von Annika Hensel
Janna (4;8 Jahre alt) ist über unsere Quote für hoch begabte Kinder in die Kita gekommen und wurde auch bereits (extern, wir testen nicht selbst) positiv auf Hochbegabung getestet.
Dabei erreichte sie in der Skala intellektueller Fähigkeiten (SIF) einen Gesamtstandardwert von 134 und einen entsprechenden Prozentrang von 99, also zeigt nur ein Prozent der Kinder ihres Alters in diesem Bereich gleich gute oder bessere Leistungen.
In der Skala einzelheitlichen Denkens (SED) erreichte sie einen Standardwert von 93, also 7 Prozent der gleichaltrigen Kinder können hier gleich gute oder bessere Leistungen erzielen.
Ihre Leistungen in der Skala ganzheitlichen Denkens (SGD) sind mit einem Standardwert von 142 und einem dazugehörigen Prozentsatz von >99 zu benennen. Dementsprechend schneiden weniger als ein Prozent der Kinder dieses Alters gleich gut oder besser ab. Folglich liegt bei Janna eine Hochbegabung vor.
In der Fertigkeitsskala (FS) erreichte Janna einen Standardwert von 98, nur 2 Prozent besitzen gleich gute oder bessere Fertigkeiten.
Die qualitative Beurteilung ihres Arbeits- und Kontaktverhaltens in der Testsituation ergab Folgendes:
Aufmerksamkeit: sehr gut konzentriert und motiviert,
Kontaktverhalten: gut kontaktfähig,
Ausdauer: gut ausdauernd,
Arbeitsgenauigkeit: sorgfältig, genau,
Arbeitstempo: (angemessen) schnell, zügig.
Vorüberlegungen
In der Kita beobachten wir, dass Janna ein sehr phantasiereiches Kind ist und Geschichten jeglicher Art liebt. Diese Geschichten erlebt sie förmlich und erfindet gerne etwas zu den Geschichten hinzu.
Um ein Projekt zu gestalten, das voll Jannas Bedürfnissen entspricht, liegt es also nahe, ein Projekt im Bereich Geschichten zu beginnen oder eine Geschichte als Theaterstück einzuüben.
Da Janna aber schon vor kurzem Mitglied unserer Theater-AG war, will ich ihr eine neuartige Herausforderung bieten.
So biete ich Janna an, eine Geschichte mit ihr zu schreiben.
Außer Janna wähle ich noch Leona (4;6 Jahre) und Christin (5;4 Jahre) aus. Für die Beiden entscheide ich mich, da Leona auch sehr aufgeweckt ist und Janna mit ihr eine Gleichaltrige bei dem Projekt hat, die in mancherlei Hinsicht auf Jannas Entwicklungsstand ist.
Christin ist älter als die Beiden, sie ist ein sehr intelligentes Kind, das Buchstaben liebt und schon vieles gerne schreiben möchte. Hier sehe ich die Möglichkeit, durch Christins Begeisterung für das Schreiben, Janna eine neue Herausforderung zu bieten, bei der sie direkt einen Interessenspartner hat, zumal ich schon beobachtet hatte, dass Janna sich für Buchstaben interessiert. Außerdem ist Christin ein sehr besonnenes Kind, das etwas Ruhe und System in unsere Runde bringen wird.
1. Treffen
Zu unserem ersten Termin hole ich die Drei aus ihrer Gruppe ab und erzähle ihnen, dass ich es toll fände, gemeinsam mit ihnen eine Geschichte zu schreiben. Zu dieser Geschichte könnten wir dann auch Bilder malen. Mit der Geschichte und den Bildern könnten wir dann zusammen ein Buch erstellen, und zwar mit Hilfe eines Programms auf meinem Computer.
Die Drei sind begeistert und wir überlegen gemeinsam, wie wir nun vorgehen wollen. Janna ist direkt wieder mit voller Phantasie dabei und erfindet alle möglichen Handlungen.
Dies geht uns anderen zu schnell und so schlage ich vor, dass wir uns zuerst einmal überlegen, um wen es in der Geschichte gehen soll – also wer die Hauptperson der Geschichte sein soll.
Janna schlägt eine Prinzessin Lillyfee vor, die von einem Wolf namens Wolfi gefressen wird. Das finden die beiden Anderen toll. Christin schlägt vor, dass es dann auch Lillyfees Eltern geben muss, einen König und eine Königin. Dem stimmen auch alle zu und Janna fordert, dass die Prinzessin auch einen Bruder haben muss, der Marco heißt – wie ihr Bruder. Die beiden Anderen sind einverstanden. Dann regt Janna an, dass es noch einen Drachen namens Kokosnuss geben müsse und ein Einhorn.
Ich schlage vor, dass wir es dabei belassen und uns erst mal überlegen, wie die Geschichte starten soll. Die Drei sind einverstanden. Also legen wir los und überlegen uns gemeinsam folgenden Anfang:
Die Prinzessingeschichte
Es war einmal eine Prinzessin, die Lillyfee hieß. Sie lebte in einem wunderschönen neuen Schloss in Rheinberg.
