von Heike Miethig
Rachel, mein Beobachtungskind, ist jetzt 4;8 Jahre alt.
Aufbauend auf Rachels sprachlichen und kreativen Fähigkeiten (Begabungen) möchte ich ihr Selbstvertrauen fördern, so dass sie ihre Kenntnisse und Ideen in der Gesamtgruppe leichter einbringen kann.
Mehr zu Rachels Begabungen lesen Sie hier: Rachel, 4;6 Jahre und Rachel und die Buchstaben.
Begründung:
Ich möchte Rachel im sprachlichen und kreativen Bereich fördern, weil ich glaube, dass hier ihre besonderen Stärken liegen. Ihre Sprachgewandtheit und Erzählfreude möchte ich herausfordern, indem ich mit ihr eine kleine Kurzgeschichte entwickele und diese nach ihrem Wortlaut niederschreibe. Rachel soll erleben, dass ihre Ideen und Vorstellungen Anerkennung finden.
Diese kleine Kurzgeschichte wird dann von Rachel gemalt, also in Bilder verfasst, um sie dann einer Kleingruppe vorzustellen. Hier würde ich gern erreichen, dass Rachel auch Stolz empfinden kann, dass ihre Geschichte vorgestellt wird.
Ich will erreichen, dass sie mehr Zutrauen zu ihren Fähigkeiten gewinnt. Um ihre kreativen Fähigkeiten weiter zu fördern, möchte ich mit Rachel und einer Kleingruppe Kostüme erstellen und Kostüme aus unserem Fundus heraussuchen, um die Figuren ihrer Geschichte nach ihren Vorstellungen zu verkleiden. Auch einige Requisiten sollen in dieser Kleingruppe entstehen.
In der Kleingruppe soll sie dann auch die Möglichkeit haben, den Ideen ihrer Geschichte Ausdruck zu verleihen und sie den anderen sprachlich zu übermitteln.
Die Aufführung der Geschichte in der Gesamtgruppe soll dann dazu dienen, Rachel – mit der hilfreichen Kleingruppe im Rücken – Sicherheit zu geben und sie zu ermutigen, ihre Überlegungen, Kenntnisse und Ideen auch in der Gesamtgruppe einzubringen.
… kurz gefasst …
Die 4-jährige Rachel ist klug, fantasiereich und sprachgewandt, traut sich aber nicht, ihre Meinung und ihre eigenen Ideen in der Gesamtgruppe kundzutun.
Die Autorin lässt sie im Zwiegespräch eine eigene Geschichte entwickeln, die dann zum Inhalt eines Kleingruppenprojekts wird. Gestärkt durch ihre Erfahrungen in dieser Kleingruppe kann Rachel ihre Geschichte dann selbstbewusst der ganzen Gruppe vorstellen.
Phasen des Projektes
1 Phase:
Rachel denkt sich die Kurzgeschichte aus.
2. Phase
Rachel malt Bilder zu ihrer Geschichte und stellt alles einer Kleingruppe vor.
3. Phase
Über Kostüme und Requisiten wird nachgedacht, sie werden hergestellt, das Rollenspiel wird geprobt.
4. Phase
Rachel und die Kleingruppe spielen die Geschichte der Gesamtgruppe vor.
Durchführung Phase 1:
Rachel denkt sich die Kurzgeschichte aus
Zu Beginn habe ich Rachel gefragt, ob sie Lust hätte, mit mir eine Geschichte zu erfinden, die wir dann später als Theaterstück den anderen Kindern vorführen.
Rachel war sofort begeistert, lachte und sagte:
“Erzählen kann ich ganz toll! Wann fangen wir an? Mama liest mir auch immer Geschichten vor, aber keine eigenen. Die sind immer aus Büchern.“
Ich war hocherfreut, sie gleich so begeistert zu sehen, hatte ich doch mit meiner Frage eigentlich nur ihre grundlegende Bereitschaft abklären wollen. Ich stellte meine Tagesplanung um, bat sie um etwas Geduld, weil ich die Räumlichkeiten, in denen ich die Geschichte mit ihr entwickeln wollte, noch etwas gemütlicher und anregender gestalten wollte.
Ich stellte Kerzen auf, legte den Raum mit Decken und Kissen aus, damit wir es uns bequem machen konnten. Um das fertig zu stellen, musste ich mehrere Male durch den Kindergarten laufen und jedes Mal, wenn Rachel mich sah, rief sie mir zu: „Können wir das Projekt anfangen?“ (Ich musste das Wort „Projekt“ irgendwann in meinen Erklärungen verwandt haben. Sie war beeindruckt von diesem Wort, das sie sicher zuvor noch nie gehört hatte.)
