von Ayla Altın
Ich habe Pablo dabei beobachtet, wie er im Nebenraum saß und sich mit vorgeschriebenen Buchstaben beschäftigte. Seit längerem weiß ich schon, dass Pablo alle Buchstaben kennt, jedoch kann er noch nicht alle Laute den Buchstaben zuordnen. Ich ließ ihn seine Beschäftigung zu Ende führen.
Ein paar Tage später saß er in der Gruppe und beobachtete die anderen Kinder in ihrem Spiel. Ich setzte mich zu ihm und fragte, wie es ihm geht. Er antwortete kurz „Gut“ und beobachtete weiter. Ich fragte ihn, worauf er gerade Lust hat. Er könnte sich mit mir zusammen eine Beschäftigung aussuchen. Er sagte: „Wir können mit dem Buchstaben Memory spielen“. Ich antwortete ihm: „Gerne, wenn du das möchtest“.
Pablo freute sich und holte sofort die Buchstaben aus dem Regal, mit denen ich ihn ein paar Tage zuvor beobachtet hatte. Er legte er alle Buchstaben auf den Tisch und las sie mir vor. Ich fragte ihn, wer ihm die ganzen Buchstaben beigebracht habe. Er zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht“, war seine Antwort. Ich fragte ihn, was er mit den gelernten Buchstaben erreichen möchte. Seine Antwort war klar: „lesen natürlich“.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass er nicht nur die Namen der Buchstaben (zum Beispiel Ha oder Em), sondern auch deren Laute (wie es sich im Wort anhört) kennen muss, um lesen zu können.
Pablo lernt die Laute zu den Buchstaben
Zunächst wollte ich wissen, welche Laute er schon kennt. Wir mischten die Buchstaben auf dem Tisch. Pablo ging zum Regal und holte noch ein weiteres Kästchen, in dem die Kleinbuchstaben aufbewahrt werden. Er mischte die Groß- und Klein-Buchstaben.
Nun wollte er, dass ich ihm einen Buchstaben vorsage, und er wollte sie raussuchen. Wenn ich zum Beispiel den Buchstaben A sagte, suchte er mir das große und das kleine A heraus.
Zu meinem Erstaunen kannte er auch alle Kleinbuchstaben. Nun war es an der Reihe, die passenden Laute zu lernen. Diese Aktion war sehr spontan und fand in der Gruppe statt. Einige Kinder, deren Interesse geweckt wurde, versammelten sich um uns herum und machten mit.
Da wir in unserem Haus gruppenübergreifend arbeiten, fragte ich in der Morgenbesprechung meine Kolleginnen nach Kindern, die Interesse an Buchstaben haben. Sie konnten mir einige Kinder nennen. Da wir in unserer Kita öfter die Gruppen für Angebote mischen, kennen sich die Kinder untereinander.
Um zu erfahren, wie weit die einzelnen Kinder schon Buchstabenkenntnisse haben, machte ich ein paar einfache Spiele mit den Kindern, zunächst das Buchstaben-Memory. Auf den Kärtchen sind Bilder von unterschiedlichen Gegenständen, auf anderen Kärtchen sind Buchstaben und auf noch anderen Kärtchen sind – passend zu den Buchstaben – ausgeschriebene Wörter. Die Buchstaben oder die ausgeschriebenen Wörter sollen zu den Bildern zugeordnet werden.
Die Kinder suchten sich nach der Reihe ein Bild aus und sollten den ersten Buchstaben des zugehörigen Begriffs als Laut benennen, um dann den passenden Buchstaben finden, zum Beispiel „Affe“ fängt mit A an.
Die Aufgabe für die Kinder ist nun, das Wort „Affe“ ein paar mal zu wiederholen, bis sie den Laut von A heraus hören. Im Anschluss suchen sie die Karte mit dem A und legen es zum Bild vom Affen.
Dann geht das mit dem zweiten Buchstaben weiter, das ist bei „Affe“ ein F. Sie wiederholen das Wort, bis sie das F als Laut hören können, usw.
Bei diesem Spiel konnten sie sich gegenseitig unterstützen. Einige Kinder waren schon weiter in ihren Erfahrungen mit den Lauten, so dass sie den jüngeren Kindern helfen konnten. Pablo war sehr begeistert, er lernte die Laute schnell und machte bei jedem neuen Wort aufmerksam mit.
Er machte auch Späße und erfand selber Wörter und nannten den ersten Buchstaben als Laut „ Tuldi fängt mit T an“ Er hatte richtig viel Freude an diesem Spiel und wechselte sich mit den anderen Kindern ab.
Als ich Pablo ein paar Tage später wieder traf und fragte, ob wir das Memory-Spiel zusammen spielen sollten, freute er sich und holte es sofort aus dem Regal. Wie spielten es wie ein paar Tage zuvor, diesmal aber nur wir beide.
