von Ellen Görg
Im Beitrag Hinweise auf Hochbegabung bei einer Zweijährigen habe ich über die damals 2;3 Jahre alte Isabel berichtet.
Dabei spielte auch ein Spiel eine Rolle: „Heinevetters Trainer- Kindergartenspiel – Ein Spiel für vorschulische Erkennungsübungen im 3.-6. Lebensjahr mit automatischer Kontrolle.“
In der einfachsten Variante sollen die Kinder Gegenstände aus sieben Sachbereichen auf 49 Täfelchen wiedererkennen.
Da sich Isabel anhaltend für dieses Spiel begeistert, setze ich die Arbeit mit dem Spiel fort.
Isabel, jetzt 2;6 Jahre alt, nutzt weiterhin jede Gelegenheit, mit dem Trainer zu spielen. Dabei kann sie sich über einen längeren Zeitraum, etwa 15 bis 20 Minuten lang, gut konzentrieren. Leider hat sie nicht so oft dazu Gelegenheit, da dieser Trainer auch bei unseren Vorschulkindern ein heißer Favorit ist.
… kurz gefasst…
Ein zweijähriges Mädchen befasst sich interessiert, selbstbewusst und erfolgreich mit einem Spielmaterial, das für deutlich ältere Kinder gedacht ist. Sie möchte zunächst allein damit spielen, mit der ganzen Aufmerksamkeit der Erzieherin. Erst am 3. Tag findet sie es in Ordnung, dass zwei weitere Kinder mitmachen.
Ich beobachte, dass Isabel sehr unzufrieden ist, wenn sie nicht mit dem Trainer spielen kann. Manchmal versucht sie, das Spiel der anderen zu stören, indem sie heimlich, still und leise versucht, Legetafeln wegzunehmen. Das gelingt ihr natürlich nicht, und sie bekommt Ärger mit den älteren Kindern. Isabels Verhalten stimmt mich nachdenklich, und ich frage mich: Ist Isabel schon so frustriert – womöglich weil sie sich unverstanden und unterfordert fühlt – , dass sie durch Wut und Ärger eine aggressive Verstimmung zeigt? Oder kann man von einer aggressiven Verstimmung in Isabels Alter noch gar nicht sprechen?
Kommentar der Kursleitung:
O doch! Zumindest von aggressiven Reaktionen in frustrierenden Situationen. Geschieht dies oft und über einen längeren Zeitraum, kann es sich zu einer aggressiven Verstimmtheit ausweiten, die das Verhalten grundlegend bestimmt: Die Grundstimmung des Kindes ist dann irgendwann aggressiv getönt.
Was kann ich tun, um Isabel die Möglichkeit zu geben, ihr Interesse an diesem Trainer weiter zu fördern, und sie auch an die schwierigeren Varianten heranzuführen?
Da wir in unserer Einrichtung mehrere solche „Heinevetters Trainer“ mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden besitzen, frage ich in den Gruppen, wer seinen Trainer ausleihen kann. Ich werde fündig und kann so Isabel die Möglichkeit bieten, öfter mit dem Trainer zu spielen und ihr Interesse an schwierigeren Variationen zu wecken.
Ich möchte herausfinden, ob sie in der Lage ist, die einfachste Spielvariante vollständig, also mit allen sieben Bereichen und 49 Legetafeln zu lösen. (In der ersten Phase bekam Isabel nur eine kleinere Auswahl des Materials.) Ob ich sie damit überfordere?
Außerdem möchte ich erreichen, dass Isabel auch mit mehreren Kindern in einer Kleingruppe zusammen spielen kann. Ich habe nämlich beobachtet, dass Isabel kein anderes Kind mitspielen lässt, wenn sie sich mit dem Trainer beschäftigt.
Ich möchte auch überprüfen, ob sich die Hinweise auf Isabels mögliche Hochbegabung bestätigen.
