Musik als ganzheitliche Ausdrucksform von Gefühlen – Musik als Gemeinschaftserlebnis.
Von Petra Cohnen
Mein „Beobachtungskind“ Ergün ist inzwischen 4;9 Jahre alt. Er hat weiterhin gute Kontakte in seiner Gruppe. Da er mittlerweile an vielen Erlebnistagen teilgenommen hat, entwickelten sich ebenfalls unterschiedliche Kontakte zu den Vorschulkindern unserer Kita.
Mehr zu Ergün lesen Sie hier:
Die gruppenübergreifenden Erlebnistage sind Teil unserer vorschulischen Bildung und werden vorrangig, jedoch nicht ausschließlich, von Vorschulkindern besucht. Die von den Kindern selbst gewählten Themen werden durch die Erzieherinnen so vorbereitet, dass die Anforderungen dem Entwicklungsalter der Vorschulkinder entsprechen.
Für Ergün bietet dies immer eine gute Möglichkeit, sich neues Wissen im Austausch mit älteren Kindern gleicher Entwicklungsstufe anzueignen und neue Bekanntschaften zu schließen.
… kurz gefasst …
Ergün (4;9) möchte Klavier spielen lernen. Die Autorin ermöglicht ihm, zusammen mit fünf anderen Kindern, ein Klavier kennenzulernen; die Kinder erleben aber auch die leisen und lauten, hohen und tiefen Klänge anderer Instrumente.
Vor allem machen sie erste Erfahrungen im musikalischen Zusammenspiel und genießen es, ein „Orchester“ zu sein.
Und Ergün kommt seinem Wunsche näher…
Manchmal wirkt Ergün abwesend, reagiert ungewöhnlich, wenn er angesprochen wird. Meist nimmt er dann die Äußerungen seines Gegenübers nicht wahr oder bezieht sich in seiner Antwort nicht darauf. Ergün: “Ich möchte gerne Gitarre, Klavier und Trompete lernen.“ Auf die Frage, was er denn zuerst lernen möchte, antwortet er mit dem gleichen Satz wie zuvor.
Kommentar der Kursleitung:
Könnte es sein, dass er die Vorstellung hat, er könnte die drei Instrumente gleichzeitig erlernen – oder hat er die Idee, er würde alles gern mal ausprobieren, um sich danach entscheiden zu können? Wenn das so sein sollte, könnte seine Wiederholung des Satzes auch Hilflosigkeit und Ratlosigkeit ausdrücken, dass er nicht weiß, wie jetzt der nächste praktische Schritt wäre, um seinen Wunsch zu konkretisieren und zu realisieren.
Dann könnte man seine wiederholte Aussage auch als Appell begreifen, ihm jetzt konkrete Hilfestellung zu geben, damit er das Projekt angehen kann.
Er redet schnell und viel, wechselt rasch das Thema und möchte ganz viele Dinge gleichzeitig tun. „Wir können jetzt würfeln und mit den Rennautos spielen, dann noch meine Armbanduhr anschauen – die habe ich in der Türkei gekauft, also mein Papa für mich – und die Mundharmonika muss ich dir auch noch zeigen – ich weiß schon, wie spät es ist.“
Ergün liegt viel an seinen Zeiten, die er mit mir verbringen kann. Er spricht dann davon, dass wir „wieder was entdecken können“ und er habe schon viele Ideen.
Kommentar Kursleitung:
Möglicherweise ist die oben angedeutete Fahrigkeit darauf zurück zu führen, dass er weiß, dass Eure gemeinsamen Zeiten eng begrenzt sind (im Verhältnis zu seinen vielen Wünschen und Ideen: „möchte ganz viele Dinge gleichzeitig tun“).
Ihm sind vermutlich die aufregenden Lernprozesse, die er mit Deiner Unterstützung durchlaufen hat, sehr wichtig. Und da hofft er nun sehnlich und etwas ängstlich, dass er davon noch viel bekommt.