Zu meinem großen Erstaunen kannte er nun bereits fast alle Laute. Ich erzählte es am Nachmittag seinen Eltern und sie erklärten mir, dass Pablo seit ein paar Tagen zu Hause auch immer nach den Lauten zu den Buchstaben fragt und sich immer Bilderbücher alleine anschaut. Diese Aussage freute mich sehr. Denn ich hatte mein Ziel, dass er alle Laute kennen sollte sehr schnell erreicht, indem ich sein Interesse und seine Motivation geweckt habe, so dass er auch selbstständig weiter gelernt hat.
Da Pablo zwar kognitiv sehr weit ist, seine noch nicht so entwickelte Feinmotorik ihn aber daran hindert zu schreiben, wollte ich ihm andere Möglichkeiten zeigen, wie er – ohne zu schreiben – einzelne Buchstaben oder auch Wörter legen kann.
Pablo bildet schriftlich Wörter, ohne schreiben zu können
Ich traf mich wieder mit der Gruppe von Kindern, mit denen ich zuvor auch das Buchstaben-Memory gespielt hatte. Ich fragte die Kinder, ob sie eine Idee hätten, wie man Buchstaben darstellen kann, ohne einen Stift und Papier oder Buchstaben-Karten zu benutzen.
Onur, der gerne Buchstaben mit den Fingern nachbildet, hatte die Idee, die Buchstaben mit dem Körper zu legen. Während dieser Aktion überlegten die Kinder Buchstabe für Buchstabe, wie genau es aussehen soll und wie sie sich platzieren müssen, damit man die Buchstaben erkennt. Diese Aktion brachte viel Bewegung in das Projekt, die Kinder hatten großen Spaß daran.
Ein paar Kinder legten sich auf den Boden, um mit ihren Körpern die Buchstaben zu bilden. Die anderen Kinder führten Regie und überlegten, wie sie die Kinder dirigieren mussten, damit aus ihnen ein Buchstabe entsteht.
Bei dieser Aktion tauschten sie des öfteren die Rollen. Jedes Kind konnte mal ein Teil eines Buchstabens sein oder selber Regie führen.
Pablo führte bei einigen Buchstaben Regie. Bei dem Buchstaben S war er besonders motiviert und wollte, dass es perfekt aussieht, da es der Anfangsbuchstabe seines Nachnamens ist. Er sagte: „Das sieht aus wie eine Schlange, du musst dich ein bisschen rollen, so einen Bauch formen.“
Er merkte schnell, dass er zwei Kinder für diesen Buchstaben brauchte: „Das klappt nicht alleine, das müssen zwei Kinder sein, die müssen verkehrt liegen. Der eine nach da (und zeigte dabei nach links) und der andere in die andere Richtung (und zeigte dabei nach rechts).
Nachdem die Kinder die Buchstaben mit ihrem Körper gelegt hatten, wollten sie andere Materialien verwenden. Da es aber bereits sehr spät war, verlegten wir das auf den nächsten Tag.
Am nächsten Tag trafen wir uns wieder in der Turnhalle, weil wir dort sehr viel Platz haben und uns viele unterschiedliche Materialien zur Verfügung stehen. Die Kinder suchten unterschiedliche Materialien heraus, wie Bälle, Seile, Tücher und Stöcke, und versuchten damit Buchstaben zu legen. Ich gab den Kindern keine Reihenfolge vor, wie sie Buchstaben legen sollten, sondern ließ sie frei wählen. Sie legten die Anfangsbuchstaben ihrer Namen oder der Namen ihrer Freunde.
Nach und nach entstanden die kompletten Namen. Die Kinder, die sehr schnell waren, halfen den anderen Kindern.
Pablo hatte einige Schwierigkeiten, als er aus einem langen Stück Seil den Namen seines Freundes Santiago legen wollte. Beim Anfangsbuchstaben hatte er keine Probleme, doch der Rest fiel ihm schwer. Ich versuchte ihn zu unterstützen, wollte ihm die Arbeit aber nicht abnehmen. Trotz der großen Mühe war er sehr motiviert und wollte nicht aufgeben.
Ihm war schon klar, welcher Buchstabe als nächstes kommen sollte, aber die Umsetzung fiel ihm schwer. Lars aus der Nachbargruppe, der bereits flüssig lesen kann, kam dazu und wollte helfen. Die beiden Jungs überlegten gemeinsam, wie sie das Problem lösen könnten. Pablo erklärte ihm, dass er den Namen nur mit diesem Seil legen möchte. Er sagte: „Ich möchte das nur damit, aber es verrutscht immer. Ich weiß auch nicht, wie ich das machen soll.“
Lars ist feinmotorisch sehr geschickt und legte den zweiten Buchstaben. Er sagte: „Mach ein kleines a, das sieht aus wie ein Kreis.“ Danach war der Knoten geplatzt, sie halfen sich gegenseitig, indem Pablo die Buchstaben legte und Lars festhielt, damit das Seil nicht verrutschte.