Als ich fertig war, ging ich zu ihr und bat sie mitzukommen. Rachel freute sich und sagte: “Jetzt machen wir das Projekt!“
Wir gingen in den vorbereiteten Raum. Rachel wurde beim Anblick der Kerzen und Kissen etwas schüchtern, sagte aber: „Das sieht aber schön aus.“
Um sie aus ihrer Schüchternheit ein bisschen heraus zu holen, schmiss ich mich in die Kissen und sagte: „Komm wir machen es uns gemütlich!“ Daraufhin nahm sie Anlauf und warf sich mit Geschrei in die Kissen. Wir kuschelten uns etwas zusammen und ich hatte das Bedürfnis, ihr erst einmal das Wort „Projekt“ zu erklären. Ich erklärte einfach, dass das Wort Projekt bedeutet, dass etwas nach einem Plan geschieht, dass man etwas besonderes vorhat.
Rachel hörte sehr genau zu und meinte:
„Dann fangen wir den Plan jetzt an und wenn das Theaterstück kommt, ist der Plan zu Ende, also das Projekt!“
Ich fand es unglaublich, wie spielend leicht sie mit diesem Begriff umgegangen ist.
Ich fragte sie, ob sie es schon einmal versucht hätte, sich eine Geschichte auszudenken. Rachel antwortete: “Wenn ich mit Playmobil spiele, denke ich mir Geschichten aus und stelle dann alles so hin, wie ich es will.“
„Hast du jetzt schon eine Idee für eine Geschichte?“ „Ja“, sagte sie und begann sehr vorsichtig:
„Da ist eine Prinzessin, die schwebt in ein Schloss.“ Dann zögerte sie. Ich fragte sie, ob die Prinzessin und das Schloss vielleicht einen Namen haben.
„Ja natürlich“, sagte sie, „Die Prinzessin ist eine Kinderprinzessin und heißt Schuga! Und das Schloss heißt Bäger.“
Ich glaube, die beiden Namen waren wirklich frei erfunden und spontan genannt.
Ihr anfängliches Zögern ließ nach, als ich immer wieder zurück fragte, ihre Ideen lobte und kleine Anregungen gab.
Sie erzählte dann sehr freimütig, was sie sich ausgedacht hatte. Ihre Erzählungen kamen zusammenhängend und ich merkte, dass die Geschichte während des Erzählens in ihrem Kopf Gestalt annahm. Ich ließ sie einfach erzählen.
Als sie erzählte, wo die Regale im Büro des Schlosses stehen, hatte ich sie nicht richtig verstanden und fragte nach: “Wo stehen jetzt die Regale, vor dem Schreibtisch oder dahinter?“
Rachel sagte: “Ist doch klar, die stehen hinter dem Schreibtisch und hinter dem Regal schlafen die Kinder. Die Kinder können sich immer ein Bett zum Schlafen aussuchen. Dahinter ist das Badezimmer, dann kommt eine Tür, da schlafen die Erwachsenen.“
Ich fand es sehr erstaunlich, wie klar sie sich die Räumlichkeiten vorstellte.
Dann erzählte sie die Geschichte einfach weiter, als hätte ich sie nie unterbrochen. Jetzt wurde es ihr wichtig, dass die Kinder zu spielen beginnen, und sie dachte sich verschiedene Spiele aus, die gespielt werden sollten, zum Beispiel „Schuhsalat“, „Schmetterling, du kleines Ding“, „Schlüsselkönig“.
Dann sagte sie: „Wenn die Kinder fertig gespielt haben, gehen sie ins Bett und die Geschichte ist aus!“
Sie bejahte meine Frage, ob sie spielen gehen möchte, und hüpfte aus dem Zimmer.
Reflexion:
Ich glaube, dass es mir gelungen ist, Rachels sprachliche Fähigkeiten herauszufordern. Sie hat ihre Sätze sehr klar und wohl überlegt formuliert. Ihr Sprachfluss, ihr Sprachrhythmus und die Sprachmelodie waren gut ausgeprägt. Es fiel ihr leicht, Haupt- und Nebensätze zu bilden. Ihre Ideen und Vorstellungen in Sprache umzusetzen, hat ihr sichtlich Freude bereitet. Besonders gefreut hat es mich, dass ihre anfängliche Schüchternheit sich durch Lob und Anerkennung schnell legte und sie zu einer sicheren und freudigen Erzählweise fand. Als ich den Eindruck hatte, dass durch das flüssige Erzählen immer mehr Bilder in ihrem Kopf entstanden, habe ich mich bewusst stark zurückgenommen, um sie nicht zu unterbrechen.