Schritt für Schritt zu schwierigen Varianten
Zunächst möchte ich überprüfen, inwieweit Isabel sich mit den sieben Sachbereichen (Fahrzeuge, Geschirr, Spielzeug, Kleidung, Werkzeug, Tiere und Möbel) vertraut gemacht hat, und ob sie diesen Bereichen die entsprechenden Legetafeln zuordnen kann. Um sie nicht zu überfordern, will ich dabei schrittweise vorgehen.
Am ersten Tag gebe ich ihr nur drei Sachbereiche – Tiere, Kleidung und Möbel – mit den jeweils sieben Legetafeln. Isabel kann alle einzelnen Gegenstände (Symbole) auf den Legetafeln benennen und sie den Bereichen richtig zuordnen. Den Bereich Tiere schafft sie zuerst und sehr schnell, bei Kleidung und Möbel muss sie sich kurz einen Überblick verschaffen.
Am zweiten Tag gebe ich ihr zunächst die restlichen vier Bereiche – Fahrzeuge, Geschirr, Spielzeug und Werkzeug mit den jeweils sieben Legetafeln. Isabel löst auch diese Aufgabe sehr schnell. Ich beobachte, dass die Bereiche Werkzeug und Fahrzeuge etwas schwierig für sie sind. Aber die Bereiche Spielzeug und Geschirr kann sie sehr schnell zuordnen und richtig benennen.
Ich beobachte, wie sie genau kontrolliert, ob die einzelnen Tafeln auch passen. Sie sagt: „Das passt“ oder „Mein Papa hat auch einen Hammer“. So bringt sie eigene Erfahrungen in das Spiel ein. Wenn sie ein Symbol nicht gleich findet, bittet sie: „Ellen, hilf mir“. Ich zeige ihr ein Symbol, ohne es zu benennen. Isabel nimmt es und kann es richtig zuordnen und benennen.
Sie wählt stets zuerst solche Bereiche und Gegenstände, mit denen sie sich tagtäglich beschäftigt und kann sie sehr schnell zuordnen (Tiere, Möbel, Geschirr, Spielzeug und Kleidung). Bereiche wie Fahrzeuge und Werkzeug sind für Isabel nicht so interessant.
Kommentar der Kursleitung:
… oder nicht so bekannt? Später stellt sich ja heraus, dass sie diese Bereiche sehr schnell nachlernt.
Im Verlauf der Beschäftigung mit dem Trainer zeigt Isabel auch ihr Interesse am Zählen. Als nur noch fünf Felder (von 28) offen sind, fängt sie auf einmal an zu zählen, tippt mit ihrem Finger auf die offenen Felder und zählt: „Eins, zwei, vier, fünf, sieben“, schaut dann auf die restlichen auf dem Tisch liegenden Legetafeln und „zählt“ auch diese.
Kommentar der Kursleitung:
Wir würden das, weil Ähnliches immer wieder vorkommt, als Signal an Dich werten: „Das lerne ich auch gerade, weil es mich interessiert. Da könnte ich auch Unterstützung gebrauchen.“ Solche Signale sind vielleicht nur halb bewusst, aber sie drücken Wichtiges aus.
Danach ordnet Isabel die restlichen Legetafeln zu und freut sich, dass alles passt. Sie klatscht sich selbst Beifall.
Selbstständig traut sie sich an das komplette Spiel
Ich stelle es Isabel frei, ob sie das Spiel wegräumen möchte oder ob sie noch weiter spielen will. Zu meinen Erstaunen will sie noch einmal von vorn anfangen. Sie selbst legt das Spielmaterial in die Ausgangsstellung. Diesmal liegen alle 49 Legetafeln für alle sieben Sachbereiche auf dem Tisch.
Isabel verschafft sich erst wieder einen genauen Überblick, dabei nimmt sie sich richtig Zeit, um alle Legetafeln zu fixieren. Dann fängt sie selbstständig an, rasch ihre Lieblingsbereiche (Tiere, Spielzeug, Möbel, Kleidung, Geschirr) zuzuordnen. Immer wieder äußert sie: „Das passt“ – ihre Selbstkontrolle.