Pablo dachte dabei laut nach: „Das n geht einmal hoch und wieder runter. Das t auch einmal hoch und wieder runter wie ein Strich. Das i ist etwas kleiner, und dann noch ein kleines a wie ein Kreis. Das g ist sehr schwer, da muss noch ein Stück nach unten. Das o ist ein Kreis, so ähnlich wie das kleine a. Am Ende schafften sie es gemeinsam. Pablo fragte mich ganz stolz, ob ich den Namen lesen konnte und war sehr stolz, als ich bejahte, und zeigte es den anderen Kindern. Er hatte es erstmals geschafft, ein Wort zu schreiben.
Pablo lernt die Laute zu Wörtern zu verbinden
Zur Lesegruppe gehörten nun bereits neun Kinder. Eine Aktion in der Turnhalle ist mit so vielen Kindern schon schön, aber eine ruhige Aktion am Tisch gestaltet sich schwieriger. Ich entschloss mich, die Gruppe in zwei kleine aufzuteilen, damit ich den Kindern mehr Aufmerksamkeit schenken kann.
Wir befassten uns wieder mit dem Buchstaben-Memory. Die Kinder hatten jetzt in einer Kleingruppe die Möglichkeit, richtige Wörter mit den Memory-Karten zu legen.
Das war auch wieder eine schöne Aktion für Pablo, da er nicht den Druck verspürte, die Buchstaben zu schreiben, sondern sie mit Karten zu legen. Dabei konnte er üben, Wörter zu lesen und sogar zu “schreiben“.
Ich suchte eine Karte mit einem Wort heraus. Ich las das Wort laut und deutlich. Im Anschluss drehte ich die Karte um, so dass das Wort nicht mehr zu sehen war. Pablo durfte beginnen.
Als erstes nahm ich das Wort „Ball“ und sagte es laut und langsam. Als Pablo den ersten Buchstaben erkannt hatte, wiederholte ich das Wort, bis er den zweiten Buchstaben erkannte, usw. Er suchte sich die einzelnen Buchstaben auf dem Tisch zusammen, um das Wort „Ball“ zu legen, so wie er das hörte.
Er schaffte es, nur dass am Ende zwei L waren, hörte er nicht. Da wurde mir bewusst, dass dies auch sehr schwierig ist, und ich achtete den Rest des Angebotes darauf, einfachere Wörter zu benutzen, in denen die Buchstaben nicht doppelt vorkommen – wie zum Beispiel „Nase“, „Oma“, „Sofa“, usw. Dabei steigerte ich den Schwierigkeitsgrad nach und nach.
Pablo fügte das zweite L noch hinzu, nachdem er sein Wort auf der Originalkarte überprüft hatte.
Immer wenn er das Wort richtig geschrieben hatte, durfte er die Karte behalten. Wenn er einen Fehler entdeckte, hatte er die Möglichkeit, sein Wort zu korrigieren. Bei dieser Aktion habe ich selbst die Erfahrung gemacht, dass für mich vermeintlich einfache Worte schwieriger sind als ich dachte.
Die Kinder waren sehr konzentriert, vor allem Pablo blühte förmlich auf. Er konnte den anderen beweisen, was er alles schon kann. Dabei hatte er keinen Stress mit der Stifthaltung. Beim Wörterlegen überlegte er genau, er verknüpfte die einzelnen Buchstaben, die im Wort vorkamen, mit anderen bekannten Wörtern.
Nicht nur Pablo, sondern auch die anderen Kinder legten die Wörter überwiegend richtig, da sie viel Zeit hatten und jedes Wort öfters in Ruhe wiederholten. Diese Aktion fand ich sehr erfolgreich: Die Kinder lernten, wie sie einzelne Buchstaben zu einem Wort verbinden und daraus ein Wort lesen können. Sie lernten nicht nur, die Wörter zu lesen, sondern sie auch zu „schreiben“.
Ich merke, wie Pablo in der Gruppe aufblüht und mit seinen Fähigkeiten anderen Kindern eine Hilfe ist. Auf der anderen Seite holt er sich in der Lesegruppe auch Wissen von älteren Kindern. Sie ergänzen sich gegenseitig.
Nachtrag:
Das Projekt „Lesen lernen“ war an dieser Stelle noch nicht beendet, es wurde weiter geführt, auch wenn das im Rahmen dieses Berichts nicht mehr dokumentiert werden konnte.
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Datum der Veröffentlichung: August 2015
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