Weitere Überlegungen:
Ich denke, man sollte Rachels ausgeprägter Erzählfreude in Zukunft sehr viel mehr Raum geben, indem ihr mehr Erzählzeit und mehr Erzählangebote, zum Beispiel durch Bilderbücher und Geschichten, gemacht werden.
Weiter bin ich gespannt darauf, in wie weit sie sich im nächsten Schritt auf die Kleingruppe einlassen kann und ihre Beiträge zu ihrer Geschichte vermittelt.
In ihrer kleinen Geschichte zeigte sich auch wieder, dass sie großes Interesse an der Lage von Räumlichkeiten und Strukturen hat. Hierauf werde ich in Zukunft auch ein genaueres Augenmerk richten.
Durchführung Phase 2:
Rachel malt Bilder zu ihrer Geschichte und stellt alles einer Kleingruppe vor
In diesem Teil des Projektes möchte ich erreichen, dass Rachel die Bilder, die durch das freie Erzählen entstanden sind, in kreatives Malen umsetzt, damit ihre Ideen noch einmal für sie selbst und auch für die anderen Kinder sichtbar werden.
Ich möchte sie ermutigen, in der Kleingruppe ihre eigenen Ideen sprachlich zu formulieren (und eben nicht die Antworten der anderen Kinder nachzusprechen, wie sie das bisher fast immer tat) und ihre sprachlichen Fertigkeiten einzubringen.
Erreichen möchte ich, dass sie ihre Sprachkompetenz weiter ausbaut und mehr Zutrauen in ihre Fähigkeiten gewinnt. Mit Hilfe der ihr nun schon vertrauten Kleingruppe soll es ihr gelingen, ihre große Hemmung abzubauen, sich innerhalb der Gesamtgruppe zu äußern.
Unmittelbar nachdem wir die Geschichte fertig gestellt hatten, fragte ich sie, ob sie vielleicht schon das erste Bild malen möchte. Sie sagte spontan zu und meinte: “Ich male das Schloss Bäger!“ Sie setze sich an den Maltisch und malte sehr konzentriert. Dabei erzählte sie den anderen Kindern am Maltisch, warum sie jetzt das Schloss malt. Sie sagte: “Es ist mein eigenes Schloss und das ist pink!“ Ich empfand sie in diesem Moment als sehr selbstbewusst.
In den nächsten Tagen suchten wir gemeinsam aus, welche Teile der Geschichte sie verbildlichen wollte. Sie entschied sich außer dem Schloss Bäger auch die Prinzessin Schuga, den König und die Königin, die Freunde, wie die Freunde spielen, das Büro der Eltern und die Schlafplätze der Kinder zu malen. So begann sie eigenständig weitere Motive aus der Geschichte fertig zu stellen.
Sie kam vorher jedes Mal zu mir und sagte: “Ich mache jetzt an unserem Projekt weiter!“ Auf meine Frage, was sie malen möchte, konnte sie das Motiv sofort benennen. So sagte sie: „Heute male ich die Freunde oder den König und die Königin!“ Dann ging sie sehr zielgerichtet ans Werk.
Beim Bild der Freunde der Prinzessin benötigte sie ungewöhnlich viel Zeit, bis es fertig war. Ich gewann den Eindruck, dass es ihr vielleicht zu viel wurde und fragte sie, ob sie nicht ein Kind fragen möchte, ob es ihr bei der Gestaltung der Bilder behilflich ist. Sie schüttelte energisch den Kopf und sagte: “Ich will das alleine machen!“ Und genau das tat sie in den nächsten Tagen, bis alle Bilder fertig waren.
Als wir gemeinsam feststellten, dass wir alle Bilder zusammen hatten, sagte sie ganz stolz: “Jetzt bin ich fertig!“ Genau diese Worte hatte sie auch bei der Fertigstellung der Geschichte genannt. Ich fragte sie, ob sie sich ein schönes Band aussuchen möchte, um die einzelnen Bilder zu einem Buch zusammenzubinden.
Sie nickte freudig und wir gingen zu unserem Schrank mit den vielen Schleifenbändern.