Hartnäckig spricht er mich immer wieder auf unsere gemeinsamen Zeiten an, wenn wir uns begegnen. Nachdem wir unser nächstes Treffen vereinbart haben, ist Ergün zufrieden und er zählt nach, wie oft er noch schlafen muss bis zu unserem Termin. Mir fällt auf, dass er zwar Wochentage kennt und gut einzuordnen weiß, Uhrzeiten ihm allerdings noch nichts sagen. So wollte er sich schon häufiger mit mir für sechs Uhr morgens verabreden.
Kommentar Kursleitung:
Vielleicht will er Dir deshalb seine neue Uhr zeigen und verbindet damit die Hoffnung, dass Du ihm die Sache mit den Uhrzeiten begreifen hilfst.
Vorüberlegungen / Ziele / Sachanalyse
Vorüberlegungen
Da Ergün viele Spielvorschläge macht, habe ich ihn gebeten, eine Auswahl der Dinge, die ihn am meisten interessieren, zu unserem Treffen mitzubringen.
Er bringt einen kleinen Koffer mit unterschiedlichen Spielen mit. Yves (5;2), der ebenfalls dabei ist, packt mit Ergün gemeinsam die einzelnen Dinge aus. Ergün stellt Rennautos, Würfelbecher, Trillerpfeife und die Armbanduhr kurz vor. Er wirkt dabei sehr fahrig und bleibt nur ganz kurz bei einer Beschäftigung.
Yves entdeckt die Mundharmonika und beide Kinder unterhalten sich über das Musizieren. Yves trommelt sehr gern, er besucht die Musikschule und hat dort schon einige „Trommelerfahrung“ gesammelt. Ergün spielt eine Melodie auf der Mundharmonika und Yves und ich beginnen mit rhythmischen Trommelgeräuschen, indem wir die Hände auf die Oberschenkel schlagen. Hieraus entwickelt sich eine intensive Spielhandlung. Ergün und Yves sind sehr konzentriert und mit Spaß dabei.
Beiden Kindern gelingt es gut, über unterschiedliche Lautstärken und Tempi miteinander in Kontakt zu kommen. Sobald ich dies merke, höre ich allmählich auf zu trommeln und beobachte die beiden Jungs bei ihrem für sie offensichtlich freudigen Spiel: Ergüns Wangen glühen und seine Augen strahlen wie schon lange nicht mehr. Das Spiel der beiden dauert ganze fünf Minuten.
Dieser Prozess ist ausschlaggebend für mich, das Thema „Musik“ auszuwählen, da ich die deutliche Begeisterung und Ausdauer beider Kinder feststellen konnte.
Kommentar Kursleitung:
Und beide Kinder haben gemerkt, dass sie dabei prima zusammenwirken können. Das erhöht sicher ihre intrinsische Motivation, weiter zusammen zu musizieren.
Anschließend erzählt Ergün, dass er gerne Klavier spielen lernen möchte.
Ich greife diesen Satz auf und biete ihm an, mein transportables Klavier mit in die Kita zu bringen. Ich erkläre ihm, dass ich ihm nicht das Klavierspiel beibringen könne, da ich es selbst nicht sonderlich gut beherrsche und dass es lange dauert, bis man Klavier spielen kann. Aber er könne mein Klavier ausprobieren und kennenlernen.
Ergün ist sofort begeistert und er schlägt vor, mit Yves (5;2 Jahre), Kevin (4;2 Jahre), Lisa (5;3 Jahre), Myra (4;3 Jahre) und Tobias (4;1 Jahre) zusammen Musik zu machen.
Ich bitte ihn, die benannten Kinder bis zum nächsten Termin zu fragen, ob sie mitmachen möchten. Er übernimmt diese Aufgabe und ich kann mich darauf verlassen, dass er sie auch erledigen wird, da Ergün in diesen Dingen sehr zuverlässig ist.
Ich werde mit den Kindern eine Reihe von musikalischen Aktionen durchführen, deren wesentliches Merkmal das gemeinsame Musizieren und Musikerleben ist. Bewusst setze ich keine abschließende Aktion voraus, um der prozesshaften Entwicklung des Geschehens genügend Raum zu geben.
Ich plane folgenden Anfangsimpuls zu setzen:
Freies Ausprobieren von Rhythmusinstrumenten (Trommeln, Klanghölzer), sowie Melodieinstrumenten (Glockenspiel, Xylophon, Klavier).