Nach etwa zehn Minuten bemerke ich, wie ihre Aufmerksamkeit und Konzentration nachlassen. Sie fragt: „Passt das?“ – ohne es selbst auszuprobieren, oder sie ordnet bei Werkzeug und Fahrzeugen die Bereiche falsch zu. Zwischendurch beginnt sie wieder die fehlenden Felder zu zählen.
Auf meine Frage: „Hast du noch Lust weiter zuspielen oder möchtest du wegräumen?“ sagt sie: „Ja, wegräumen“.
Kommentar der Kursleitung:
Sie kann ihre Bedürfnisse gut wahrnehmen und selbstbewusst ausdrücken. Gut, dass Du so aufmerksam reagierst.
Zu diesem Zeitpunkt fehlen nur noch neun (von 49) Legetafeln, die noch zuzuordnen wären.
Was mich an diesem Tag erstaunt, ist die verhältnismäßig lange Zeit, die sich Isabel dem Spiel widmet – außerdem ihr immer stärkeres Interesse am Zählen.
Das Spiel funktioniert auch in der Kleingruppe
Am dritten Tag bilde ich eine Kleingruppe. Zu Isabel (2;6 Jahre) kommen der gleichaltrige Marian und die etwas ältere Valerie (3;2 Jahre).
Nun soll Isabel mit den Beiden zusammen spielen.
Alle Legetafeln sind auf dem Tisch verteilt. Die bunte Vorlage liegt in der Tischmitte. Marian und Valerie, die bisher kaum Interesse an diesem Spiel gezeigt haben, sind nun sehr neugierig und wollen gerne mitspielen. Vor Spielbeginn erläutere ich genau den Spielverlauf und die Spielregeln: Die Kinder sind der Reihe nach dran, sie wählen sich ein Symbol (eine Legekarte) aus und legen es auf das entsprechende Bild. Das Symbol soll richtig benannt werden.
Valerie und Marian verschaffen sich einen Überblick, sie schauen sich alles sehr genau an. Isabel kann es kaum abwarten, mit dem Spiel zu beginnen.
Diesmal beobachte ich, dass Isabel keine Probleme mehr mit den Bereichen Werkzeug und Fahrzeuge hat. Den beiden „Neulingen“ gegenüber ist sie sehr hilfsbereit: Wenn es bei Marian nicht klappt, nimmt sie sein Symbol, legt es an die entsprechende Stelle und sagt: „Das passt“. Obwohl Valerie und Marian anfangs etwas unsicher sind, sich bei der Vielzahl der Symbole zu orientieren, gelingt es ihnen schnell, die Spielregeln einzuhalten und den Spielverlauf umzusetzen.
Im weiteren Verlauf ändert Isabel selbstständig das Spiel. Bis dahin liegen die Tafeln auf dem Tisch und jeder sucht die aus, die er legen will. Isabel ordnet nun jedem Kind so viele Legetafeln zu, bis keine mehr in der Tischmitte liegen. Dabei beginnt sie auch wieder die Legetafeln zu zählen. Die beiden anderen Kinder finden Isabels Vorgehen toll und sind damit einverstanden. Überhaupt haben die Kinder sehr viel Spaß und spielen sehr harmonisch etwa 20 Minuten miteinander.
Kommentar der Kursleitung:
Eine ganz wichtige positive Kleingruppen-Erfahrung für Isabel. Ihre Veränderung der Spielsituation interpretieren wir so: Als es ihr begann langweilig zu werden, sucht sie sich selbst eine neue Herausforderung. Schön, dass die anderen Kinder so positiv reagieren!
Habe ich mein Ziel erreicht?
Ich kann klar sagen, dass ich mein Ziel erreicht habe. Anfangs war ich mir nicht so sicher und fragte mich, ob ich Isabel mit dieser Aufgabe überfordere. Aber da Isabel immer wieder Interesse bekundete und ich ihr immer wieder den Trainer anbot, ohne Zwang und Druck, war ich mir fast sicher, dass ich meinem Ziel näher komme.