Hier brauchte sie genau 7 Minuten, um sich für ein Schleifenband zu entscheiden. Ich machte ihr verschiedene Vorschläge, aber sie schüttelte nur den Kopf und sagte jedes Mal: “Das möchte ich nicht!“ Ich ließ sie daraufhin allein aussuchen und sie suchte aus und suchte aus. Als sie sich entschieden hatte, kam sie mit dem Band zu mir und sagte: “So soll das Buch aussehen!“
Sie verband die einzelnen Bilder sehr behutsam mit dem Schleifenband und machte selbst die Schleife. Danach betrachtete sie ihr Werk eine kleine Weile und lachte mich an. In diesem Moment hat sie auf mich sehr stolz und froh gewirkt.
Ich fragte sie, welchen Kindern sie ihr Buch vorstellen möchte und mit welchen Kindern sie es später auch als kleines Theaterstück in der Gesamtgruppe aufführen will. Sie nannte die Kinder: Annett 4;9, Lale 4;5, Hanna, 5;6, Nele 4;11, Patrick 4;9, Mia 5;8.
Ich fragte sie, ob sie die Geschichte selbst erzählen möchte. Sie schüttelte heftig den Kopf. Daraufhin schlug ich ihr vor, dass ich die Geschichte vorlese und sie die Bilder dazu zeigt. Dieses Angebot nahm sie an.
Am nächsten Tag fragten Rachel und ich die genannten Kinder, ob sie Lust hätten, bei dieser Aktion mitzumachen. Hier überließ ich es Rachel, nähere Erklärungen dazu abzugeben.
Sie sagte: “Ich hab eine Geschichte ausgedacht und Bilder gemalt, die will ich euch zeigen und dann Theater spielen.“
Die Kinder hörten Rachel sehr konzentriert zu. Ich erklärte ihnen, dass ich die Geschichte vorlese und Rachel die Bilder dazu zeigen wird. Ich nahm gezielten Blickkontakt zu Rachel auf, um mich zu vergewissern, ob sie bei ihrer Entscheidung, die Bilder zu zeigen, blieb. Auf meinen fragenden Blick hin nickte sie mit dem Kopf.
Ich begann die Geschichte vorzulesen, und Rachel war sehr konzentriert dabei, im richtigen Moment auch die passenden Bilder zu zeigen. Die Kinder reagierten positiv auf ihr erstes Bild; so sagte Hanna (5;6): “Das ist aber ein schönes Schloss!“
Ich konnte an Rachels strahlendem Gesicht erkennen, wie gut ihr die Bestätigung durch die Kinder tat.
Die übrigen Bilder zeigte sie stolz und selbstbewusst. Auf die Frage von Nele (Nele richtete ihre Frage direkt an Rachel) ob die Freunde im Schloss wohnen und essen, antwortete Rachel: “Ja, die essen und wohnen im Schloss bei der Prinzessin.“ Die Antwort kam sofort, ohne Zögern und sehr bestimmt.
Hier noch zwei Bilder aus der Serie:
Als die Geschichte zu Ende war, fragte ich die Kinder, wie ihnen die kleine Geschichte gefallen hat, und die Kinder antworteten: Ja, die war schön!
Rachel wurde etwas verlegen, war aber sichtlich erfreut. Auf meine Frage, ob sie sich vorstellen könnten aus dieser Geschichte ein kleines Theaterstück zu machen, bejahten alle ganz freudig und interessiert – und besonders laut schrie Rachel.
Die Kinder stellten fest, dass wir Kostüme brauchen und Kronen für den König und die Königin. Rachel schlug vor, dass die Freunde der Prinzessin noch „Dornröschen“ spielen sollten. Die anderen Kinder waren von dem Vorschlag begeistert und so wurde das Dornröschenspiel mit eingebaut.
Ich erklärte den Kindern, dass wir am nächsten Tag beginnen könnten, die Kostüme herzustellen bzw. aus unserem Fundus heraus zu suchen.
Reflexion:
Ich glaube, dass es mir gelungen ist, Rachel mehr Zutrauen in ihre Fähigkeiten zu vermitteln. Die positive Verstärkung ihrer Ideen und Vorhaben hat ihr, denke ich, mehr Sicherheit gegeben. Auch das Gefühl, mit den eigenen Inhalten im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen und dies als positiv und angenehm zu empfinden, war für Rachel eine sehr wichtige Erfahrung. Die positive Reaktion der Kinder hat Rachel sichtlich erfreut und mutiger gemacht.