Der weitere Verlauf wird dann von den Ideen der Kinder abhängen, denkbar wäre:
– Den eigenen Körper als Instrument erleben
– Musikgeschichten erfinden und erzählen
– Ein Orchester darstellen und dirigieren
– Beschäftigung mit der Frage des Instrumentenbaus
– Graphisches Notieren von Musik, Notenschrift kennenlernen
– Weitere Instrumente kennenlernen
– Beschäftigung mit unterschiedlichen Musikstilen
– Tanz
Zielsetzung
Ergün hat schon lange den Wunsch, ein Instrument zu erlernen, schon letztes Jahr im Rahmen des Interessen-Fragebogens sprach er davon. Ich möchte ihn in seinem beharrlichen Verfolgen seines Zieles unterstützen und ihm die Gelegenheit geben, das Klavier als Instrument kennenzulernen.
Ich vermute, Ergün be- und verarbeitet derzeit viele Eindrücke, zu denen sicherlich das zu erwartende Geschwisterkind gehört. Durch die Beschäftigung mit der Musik kann er seinen Empfindungen und Gefühlen Raum und Ausdruck geben.
Ergün ist ein interessiertes und wissbegieriges Kind. Ich vermute, dass er beispielsweise nach der graphischen Darstellung von Musik fragen wird. Er kann also sein Wissen erweitern und neue Informationen für sein weiteres Handeln (Notieren eigener Klänge) verwenden.
Die teilnehmenden Kinder sind eingeladen, differenziert zu hören. Unterschiedliche Tonhöhen, Tonlängen und Lautstärken sind zu unterscheiden.
Die Kommunikation über das Gehörte erfordert von den Kindern aufmerksames Wahrnehmen und Wiedergeben des Gehörten. Die Kinder lernen, sich präzise auszudrücken.
Sobald die Kinder gemeinsam spielen, werden Absprachen notwendig. Ideen äußern, dem Anderen zuhören, argumentieren und eine gemeinsame Lösung finden sind Ziele dieses Prozesses.
Im „Orchester“ können die Kinder die Erfahrung machen, gemeinsam eine bestimmte Leistung zu erbringen, zu der jeder Einzelne gebraucht wird und die für den Einzelnen allein nicht leistbar ist.
Sachanalyse
Ich beziehe mich in dieser Sachanalyse auf den entwicklungspsychologischen Aspekt der Musik, der im Rahmen meiner Arbeit im Vordergrund steht.
Fragen der Kinder nach einzelnen Wissensbereichen der Musik, (Aufbau und Zusammensetzung eines Orchesters, Bau von Instrumenten etc.) werde ich entsprechend beantworten oder gemeinsam mit den Kindern recherchieren.
Musikalisches Handeln der Kinder ist immer aktives Erleben und spielerisches Gestalten. Bedeutsam ist der Prozess, nicht das Ergebnis im Sinne eines vorab klipp und klar vorgegebenen engen Ziels/Produkts oder einer vorführbaren oder gar zu vermarktenden Darbietung.
Lernen mit allen Sinnen und Ausleben von Emotionen kennzeichnen die kindliche Herangehensweise an Musik.
In folgenden Bereichen halte ich die persönlichkeitsfördernden Aspekte der Musik für bedeutsam:
- Wohlbefinden: Musik löst unterschiedlichste Empfindungen aus, kann somit zur Ausgeglichenheit beitragen.
- Ausdruck, Phantasie und Kreativität: Ideen mitteilen, Gefühle äußern fällt durch Musik oft leichter als durch Sprache.
- Soziale Kompetenz: Gemeinsam Musik machen fördert das aufeinander hören, Rücksicht nehmen, sich austauschen. Es wird geübt, für eine bestimmte Zeit im Vordergrund zu stehen und dann dem Anderen wieder den Vortritt zu lassen.
- Sprachkompetenz: Die eigene Stimme als Ausdrucksmittel erleben, jede Stimme klingt anders, gemeinsames Singen setzt deutliche Aussprache voraus.
- Aufmerksames Zuhören: Entwicklung von Sprachkompetenz, Konzentration, Training des auditiven Gedächtnisses.