Auf Rheinberg kam Janna. Als ich sie frage, ob sie wisse, dass es die Stadt Rheinberg wirklich gibt, antwortet sie: „Klar, ich bin ja schon mal da gewesen“.
Dieses Schloss hatte auch einen Namen, der „Rhein“ lautete. Diesen Namen hatte das Schloss, weil es direkt am Rhein stand. Lillyfee wohnte zusammen mit ihrer Mama und ihrem Papa, der Königin und dem König, und ihrem kleinen Bruder Marco in diesem Schloss.
Ich merke, dass die Konzentration bei uns Vieren nachlässt, und schlage vor, am nächsten Tag mit dem Erfinden weiter zu machen, aber jetzt noch ein Bild zu malen, das zu dem ersten Teil unserer Geschichte passt.
Die Drei sind einverstanden. Jede von ihnen malt ein Bild. Dabei fällt mir aber schon auf, dass Janna wenig Spaß am Malen hat.
2. Treffen
Zu Beginn unseres zweiten Treffens lese ich den Mädchen erst einmal das schon geschriebene Stück vor. Und sofort sind sie wieder bei der Sache und Leona erfindet weiter:
Hinter dem Schloss war ein wunderschöner Wald, in dem es viele alte Bäume und liebe Tiere gab.
Janna fährt fort:
Auch ein Drache mit Namen Kokosnuss lebte dort. Kokosnuss flog durch den Wald, als der König und die Königin und ihre beiden Kinder spazieren waren.
Alle Ideen sind von den Kindern, ich helfe ihnen lediglich bei den Formulierungen, indem ich das, was sie erfinden, in klare Sätze fasse, sie dann aber auch frage, ob diese Formulierung so richtig sei.
Gleichzeitig war der Wolf Wolfi unterwegs auf der Suche nach etwas zu essen. Der Wolf war sehr gruselig, denn seine Lieblingsspeise waren Königstöchter mit Entenspinat und Currysoße.
Auch heute malen wir wieder zum Abschluss ein passendes Bild, aber außer Christin ist augenscheinlich keine richtig bei der Sache. Zwar malen Leona und Janna auch etwas, aber keinen Wolf. Janna malt einen „Himbeerbaum“, der ja auch thematisch zum Abschnitt mit dem Wald passt.
Hier kommt mir der Gedanke, dass Janna vielleicht nicht gerne malt, weil ihre Bilder ihren Ansprüchen nicht genügen.
3. Treffen
Auch bei diesem Treffen sind die Mädchen voll motiviert, die Geschichte weiter zu schreiben, und sie wollen sie zu Ende bringen, damit wir dann mit dem gemeinsamen Schreiben am Computer loslegen können. So geht die Geschichte weiter (und diesmal kommt die Geschichte richtig in Schwung und die drei Mädchen zeigen sie große Ausdauer):
Während die Königsfamilie so weiter spazierte, kam Lillyfee eine tolle Idee: Sie wollte Blumen pflücken, weil ihre Mama heute Geburtstag hatte. Also ging sie langsamer als die Anderen, um nach Blumen zu gucken.
Als sie welche sah, bog sie ohne die Anderen ab. Dies sah Wolfi, der Wolf, und lief ihr hinterher.
Als Lillyfee eine Pause machte vom Blumenpflücken, sah Wolfi das und überlegte nicht lange und fraß Lillyfee einfach auf.
In der Zwischenzeit merkte die Königsfamilie, dass Lillyfee nicht mehr bei ihnen war, und alle machten sich große Sorgen. Also gingen sie Lillyfee suchen und sahen gerade noch, wie der Wolf Lillyfee fraß.
Da war die Königsfamilie so traurig, dass alle weinten, außer Marco.
Dann kam dem König aber die Idee, den lieben Drachen Kokosnuss und Einhorn um Hilfe zu bitten.
Also rief die ganze Familie laut das Einhorn und den Drachen Kokosnuss herbei:
„Kommt bitte schnell, liebes Einhorn und lieber Kokosnuss!“
Und da kamen auch schon der Drache Kokosnuss und das Einhorn herbei gelaufen.
Die Königin berichtete, was passiert war. Da schnappte sich der Drache den Wolf und hielt ihn fest und das Einhorn prickelte mit seinem spitzen Horn den Bauch vom Wolf auf. Und da sprang Lillyfee aus dem Bauch heraus.
Da sprach das Einhorn: „Wolfi, fresse nie wieder Menschenkinder mit Entenspinat und Currysoße, sonst schnappt dich der Drache und verschlingt dich sofort!“
Da lief der Wolf so schnell er konnte fort.
Nun waren alle glücklich und gingen zusammen zurück zum Schloss und feierten den Geburtstag von der Königin.Ende
Über Jannas Idee mit dem Prickeln amüsieren sich alle Drei königlich.