Ich glaube, dass es gut war, mit einfachen Schritten zu beginnen. So konnte Isabel sich systematisch die Bereiche und die dazu gehörigen Symbole einprägen. Bewährt hat sich, dass ich mehrere Trainer zur Verfügung stellen konnte, um Isabel die Möglichkeit zu geben, ihr Interesse zu vertiefen und sie somit neugierig auf schwierigere Varianten zu machen.
Ich habe den Trainer auch so in die Gruppe gelegt, dass Isabel ihn jederzeit selbstständig holen und sich damit beschäftigen kann. Doch sie beschäftigte sich immer allein mit dem Trainer. Wenn sich andere Kinder dazu setzen und mitspielen wollten, lehnte sie es ab.
Dieses Verhalten von Isabel stimmt mich sehr nachdenklich. Warum reagiert sie so? Ich glaube, dass sie mit der einfachsten Spielvariante unterfordert ist. Da sie in kürzester Zeit den Spielinhalt schnell verinnerlicht hat, ist ihr diese Spielvariante zu langweilig geworden.
Kommentar der Kursleitung:
Vielleicht hat sie schon die Erfahrung verinnerlicht: Wenn andere mitmachen, wird man gestört und/oder es wird zu einfach? Es ist die Frage, was in ihrem Kopf vor sich geht, während sie sich mit dem Trainer befasst. Vielleicht ist sie auf der Suche nach neuen Herausforderungen? Da würden die anderen Kinder natürlich stören, wenn sie am bekannten Schema festhalten würden…
Ihr Verhalten deute ich auch als Hinweise auf eine mögliche Hochbegabung: Auffällige schnelle Auffassungsgabe – Neues wird auf Anhieb begriffen. Hohe Verarbeitungskapazität von neuen Informationen. Schnelles Erkennen von Mustern und Gesetzmäßigkeiten. Widerwille gegen Routineaufgaben und Wiederholungen.
(Dies sind Merkmale, die aufgelistet und erläutert sind in: Hinweise auf eine mögliche intellektuelle Hochbegabung.)
Ich werde Isabel in der nächsten Zeit mit den schwierigeren Spielvarianten des „Heinevetters Trainer“ vertraut machen.
Weiter überlege ich, Isabel Zahlenspiele anzubieten. Immer wieder konnte ich ihr großes Interesse an Zahlen beobachten: wie beim Tischdecken das Abzählen von Bechern und Tellern.
Eine weitere eventuell überdurchschnittliche Begabung beobachte ich im musikalischen Bereich. Isabel kann sich schnell Liedtexte einprägen, oft geht sie auch in unser Musikzimmer, nimmt sich Instrumente und singt dazu unsere Lieder. Das macht sie aber nur, wenn sie sich unbeobachtet fühlt. Sind mehrere Kinder im Musikzimmer, zeigt sie diese Fähigkeiten nicht. Da das Musikzimmer an unseren Gruppenraum grenzt, und es immer von den Kindern genutzt werden kann, hat Isabel immer die Möglichkeit, ihre musikalischen Fähigkeiten weiter zu entwickeln.
Auf die nächste Zeit bin schon sehr gespannt, denn es ist sehr interessant, Isabels Entwicklung weiter zu verfolgen, ihr neue Impulse zu geben und sie so zu fördern, dass es ihr hoffentlich nie langweilig wird.
Eine Frage noch: Kann ein Kind (in diesem Fall Isabel) spüren, dass man eine besondere Beziehung zu ihm hat? Manchmal habe ich das Gefühl, sie weiß genau, dass ich sie genauer beobachte.
Kommentar der Kursleitung:
Ja, das hat sie sicher bemerkt. Eine solche besondere Beziehung – Mentorin und „Schülerin“ in einer rasanten Lernbeziehung – ist für sie bestimmt sehr wertvoll. Wobei ja auch Du in dieser Beziehung Neues lernt…
Wie es weitergeht mit der kleinen Isabel, wie ihr großes Interesse an Zahlen und am Zählen mithilfe einer schwierigeren Spielvariante des „Heinevetters Trainer“ gefördert wird, erfahren Sie im Beitrag Isabel (2;10) und die Zahlen.
Datum der Veröffentlichung: Juni 2015
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