Mir hat auch gut gefallen, dass sie nur die Bilder gemalt hat, die sie für nötig hielt, und bei weiteren Vorschlägen von meiner Seite stets ihren Willen durchgesetzt hat.
Wichtig war mir, dass sie versucht, ihre Inhalte und Ideen nach außen zu vertreten, indem sie ihr Vorhaben vor anderen sprachlich benennt, ohne sich – wie so oft in solchen Momenten – zurückzunehmen oder zu verweigern. Bis jetzt ist es gelungen, dass sie (bis auf kleine Unsicherheiten) freudig und selbstbewusst bei der Sache bleibt.
Durchführung Phase 3:
Über Kostüme und Requisiten wird nachgedacht, sie werden hergestellt, das Rollenspiel wird geprobt.
Ich möchte erreichen, dass Rachel in ihrer Kreativität gefördert wird, indem sie ihre Ideen zur Gestaltung der Kostüme und Requisiten äußert und mit mir und den anderen Kindern die Materialien, Kostüme und Requisiten heraus sucht bzw. herstellt.
Rachel und ich suchten die Kinder der Kleingruppe zusammen, um im Keller unseren Kostümfundus zu erkunden. Hier zeigte sich, dass Rachel sehr klare Vorstellungen hatte, wie die Figuren aussehen sollten. Als ich ihr ein Kleid für die Königin vorschlug, sagte sie: “Nein, das gefällt mir nicht, die Königin soll einen geblümten Rock anhaben und eine rosa Bluse.“ Also suchten wir gemeinsam einen geblümten Rock, fanden aber keine Bluse, die rosa war, was Rachel sichtlich verärgerte. Sie fing an zu meckern: „Das ist doof, so will ich das nicht!“ Auf meine weiteren Angebote hinsichtlich der Oberbekleidung der Königin schüttelte sie nur verärgert den Kopf.
Dann fiel mir ein, dass ich zu Hause eine rosa Bluse im Schrank hatte. Ich schlug ihr diese Lösung vor und fragte sie, ob das für sie in Ordnung wäre. Sie nickte mit dem Kopf und ihre Laune besserte sich schlagartig. Sie lachte wieder und half kräftig mit, die weiteren Kostüme heraus zu suchen. Die anderen Kinder hatten inzwischen einen roten Samtumhang für den König und unterschiedliche Kleidung für die Freunde gefunden.
Rachel suchte für sich als Prinzessin (für sie stand es fest, dass sie die Prinzessin ist) einen gelben Tüllrock und das passende Oberteil heraus. Wir gingen in den Gruppenraum zurück, legten die Kostüme auf die Tische und die Kinder begannen von sich aus die Rollen zu verteilen. Patrick als einziger Junge wurde der König, Hanna die Königin und Annett, Lale, Nele und Mia die Freunde.
Dann überlegten wir gemeinsam, welche Requisiten wir noch brauchten. Rachel sagte: „Wir brauchen drei Kronen“. Sie erklärte sich sofort bereit, die Kronen herzustellen. Nele schlug vor, rote Umhänge für die Freunde zu machen.
Im Keller hatten wir noch eine alte Kulisse gefunden, auf der eine Landschaft mit zwei Häusern abgebildet war. Beim Betrachten des Hintergrundes stellte Rachel fest: “Wir machen aus dem gelben Haus ein Schloss. Wir schneiden ein Schloss aus und kleben es über das Haus.“ Wir suchten die unterschiedlichen Materialien zusammen: Goldfolie für die Kronen, für die Umhänge rotes Krepppapier und Schleifenband, pinkfarbenes Papier für ein pinkfarbenes Schloss. Als wir alles beisammen hatten, erklärte ich kurz, wie die Umhänge hergestellt werden könnten und dass wir die Umrisse des Schlosses auf das Papier malen müssten.
Rachel sagte, sie wisse, wie man eine Krone macht. Die Kinder begannen mit der Arbeit. Nach kurzer Zeit bat Rachel mich um Hilfe, weil sie Probleme hatte, die Zacken der Krone zu malen. Ich zeigte es ihr, und sie beendete die Aufgabe selbstständig.
Während die Kinder werkelten, unterhielten sie sich darüber, welche Märchen sie kennen, und erzählten aus dem jeweiligen Inhalt. Auch Rachel unterhielt ihren Arbeitstisch mit ihren Kenntnissen, wobei sie die Inhalte der Märchen sehr genau wiedergeben konnte. Es herrschte eine konzentrierte, intensive, Themen orientierte und fröhliche Stimmung unter den Kindern.
Aber dann kam alles anders!