- Kognitive Kompetenzen: Abstraktes Denken, die Verarbeitung von Informationen und das Erleben von Gefühlen bilden eine Einheit, was positive Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung und das Lernverhalten der Kinder hat.
- Körperbewusstsein und motorische Kompetenzen: Musik regt an zur Bewegung. Differenzierte Bewegungsabläufe sind notwendig, um ein Instrument zu spielen.
Durchführung
1. Treffen
Die Instrumente stehen bereit, sind jedoch noch verdeckt.
Ergün hat wie besprochen die von ihm vorgeschlagenen Kinder gefragt, ob sie mitspielen möchten. Alle sechs Kinder haben sich jetzt erwartungsvoll in der Turnhalle versammelt.
Da ich weiß, dass alle Kinder bereits Erfahrungen mit Musik gemacht haben, starten wir mit einer Erzählrunde. Die Kinder erzählen vom Singen, von Instrumenten, die sie gehört oder schon einmal gespielt haben. Die Erfahrungen der Kinder reichen von der Karnevalstrompete bis zur Chormusik in der Kirche, da einige Kinder im Kinderchor der Gemeinde mitsingen.
Das gemeinsame Singen im Chor greife ich auf und sage den Kindern, dass sie heute verschiedene Instrumente ausprobieren und gemeinsam Musik machen können.
Bevor wir beginnen, möchte ich mit den Kindern noch ein Zeichen für den Start und das Ende des Musizierens vereinbaren, damit das anschließende freie Ausprobieren eine Struktur erhält.
Ich frage also die „Chorkinder“ nach ihren Erfahrungen beim Singen, und Lisa berichtet, dass die Chorleiterin ein Handzeichen zum Start und zum Ende gibt. Wir vereinbaren, diese Zeichen zu übernehmen und mir kommt zunächst die Aufgabe des Dirigenten zu, da alle Kinder ein Instrument spielen möchten.
Der Begriff „Dirigent“ ist Kevin und Tobias unbekannt. Hier kann Ergün erklären, dass der Dirigent für das Orchester das ist, was der Chorleiter für den Chor darstellt. „Ein Chorleiter – nur für Leute, die ein Instrument spielen, ein Orchester eben,“ erklärt Ergün.
Die Kinder suchen sich jeweils ein Instrument aus. Wir besprechen das jeweilige Instrument nur kurz, da die Instrumente den Kindern bekannt sind. Das Klavier ist sehr begehrt, da es nicht ständig zur Verfügung steht. Ich erkläre den Kindern, dass jeder jedes Instrument ausprobieren kann. Dann gebe ich das Zeichen zum Einsatz und alle beginnen, ihr Instrument zu spielen. Zunächst werden die Instrumente eher leise gespielt, Ergün (Klavier) und Yves (Trommel) sind laut zu hören. Ganz bewusst lasse ich eine Weile verstreichen, bevor ich das Zeichen zum Stopp setze, um den Kindern genügend Raum zu geben, die Atmosphäre wahrzunehmen.
Mich interessiert nun, wie die Kinder ihr gemeinsames Spiel empfunden haben. Yves: “Wir waren mal laut, mal leise, das war gut!“ „Ja, aber der Kevin (Xylophon) hat fast gar nicht gespielt, den hab ich nicht gehört,“ sagt Lisa (Glockenspiel). „Das Instrument von Kevin ist ja auch aus Holz, das ist viel leiser als deins, das ist aus Metall,“ sagt Ergün. Myra (Klanghölzer) bemerkt, dass Ergün „die meisten Töne von allen gemacht hat.“ „Ja, das ist, weil das Klavier ganz viele Tasten hat und jede Taste ist ein Ton“, sagt Ergün.
Den Kindern fallen die schwarzen und weißen Tasten des Klaviers auf sowie die sich wiederholende Anordnung der Tasten. Tobias fragt nach dem Grund für die unterschiedliche Tastenfarbe und ich erkläre den Kindern, dass zwischen weißer und schwarzer Taste ein halber Ton liegt. Die Kinder fragen nicht weiter nach, sodass ich auch keine weiteren Erklärungen liefere. Ihr Interesse gilt momentan anderen Dingen.
