen Kindern benutzt werden. Die andere Kinder, vor allem die fünf angehenden Schulkinder (alles Mädchen), waren sehr interessiert. Da Tamara schnell begriffen hatte, wie das Gerät funktioniert, hat sie die Unterweisung der anderen Kinder übernommen.

Dann wurde um die Schreibmaschine herum eine Schreibecke eingerichtet. Die Kinder holten sich Stifte, Papier, Klebstoff, Radiergummi, usw. Es wurden Briefe gefaltet und geklebt. Sie schrieben Buchstaben mit der Maschine und malten später Bilder dazu.

Am nächsten Tag malten sie auf einem Blatt die Tastatur der Schreibmaschine ab und klebten am oberen Rand ein weiteres Blatt fest. Das Blatt wurde so geknickt, dass das Ganze an einen Laptop erinnert. Damit fanden im Laufe des Vormittags die verschiedensten Rollenspiele statt.

Ein paar Tage später habe ich beobachtet, wie Tamara und Nele (auch fünf Jahre alt) sich die Buchstabenkästchen nahmen. Sie versuchten, bestimmte Wörter zu legen. Sie kamen zu mir und wollten wissen, ob dies richtig sei. Ich habe dann die Wörter langsam und deutlich mit Betonung der einzelnen Buchstaben vorgesprochen. Dabei hörten sie, in welcher Reihenfolge die Buchstaben angeordnet werden mussten.

Danach holten sie sich kleine Karten und schrieben die Worte darauf ab. Ich machte ihnen den Vorschlag, zu jedem Wort das passende Bild zu malen. Tamara meinte, man könne die Karten aufhängen, damit die Kinder, die noch nicht lesen können, sehen, was dort geschrieben steht. Die Idee wurde mit den Beiden umgesetzt. Es entstanden etliche Karten.

Auswertung

Tamara bereits vorzeitig am Sprachtrainingsprogramm teilnehmen zu lassen, war eine gute Erfahrung. Bald reichte ihr das (langsame) Lernen aber nicht mehr. Richtig Spaß haben ihr die Spiele und das freie Arbeiten gemacht. Immer wenn sich Dinge wiederholten oder gleich abliefen, ließ ihre Konzentration nach, sie störte, oder sie äußerte, sie habe keine Lust mehr.
Stattdessen hat sie selbst kreative Wege gefunden, neu Erlerntes anzuwenden und sogar an andere Kinder weiterzugeben.

Sie hat allerdings viele der für sie weniger interessanten Übungen offensichtlich auch deshalb mitgemacht, weil es ihr enorm wichtig ist, dazu zu gehören und nicht ausgeschlossen zu sein.

Dies wird durch eine Reihe von Beobachtungen bestätigt. Eine Zeitlang schaute Tamara morgens, bevor sie ihre Jacke auszog, ins Gruppenzimmer, um zu sehen, wer von ihren Freundinnen schon da war und mit wem sie spielten. Hatten sich schon zwei Kinder gefunden, kam die Frage an ihre Mutter: „Und mit wem soll ich jetzt spielen?“

Im Moment hat sie, glaube ich, Angst, von den anderen Kindern ausgeschlossen zu werden. Sie hat in letzter Zeit öfter feststellen müssen, dass sie ihren Freundinnen nicht immer ihren Willen aufzwingen kann. Oft ist es so, dass sie dann auch nur mit einem Kind alleine spielen möchte und Andere zurückweist.

Um dazu zu gehören, beteiligt sie sich meines Erachtens oft an Dingen, die sie eigentlich nicht so mag (wie zum Beispiel Buchstaben im Text suchen), die andere Kinder aber gerne machen.

Die weitere Förderung Tamaras nach den Sommerferien

Das Sprachtraining, das sie eigentlich als angehendes Schulkind erst jetzt absolvieren würde, hat sie fast komplett mitgemacht und ist wesentlich weiter als die anderen Kinder.

Dies werde ich also mit ihr nicht noch einmal von vorne beginnen. Ich werde stattdessen weiter mit den Buchstabenkarten arbeiten. Eine weitere Möglichkeit wäre, ein Lesebuch aus dem 1. Schuljahr einzuführen, da Tamara in der Lage ist, Buchstaben aneinander zu reihen und somit der Schritt zum Lesen und Schreiben nicht mehr weit ist.

Ich muss jedoch darauf achten, dass Tamara sich aus der Gruppe der angehenden Schulkinder nicht ausgeschlossen fühlt, weil sie andere Dinge macht.

Zum Thema Lese-Frühförderung besuche ich mit zwei Grundschullehrerinnen demnächst eine Fortbildung. Dort werde ich sicher Anregungen erhalten. Da der Kontakt zu den beiden Lehrerinnen in den letzten Wochen sehr gut geworden ist, kann ich mir vorstellen, vielleicht auch von dort Unterstützung zu bekommen.

So ging’s weiter:

Lese-Frühförderung

 

Datum der Veröffentlichung: Juli 2016
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