Die Gruppentür ging auf und Hannas Mutter kam herein. Hanna hatte wohl zu Hause von dem bevorstehenden Theaterstück erzählt und die Mutter war so begeistert davon, dass sie ihre sämtlichen Karnevalskostüme herausgesucht hat. Sie stand da mit einem Arm voll rosa Prinzessinenkleidern, Feengewändern, Mädchenträumen aus Tüll und Spitze und einem Frosch mit riesigen Glubschaugen.
Sie strahlte und fragte, ob wir die Kleider für das Stück gebrauchen könnten. Bevor ich irgendetwas sagen konnte, kamen die Kinder mit lautem Geschrei zu ihr gelaufen und rissen ihr die Kleider fast aus den Händen. Rachel war vom Anblick der Kleider ebenso hingerissen und suchte sich ein rosa Kleid mit gesmoktem Oberteil und weißen Spitzen im Rock aus. Die Kinder begannen die Kleider anzuziehen, waren sich gegenseitig beim Schließen der Kostüme behilflich und begannen dann die Geschichte einfach zu spielen. Sie gaben sich gegenseitig Tipps, wo wer stehen oder gehen sollte.
Hannas Mutter stand neben mir und war glücklich. Ich dagegen wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Aber die Begeisterung der Kinder war so groß, dass eine Unterbrechung meiner Meinung nach sträflich gewesen wäre. Rachel düste mit ihrem rosa Spitzenkleid auf einem Bobbycar durchs Zimmer und schrie immer wieder:
“Ich bin Prinzessin Schuga!“
Ich habe Rachel selten so gelöst gesehen.
Die anderen Kinder tanzten um sie herum, und der König und die Königin saßen würdig vor dem noch nicht vorhandenen Schloss. Ich ließ die Kinder gewähren. Nachdem sich der spontane Eifer etwas gelegt hatte, fragten die Kinder Hannas Mutter, ob sie die Kleider weiter für das Spiel benutzen dürften. Hannas Mutter bejahte dies freudig und ich entließ eine Mutter, die das Gefühl hatte, ein gutes Werk getan zu haben.
Als die Mutter gegangen war, fragte ich die Kinder, ob sie wirklich diese Kleider für das Spiel verwenden wollten und nicht die, die sie selbst herausgesucht hatten. Rachel sagte als erste: “Ich will dieses Kleid anziehen, das ist viel schöner!“ Die anderen Kinder schlossen sich an und ich gab nach. Die Kleider waren unschlagbar. Dann sagte ich den Kindern, dass sie jetzt zwar schöne Kostüme hätten, sogar die Freunde der Prinzessin hätten jetzt so schöne Kleider – die Umhänge brauchten wir ja jetzt nicht mehr – aber das Schloss sei noch nicht fertig.
„Das Schloss brauchen wir für die Geschichte“, sagte Rachel. Wir beschlossen gemeinsam, das Schloss am nächsten Tag im Freispiel fertig zu stellen. Denn jetzt hatten wir keine Zeit mehr, weil die Kinder abgeholt wurden.
Reflexion:
Ich denke, ich habe mein Ziel, Rachels Kreativität zu fördern, aufgrund der Situation nur im Ansatz erreicht. Zwar hat sie die Kronen noch fertig gestellt und dann auch später an der Fertigstellung des Schlosses mitgearbeitet, aber insgesamt sind die von ihr ausgesuchten Kostüme nicht zum Tragen gekommen, die ja eigentlich ihren Vorstellungen Ausdruck verleihen sollten.
Vielleicht haben die Kleider, die Hannas Mutter mitgebracht hatte, aber auch einfach ihren Geschmack mehr getroffen und sie konnte mit ihren Freunden, die wie Feen und Tänzerinnen aussahen, eine Menge anfangen. Jedenfalls deutete ihre freudige Gelöstheit darauf hin.
Ich fand es einerseits schade, dass durch das Eintreffen von Hannas Mutter die schöne „Arbeitsatmosphäre“ unterbrochen wurde, andererseits fand ich die Begeisterung der Kinder und die spontane Umsetzung der Geschichte sehr eindrucksvoll. Auch wie eigenständig sie sich gegenseitig Hilfestellung gegeben haben, war schön zu sehen. Gefreut hat mich auch, wie selbstverständlich Rachel ihre Rolle angenommen hat.