Yves möchte jetzt das Startzeichen geben. Ergün findet noch ein Zeichen jeweils für „laut = Arm hoch“ und „leise = Arm nach unten halten“ und so ist die Idee da, „Dirigent und Orchester“ zu spielen. Ich beobachte das Geschehen und stelle fest, dass alle gut einbezogen sind. Selbstständig regeln die Kinder den Instrumententausch. Lisa möchte jetzt auch gerne Klavier spielen, Ergün will aber noch nicht tauschen. Er berät sich mit Lisa und beide spielen zusammen am Klavier.
Im weiteren Verlauf wird mehrmals in wechselnden Rollen „Dirigent und Orchester“ gespielt. Den Kindern gelingt es zunehmend besser, auf die Signale des Dirigenten zu reagieren.
Ergün, ansonsten häufig sehr dominant in solchen Situationen, akzeptiert es, dirigiert zu werden. Als Dirigent lässt er die Instrumente zu unterschiedlichen Zeiten einsetzen. Hierfür findet er wiederum ein neues Zeichen (Taktstock zeigt auf Kind).
Kommentar Kursleitung:
Er geht auch die Strukturen kreativ an.
Kevin fällt es sehr schwer, seinen Einsatz zu finden. Ergün ist ein geduldiger „Dirigent“ und gibt ihm Tipps. “Du musst auch immer zu mir schauen, dann siehst du, wenn ich auf dich zeige.“
Wenn Ergün Klavier spielt, nutzt er das gesamte Instrument. Er spielt beidhändig, probiert unterschiedliche Tasten- und Fingerkombinationen aus, spielt mehrere Töne gleichzeitig, lässt den Finger über die gesamte Tastatur laufen, spielt laute, leise, hohe und tiefe Töne und Tonkombinationen.
Er wirkt sehr konzentriert, seine Augen strahlen. Nach einer Weile sagt er: “Hör mal, Frau Cohnen, das klingt wie Liebe!“ Ich bestätige seinen Eindruck und Ergün sucht und findet Klänge für Wut, Angst und Langeweile. Bei „Langeweile“ bin ich sehr überrascht und frage ihn, wie die denn klingt. „Na so,“ sagt er und spielt immer wieder ein und denselben Ton.
Die Kinder spielen eine Stunde miteinander in wechselnden Zusammensetzungen, dann waren alle mal Dirigent und jeder konnte alle Instrumente ausprobieren.
In einer abschließenden Erzählrunde sprechen wir über unsere Musik. Alle möchten beim nächsten Treffen wieder dabei sein und weiter Musik machen.
„Wie ein richtiges Orchester haben wir heute gespielt“, sagt Ergün. „Ja, aber die haben immer so was, wo drauf steht, wie die spielen sollen, das haben wir nicht“, sagt Lisa. Ich stimme ihr zu und wir beenden unser Treffen mit der Idee, uns beim nächsten Mal mit Lisas Gedanken weiter zu beschäftigen.
2. Treffen
Zum nächsten Treffen versammeln sich wieder alle sechs Kinder in der Turnhalle. Ich habe Noten mitgebracht und lege sie in die Mitte unseres Kreises. Mir ist wichtig, dass die Kinder eine Notenschrift kennenlernen, um Lisas Gedanken des letzten Treffens aufzugreifen.
Darüber hinaus ist mein Ziel, sie die Logik der Notenschrift ganzheitlich erfahren zu lassen, indem sie selbst die Töne in unterschiedlichen Tonhöhen hören und darstellen können. Dies halte ich für eine notwendige Voraussetzung dafür, dass sie später selbst eine Notenschrift sinnvoll anfertigen können.
Lisa und Ergün erkennen die Noten sofort als Mittel, um Musik aufzuschreiben. „Wenn der schwarze Punkt oben auf einer Linie sitzt, ist das ein hoher Ton, sonst ein tiefer“, sagt Lisa. „Aber nicht alle Punkte sind ganz schwarz und manche haben einen Strich“, bemerkt Ergün.
Im folgenden Gespräch klären wir Aussehen und Bedeutung der ganzen, halben und viertel Note. Ich sage Lisa, sie habe schon sehr gut die Funktion der Notenlinien beschrieben und ich schlage den Kindern ein Spiel vor.
