von Petra Cohnen

 

Mein „Beobachtungskind“ Ergün ist inzwischen 5;4 Jahre alt. Ich plane nun ein Kleingruppenprojekt, das die Interessen, Spiel- und Lernbedürfnisse von Ergün auf eine herausfordernde Weise anspricht: das Entdecken des sinfonischen Märchens „Peter und der Wolf“ (von S. Prokofjev). Ich möchte die Kinder anregen, das Märchen auch bildnerisch zu gestalten.

Mehr über Ergün erfahren Sie hier:
Ergün, 3;10 Jahre
Experimentieren mit der Kerzenflamme

Ergün und die Musik

So sehe ich Ergün zur Zeit:

Ergün ist sich seiner Rolle als Vorschulkind bewusst, die Anmeldung in der Schule hat er positiv erlebt, er freut sich auf die Schule.

 

… kurz gefasst …

Im Rahmen einer herausfordernden, passgenauen Förderung für den fünfjährigen Ergün initiiert die Autorin ein Kleingruppenprojekt, das Musik und Malerei zusammenbringt. Es zeigt sich, dass alle sechs Kinder, insbesondere aber Ergün, bei diesem Projekt begeistert mitmachen, es eigenständig weiter vorantreiben, dabei gut aufeinander eingehen und viel lernen.

Die Impulse, die die Autorin setzt, sind im besten Sinne fördernd und werden von Ergün und in geringerem Maße auch von anderen Kindern der Kleingruppe mit eigenen Impulsen beantwortet.

Er durchlebt derzeit eine wichtige Phase in seiner sozialen Entwicklung. Er hat häufig Auseinandersetzungen mit anderen Jungen, die ebenfalls Vorschulkinder sind. Er sucht diese Auseinandersetzungen, die sich auch in Rangeleien äußern.
Seine Mutter ist darüber eher unglücklich; Ergün berichtet zu Hause von den Streitereien. Das Bestreben der Mutter ist es, die Konflikte, die Ergün erlebt, zu beenden. Sie rät ihm, mit anderen Kindern zu spielen. Dies tut Ergün aber nicht.
Er will lieber sein selbst gewähltes Lernprojekt verfolgen: Auseinandersetzung mit anderen Kindern. Vermutlich findet er, dass es noch nicht abgeschlossen ist und er da noch was lernen kann.
Ergüns Mutter erhält von uns Unterstützung dahingehend, den positiven Wert der Auseinandersetzungen zu sehen und Ergün darin zu begleiten, diese Situationen zu bewältigen. Dies geschieht im engen Kontakt und Austausch mit uns, sodass alle Beteiligten über die jeweiligen „Vorfälle“ gut informiert sind und sich austauschen können.

Sein kleiner Bruder bedeutet ihm viel, genauso viel Wert legt Ergün aber auch darauf, Zeit alleine mit seiner Mutter zu verbringen.

Im Rahmen der Erlebnistage wird ein Theaterstück erarbeitet. Dabei übernimmt Ergün mit Begeisterung eine Rolle, hat viele Ideen, die Rollen zu gestalten und ebenso gute Ideen zur Gestaltung von Bühnenbild und Kostümen. Auch hier fällt Ergün deutlich „aus dem Rahmen“ der restlichen Vorschulkinder. Seine Kreativität und seine Ausdauer sind bemerkenswert.

Dies ist umso erfreulicher, als er bei „Standardanforderungen“ schon mal eher unkonzentriert und fahrig wirkt. Für die Eltern und uns ist es beruhigend zu wissen, dass es nur die passende Anforderung mit entsprechend freier Aufgabenstellung sein muss, um ihn zu begeistern.

Seit meiner letzten Praxisarbeit (für den Zertifikatskurs) vor drei Monaten ist Ergün stetig an Musik interessiert.
Unser Musikprojekt ist beschrieben in: Ergün und die Musik.

Im Anschluss an unser Musikprojekt meldeten die Eltern ihn auf unseren Rat hin in der Musikschule an.

Oft erzählt er von der Musikschule und den Fortschritten, die er macht. Selbst das häusliche Üben führt er gewissenhaft und mit Ehrgeiz durch, wie seine Mutter berichtet.

Kommentar Kursleitung:
Da hast Du also seine musikalische Begabung (durch eine große provozierende Beobachtung, das Projekt) früh erkannt und etwas Gutes angestoßen.

Mehr zu Ergün lesen Sie hier:

Ergün, 3;10 Jahre alt

Experimentieren mit der Kerzenflamme

Ergün und die Musik

Vorüberlegungen und Ziele

Vorüberlegungen
Die „Musikgruppe“ aus meiner letzten Praxisarbeit trifft sich immer noch und ist in der Zusammensetzung konstant geblieben.

Weiterhin stehen das Experimentieren mit Instrumenten und das Bauen eigener Instrumente im Vordergrund. So bauten die Kinder aus Papier Trichter als Mikrofone und experimentierten über mehrere Tage, wie der Trichter geformt sein muss, so dass er den Klang optimal weiterleitet. Aber auch das Erfinden eigener Musikgeschichten begeistert die Kinder nach wie vor.