Was die sprachliche Förderung angeht: Rachels Erzählfreude fand Raum
und sie nutzte diesen auch reichlich, um ihr Märchenwissen zu vermitteln. Ich habe den Eindruck, dass sie mutiger darin wird, ihre Kenntnisse den Kindern auch mitzuteilen, wobei sie anscheinend weniger darauf achtet, wie die Reaktion der Kinder ausfällt. Ich finde, das ist schon ein kleiner Erfolg.
Ideen:
Vor der nächsten Aktivität (Aufführung in der Gesamtgruppe) möchte ich Rachel fragen, ob sie ihre gemalten Bilder noch beschriften möchte.
Durchführung Phase 3 a:
Die Bilder werden beschriftet
Als Rachel am nächsten Morgen in den Kindergarten kam, fragte ich sie, ob sie etwas zu ihren Bildern schreiben möchte, so wie sie es aus einem Bilderbuch kennt. Sie freute sich und sagte: “Ja, aber ich will das bei dir im Büro machen und du musst das vorschreiben.“ Ich sagte ihr meine Hilfe zu und wir gingen ins Büro. Besser gesagt, sie hüpfte freudig hinter mir her. Wir schauten uns die Bilder an und Rachel sagte mir, was sie zu den Bildern schreiben möchte.
Ich schrieb ihr die einzelnen Sätze vor. Dann begann sie die Buchstaben nachzuschreiben, und als sie die ersten Buchstaben fertig hatte, sagte sie zu mir wirklich strahlend: “Ich schreibe ein Buch!“
Ich antwortete: “Ja, du schreibst ein Buch.“
Daraufhin rief sie jedem Kind, das sich im Flur aufhielt, zu:
„Komm her, guck mal, ich schreibe ein Buch! Ich schreibe ein Buch!“
Es fiel ihr ausgesprochen leicht, die Buchstaben nachzuschreiben, und ihre Freude war riesig. Ihr ausgeprägtes Verhältnis zu Buchstaben werde ich in der nächsten Zeit noch gezielter fördern.
Und dies ist die Geschichte, wie Rachel sie mir im Büro diktiert hat:
„Eine Prinzessin schwebt ins Schloss. Das Schloss heißt Bäger und ist pink. In dem Schloss gibt es eine Schatztruhe. Die Prinzessin heißt Schuga und hat ein rosa Kleid an mit Blumen und Ringeln am Saum und das Kleid glitzert. Ihre Haare sind rot. Es ist eine Kinderprinzessin und sie spielt.
Sie spielt Bobbycar fahren, das macht sie am liebsten. Die Freunde von ihr wohnen auch im Schloss. Sie haben rote Pullover und gelbe Hosen und rosa Schuhe an. Aber Bobbycar fahren macht die Prinzessin immer allein. Wenn sie mit ihren Freunden spielen will, ruft sie alle. Alle sind lieb zu ihr und sie zanken nicht. Die Eltern der Prinzessin wohnen auch im Schloss und die finden es schön, wenn die Prinzessin lacht und Spaß hat.
In ihrem Zimmer hat die Prinzessin so viele Spielsachen, dass sie keinen Platz mehr hat. Wenn man die Treppe runter geht, ist da das Büro von Mama und Papa. Darin sind Bücher, die Regale und hinter den Regalen schlafen die Kinder. Im Büro ist auch eine Spielecke. Die Kinder können sich immer ein Bett zum Schlafen aussuchen. Dahinter ist das Badezimmer, dann kommt eine Tür, da schlafen die Erwachsenen. Jetzt spielen die Kinder und die Prinzessin aber „Schuhsalat“ und die Geschichte ist aus.“
Durchführung Phase 4:
Rachel und die Kleingruppe spielen die Geschichte der Gesamtgruppe vor
Mit der Aufführung in der Gesamtgruppe möchte ich erreichen, dass Rachel ihre Scheu, vor der Gesamtgruppe zu sprechen, weiter verliert. Darum sollte sie vor der Aufführung ihre Geschichte den Kindern selbst ankündigen. Die Kleingruppe, mit der sie die ganze Zeit gearbeitet hat, soll ihr Sicherheit geben. Ich möchte, dass sie spürt, dass den anderen Kindern ihre Vorstellungen und Ideen gefallen und es durchaus ein angenehmes Gefühl sein kann, auch thematisch im Mittelpunkt zu stehen. Ich möchte ihr Selbstbewusstsein stärken, dadurch dass sie stolz erlebt, dass es ihre Geschichte ist, die jetzt als kleines Theaterstück gezeigt wird.