Dazu klebe ich zwei parallele Linien aus Kreppband auf den Turnhallenboden und erkläre den Kindern, dies seien die unterste und die oberste Linie der Notenlinien, sie selbst seien jetzt die Noten. Aus dem Glockenspiel entferne ich bis auf den höchsten und tiefsten Ton alle weiteren Töne. Nun frage ich die Kinder, wie das Spiel wohl weitergehen könnte. Sie beratschlagen eine Weile miteinander und Ergün sagt: “Ich spiele jetzt einen Ton und ihr müsst auf die richtige Linie springen“.
Dieses Spiel wird ausdauernd von den Kindern gespielt. Tobias, Kevin und auch Yves haben zunächst große Probleme, die Tonhöhe mit der jeweiligen Linie in Verbindung zu bringen. Nach einer Weile gelingt ihnen dies viel besser.
Die Kinder haben große Freude bei der Darstellung der unterschiedlichen Tonhöhen. Myra beginnt damit, sich beim tiefen Ton zu ducken und beim hohen Ton zu strecken. Ich frage sie nach dem Grund und sie erklärt: “Der tiefe Ton, da bin ich ganz unten, also wie in einem Loch in der Erde, und der hohe Ton ist wie ganz oben auf der Leiter.“
Nach einer Weile sind die Kinder sehr sicher und ich entschließe mich, eine dritte als mittlere Linie dazu zu nehmen und einen weiteren Ton beim Glockenspiel einzufügen.
Ergün fällt eine Variante des Spiels ein: “Ihr lauft alle durch die Turnhalle und ich schlage einen Ton an. Dann müsst ihr kommen und euch auf die Linie stellen.“
Zunächst bin ich skeptisch, da ich dies für sehr kompliziert halte. Da die Kinder aber von Ergüns Vorschlag angetan sind, beginnen wir mit diesem Spiel.
Tobias, Yves und Kevin schaffen es selten, die richtige Linie zu finden, Lisa und Myra sind jedoch sicher.
Wir beenden dieses Treffen wieder mit einer Erzählrunde, in der alle noch einmal über ihren Eindruck aus unserer Stunde reden. „Heute waren wir selber Notenpunkte, das war lustig“, sagt Myra. „Ja und Noten kann man sehen und Töne kann man hören und jede Note hat einen Platz auf der Notenlinie. Das ist wie schreiben mit Buchstaben“, sagt Ergün. Ich bestärke ihn in seiner Wahrnehmung und sage ihnen, dass ich mich sehr über ihre prima Spielideen gefreut habe und sehe, wie gut sie ganz genau hinhören und sich darüber austauschen können.
3. Treffen
Während des folgenden Musiktreffens erarbeiten wir Musikgeschichten. Als Orientierung dient den Kindern eine von mir erzählte Geschichte, in der ein Bär einer Ameise begegnet. Den verschiedenen Tieren und Begebenheiten der Geschichte ordne ich Klavierklänge zu. Die Kinder sind sehr bei der Sache und liefern viele Vorschläge, wie die Geschichte weiter geht.
Unter anderem möchte Ergün im weiteren Verlauf auch eine Musikgeschichte erzählen. Sie handelt von Rittern und Drachen, ist untermalt von vielfältigen, passenden Klängen.
In der Geschichte sucht ein Königskind nach seinem Vater, den es dann im tiefen Wald auch findet.
Ergün erzählt: „Das Königskind möchte mit dem Papa den Drachen jagen, geht aber nicht, weil der König die Königin nicht so lange allein lassen kann, denn die ist schwanger. Also gehen die beiden wieder ins Schloss.“
Diese Passage der Geschichte begleitet Ergün mit einer abwärtslaufenden Tonfolge, am Schluss kommt ein lauter Klang mehrerer tiefer Töne. Die Geschichte endet hier abrupt und Ergün geht weg vom Klavier.
Er setzt sich zu den anderen Kindern und schweigt. Auf mich wirkt er ernst, aber nicht wütend. Ich frage Ergün, ob wir seine Geschichte noch weiter erzählen dürfen. Er nickt, also frage ich die Kinder, ob jemand eine Idee hat, wie Ergüns Geschichte weitergehen könnte.