Bei der heutigen Malaktion bestätigt sich, warum Janna nicht gerne malt. Als ich vorschlage, sie könnten ja den Drachen oder das Einhorn malen, weigert sich Janna. Sie erklärt, dass sie weder einen Drachen noch ein Einhorn malen könne.
Ich vermute, sie nimmt die Tiere anders wahr, als sie in der Lage ist, diese zu malen. Da ihr dieser Unterschied auffällt und ihre Zeichnung dann nicht so aussieht, wie sie das Tier wahrnimmt, lässt sie es lieber direkt sein.
Auch Leona äußert sich so, was zum einen ähnlichen Grund haben mag, aber zum anderen hat sie so auch einen Grund, mit Janna Quatsch zu machen. Janna bietet mir jedoch sofort eine Lösung an und fordert mich auf, ein Einhorn für sie zu malen, das sie dann ausmalen könnte. Dies mache ich und sage den Mädchen, dass ich auch nicht so gut malen kann wie andere Erwachsene und dass dies ja auch okay sei, meine Bilder seien ja schließlich auch schön, wenn auch nicht perfekt.
4. Treffen
Wir lesen noch mal die Geschichte, um zu überprüfen, ob alles so ist, wie wir es wollten. Alles wird für gut befunden.
Nun zeige ich den Kindern, wie das Einscannen von Bildern geht.
Janna meint, dass die Walze das Bild kopiert, aber dann nicht ausspuckt, sondern dem Computer gibt, und dann sieht man es auf dem Bildschirm.
5. Treffen
Heute zeigt ich den Kindern im Computer das Fotobuch-Programm, und jede von ihnen tippt einen Teil der Geschichte. Als die Kinder nach einer längeren Weile keine Lust mehr haben, verabreden wir, dass ich den Rest fertig mache und ihnen dann aber noch mal alles zeige, bevor ich die Bestellung abschicke. So machen wir es.
Gemeinsam suchen die Mädchen dann noch das Design für das Cover aus. Dies macht den Dreien sichtlich Spaß.
6. Treffen
Das Buch ist uns zugesandt worden, Janna, Leona und ich schauen es uns an – Christin ist leider in Urlaub. Beide Mädchen sind sichtlich begeistert und fordern mich sofort auf, es vorzulesen. Sie hören sehr aufmerksam zu und schauen sich alles genau an.
Dann gebe ich Beiden ihr Exemplar und die Freude ist riesig, sie bedanken sich und Janna schenkt mir den Stein (ein Dino-Ei), den sie von ihrem Freund geschenkt bekam. Das sagt sie auch, sie findet, ich hätte ihn verdient, sie könne sich ja einen neuen suchen.
Zuletzt bitte ich Janna und Leona, mir zu sagen, wie sie unser Projekt fanden. Sie gucken sich an, strahlen mich dann an und sagen: „Sehr schön“. Und als Antwort auf die Frage, was sie denn gelernt haben, sagt Janna lachend: „Drachen malen“.
Reflexion
Mir war es wichtig, Janna bei dem Projekt in ihren Begabungen zu fördern, aber auch die Kleingruppe so zusammen zu stellen, dass Janna die richtigen Partner hatte. Dies ist mir mit Christin und Leona gut gelungen. Leona ist auch sehr phantasiereich und quirlig, wie Janna. Sie sind, wie vierjährige Mädchen halt sind, lustig und quirlig und manchmal albern.
Christin ist bedacht und dadurch, dass sie älter ist, kann sie Jannas Ideen besser nachvollziehen. Oft hat sie Janna begrenzt, wenn diese zu wild erfand und deswegen schwer Struktur in die Sache zu bringen war.
Jannas Bedürfnisse wurden, denke ich, durch das Projekt angesprochen; allerdings könnte Janna ganze Romane schreiben, so viel fällt ihr ein. Wenn ihr jemand hilft, dies zu strukturieren, dann hat man ein ganzes Märchenbuch.
Jannas Freund sah das Buch und wollte direkt auch eines haben. Ich schlug vor, dass er ja auch mal bei einem Buchprojekt dabei sein kann. Dies wollte er aber nicht, er wollte ein Exemplar des Buches der Mädchen. Aber Janna war schon dabei, eine Piratengeschichte für ihn zu erfinden.
Außerdem war mir wichtig, alles von Anfang bis zum Ende mit den Mädchen gemeinsam zu machen – vom Schreiben über das Malen bis hin zur Bestellung, so konnten die Kinder viele neue Erfahrungen machen.
Dies war glücklicherweise auch möglich, da meine Kolleginnen und mein Kollege mir den Rücken frei hielten, damit ich mehr Zeit für die Mädchen hatte. Ansonsten hätte ich aus Zeitgründen manches bestimmt doch alleine gemacht.
Da zeigt sich, wie wichtig es ist, dass das Thema Hochbegabung gut im Team verankert ist und die Kollegen einander unterstützen, wenn mal etwas Aufwändigeres für eine Kleingruppe gemacht wird.
Datum der Veröffentlichung: März 2016
Copyright © Annika Hensel, siehe Impressum.