Durchführung:
Am Tag der Aufführung kam Rachel schon sehr aufgeregt in den Kindergarten. Sie begrüßte mich mit den Worten: “Heute ist meine Aufführung.“ Ich fand es schön, dass sie das kleine Theaterstück wirklich als ihres ansehen konnte. Wir befestigten noch das fertige Schloss auf der Kulisse, dann spielten die Kinder bis es Zeit wurde, sich für das Stück umzuziehen.
Als es so weit war, bat ich Rachel, alle beteiligten Kinder zusammenzurufen. Ein aufgeregter Schwarm Kinder (allen voran Rachel) traf im Büro ein. Ich bat Rachel, dass sie vor der Aufführung den Kindern sagen sollte, dass es ihre Geschichte ist, die sie sich selber ausgedacht hat.
Hier war ich mir nicht sicher, ob ich mir nicht ein vehementes Nein abhole, aber Rachel nickte und sagte: “Ich sag denen das.“
Die Kollegen hatten noch eine passende Musik für unseren Einzug vorbereitet, und wir betraten geschlossen die Bühne. Rachel saß auf ihrem Bobbycar und raste wie mit einem Wildpferd ins Zimmer, hob das Bobbycar mehrmals an und ließ es dann laut auf den Boden knallen. Die Kinder stellten sich nebeneinander auf und warteten, bis die Musik vorbei war. Dann gab ich Rachel ein Zeichen, dass sie beginnen könne.
Und sie tat es tatsächlich. Sie sagte: “Ich habe mir eine Geschichte ausgedacht und die wollen wir euch jetzt zeigen.“
Die Kinder applaudierten und das Spiel begann. Rachel wirkte sehr selbstbewusst und ihre Aufforderungen an die anderen Spieler, die verschiedenen Spiele auszuführen, kamen klar und sicher an.
Die Kinder spielten die Geschichte nach und Rachel führte den einen oder anderen Mitspieler in die nötige Position. Auch bei dem gemeinsam beschlossenen Dornröschenspiel, das mit eingebaut wurde, übernahm Rachel die Führung und teilte die Spieler ein. Am Ende der Aufführung verbeugten sich alle Mitspieler und die Zuschauer klatschten. Rachel lachte über das ganze Gesicht und war sichtlich stolz.
Gesamtreflexion:
Ich glaube, dass es in der Gesamtheit des Projektes gelungen ist, Rachel im sprachlichen und kreativen Bereich zu befördern und gleichzeitig ihr Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu verstärken. In diesem Projekt hatte sie die Möglichkeit, ihre sprachliche und kreative Stärke einzubringen. Ihre Sprech- und Erzählfreude konnte sie an vielen Punkten des Projektes anwenden. Durch das Erfinden der Geschichte wurden ihre Fantasie heraus gefordert und ihr Sprachverständnis erweitert. Sie wurde mit jeder Phase des Projektes sicherer und selbstbewusster.
Ihr mehr und mehr gelöstes Verhalten in der Kleingruppe hat sich dann auch in der Gesamtgruppe widergespiegelt, als sie mit dem Bobbycar wie mit einem wilden Pferd sehr massiv auf die Bühne gekommen ist und sich als stark und selbstbewusst präsentiert hat.
Ich habe mich manchmal gefragt, ob ich das richtige Projekt ausgesucht habe, um Rachel zu fördern. Hätte ich zum Beispiel eine aufbauende Spielereihe genommen, wäre das Ergebnis natürlich sehr viel klarer und benennbarer ausgefallen. Ich komme aber zu dem Schluss, dass dieses Projekt in seiner Gesamtheit gut geeignet war, um Rachel in ihrer Persönlichkeit weiter zu stärken, so dass sie mutiger wird, ihrem Wissen vertraut und ihr Wissen und Können auch nach außen vertreten mag.
Ich glaube auch, dass das Gefühl, mit ihrem Thema im Mittelpunkt zu stehen und dafür Anerkennung zu erfahren, ihr die Sicherheit gegeben hat, vor der Gesamtgruppe selbstbewusst aufzutreten. Ich meine, dass die fachliche Förderung von Rachel unbedingt mit der Förderung ihrer Persönlichkeit einhergehen soll, um Rückzug und Verweigerung zu vermeiden.
Um zu sehen, wie andere besonders begabte Kinder zum Theaterspiel gefunden haben, lesen Sie:
Beispiele für Theaterspiel im Kindergarten
und
Theaterspiel mit hoch begabten Kindern.
Datum der Veröffentlichung: Februar 2014
Copyright © Hanna Vock, siehe Impressum