Lisa erzählt weiter: “Der Königspapa hat gemerkt, dass das Königskind sauer war (schrille, laute Klänge) und er hat gesagt: Wenn das Baby da ist, dann gehen wir beide auf Drachenjagd, nur du und ich. Damit war das Königskind einverstanden und bald bekam das Königskind einen kleinen Bruder.“
Ergün ist sehr zufrieden mit dem Ausgang der Geschichte und fragt Lisa: “Bist du sicher, dass er einen Bruder bekommt? Ich wünsche mir auch einen Bruder, keine Schwester!“ Die Kinder unterhalten sich noch eine Zeitlang über Geschwister, bevor unser Treffen endet. Da Ergün nun wieder ausgeglichen wirkt, spreche ich ihn nicht mehr auf seine Geschichte an. Ich denke, dass ihm Lisas Schluss der Geschichte geholfen hat, sich mit seinen Gedanken und Gefühlen über sein künftiges Geschwisterkind zu beschäftigen.
In mehreren weiteren Treffen, die ich hier nicht mehr ausführlich beschreibe, beschäftigen die Kinder sich noch lange mit Musikgeschichten.
Schriftzeichen für unterschiedliche Tempi und Symbole für den Einsatz der verschiedenen Rhythmusinstrumente während der Musikgeschichten werden festgelegt. So entsteht ein „Drehbuch“, und die Kinder greifen jedes Mal wieder darauf zurück, um die Geschichten zu spielen.
Reflektion
Ich habe den Eindruck, meine Ziele bezogen auf Ergün, aber auch auf die gesamte Gruppe erreicht zu haben.
Ergün hat sich mit Freude und intensiv mit dem neuen Instrument Klavier beschäftigt. Ein lang gehegter Wunsch ging für ihn – teilweise – in Erfüllung.
Ergüns Mutter teilte mir mit, dass sie nun aufgrund von Ergüns begeistertem Erzählen über unsere Musiktreffen überlegen, ihn Klavierstunden nehmen zu lassen.
Auch wenn Ergün nicht allzuviel über seine Gefühle bezogen auf das kommende Baby sprach, so gehe ich davon aus, dass ihn die Beschäftigung mit der Musik auf emotionaler Ebene sehr berührte und somit auf einer unbewussten Ebene Verarbeitung von Eindrücken stattfand. Dies mache ich unter Anderem an seinem Gesichtsausdruck und seiner Körperhaltung in vielen Situationen fest.
Begeistert hat mich die Genauigkeit, mit der sich die Kinder über ihre Höreindrücke austauschten. Viele Vergleiche wurden angestellt, genaue Erklärungen gegeben, um einander zu verstehen.
Gemeinsam Musik zu machen, ein „Orchester“ zu sein, rief Freude und Stolz hervor und das Gefühl, gemeinsam etwas Neues geschaffen zu haben.
Die im Alter und Entwicklungsstand doch recht unterschiedliche Gruppe hat über die Musik eine Gemeinsamkeit gefunden, die auch in Zukunft noch Bestand haben wird. Die Eltern der meisten Kinder dieser Gruppe haben mich auf unser Musikprojekt in positiver Weise angesprochen.
Die Entdeckerfreude der Kinder ist noch lange nicht ausgereizt und ich möchte noch viel Impulse setzen, sodass diese Gruppe sicher noch eine Weile gemeinsam musizieren wird.
Ideen
Während einer unserer Erzählrunden erwähnte Lisa die Orgel in unserer Kirche. Da alle sehr interessiert waren, werden wir uns wohl demnächst mit der Orgel beschäftigen. Viele weitere Ideen leiten sich aus den benannten möglichen Aktivitäten ab. Auf jeden Fall werden wir den anderen Kita-Kindern und auch den Kolleginnen unsere Musikaktivitäten vorstellen.
Vielleicht wird unser „Orchester“ innerhalb der Pfarre auf Tour gehen; diese Entscheidung überlasse ich weitgehend den Kindern, denn – wie gesagt – zunächst einmal ist das Musizieren für die Kinder reiner Selbstzweck.
Quelle der Sachanalyse:
Bayerischer Bildungs- und Erziehungsplan
Datum der Veröffentlichung: Dezember 2013
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