Während der gesamten Zeit war und ist große Begeisterung zu spüren, was mich an Kilpatricks Definition gelungener Projektarbeit erinnert: “Eine von Herzen kommende, absichtsvolle Aktivität.“

Ich werde mit dieser Gruppe das sinfonische Märchen „Peter und der Wolf“ entdeckend erarbeiten und den Kindern unterschiedliche Farben, Pinsel, Stifte und Papiere zur kreativen Verarbeitung ihrer Eindrücke anbieten.
Ich entschied mich aus mehreren Gründen für  „Peter und der Wolf“:

    • Anknüpfend an unsere eigenen „Orchesterfahrungen“ werden im ersten Teil der CD Grundlagen der Orchesterarbeit beschrieben. So haben die Kinder die Möglichkeit, eigene Erfahrungen mit der Vorgehensweise eines professionellen Orchesters zu vergleichen.
    • Den Figuren im Märchen sind klar und eindeutig Instrumente zugeordnet. So haben die Kinder eine gute Möglichkeit, Zuordnungen wiederzuerkennen und zu bewerten – was auch das Gehör besonders gut schult.
    • Darüber hinaus erzählt die Geschichte vom Mut und der Klugheit Peters, der es schafft, mit Hilfe des Vogels den Wolf zu überlisten. Auch dies ist ein Aspekt, in dem sich insbesondere Ergün wiederfinden kann, da er häufig derjenige ist, der gute Ideen einbringt, aber auch andere einbezieht, um seine Ideen erfolgreich umzusetzen.

Den neuen Aspekt der bildnerischen Gestaltung wähle ich, da die beteiligten Kinder gerne malen und Ergün vor kurzem begeistert das Buch „Die Königin der Farben“ (siehe Bilderbücher, Sachbücher…) mit mir anschaute. Er war sehr angetan von der Verknüpfung von Gefühlen und Farben. Er verglich diese Verknüpfungen mit seinem Klavierspiel, bei dem er eine Melodie entdeckte, die für ihn „wie Liebe“ klang. Ich denke, das bildnerische Gestalten wird besonders für Ergün eine weitere Möglichkeit sein, seinem inneren Erleben Ausdruck zu verleihen. Außerdem kann er dabei neue Techniken kennenlernen Dinge darzustellen.

Wesentlich hierbei wird sein, dass er Erfahrungen macht, daraus Erkenntnisse zieht und dies im Kontext der Gruppe tut. So entwickelt sich (hoffentlich) ein sozialer Lernprozess.

Sollte die bildnerische Darstellung die Kinder nicht ansprechen, sind folgende Weiterentwicklungen des Themas denkbar, die ich dann aufgreife:
– Entwickeln einer Para-Komposition (Gleiches Musikstück mit anderen Instrumenten)
– Szenische Darstellung des Musikstückes
– Auseinandersetzung mit den Instrumenten
– Weitere Musikstücke hören

Ziele

    • Die Kinder können die Orchestermusik in ihrer gesamten Fülle erleben. So erweitern sie ihr Sachwissen; es erweitern sich aber auch ihre emotionalen Fähigkeiten, Stimmungen, Tempi und Ausdrucksformen wahrzunehmen.
    • Sie erfahren, dass der Gesamtklang durch einzelne Instrumente entsteht und hierfür jedes Instrument seine Bedeutung hat.
    • Die Kinder können entdecken, dass sowohl in ihrem eigenen Orchesterspiel als auch im Musikstück „Peter und der Wolf“ ein „Wohlklang“ nur durch die Zusammenarbeit von Orchester und Dirigent entsteht. Sie erfahren, wie wichtig im Orchester das klare Formulieren von Aussagen und das Einhalten von Absprachen sind.
    • Die unterschiedlichen Instrumente mit ihrem eigenen Klang erleben die Kinder als Ausdrucksform der jeweiligen Figur und sind eingeladen, diese Verknüpfung zu bewerten. So bilden sie ihre Fähigkeit, Gefühle und Empfindungen wahrzunehmen, und sie erleben, dass es hier unterschiedliche Bewertungen geben kann, die nebeneinander stehen können.
    • Eigene Empfindungen zur Musik den Anderen mitzuteilen und deren Beschreibungen zuzuhören, erfordert präzise Ausdrucksweise und genaues Zuhören.

Die Kinder üben sich in diesen Fertigkeiten und erhalten Beispiele und Anregungen, insbesondere durch Ergün, da er sehr sprachgewandt ist.

Ergün ist in der Lage, ein Thema vielschichtig zu betrachten und Ideen zu entwickeln, wie sein Vorgehen beim oben erwähnten Theaterspiel bewiesen hat. Ich gehe davon aus, dass ihn die Vielfältigkeit der klassischen Musik interessieren wird und er eine Fülle von Ausdrucksformen durch das bildnerische Gestalten finden und ausprobieren wird. Somit erweitert er sein Wissen über Ausdrucksmöglichkeiten.
Ergüns Interesse und Freude am Entdecken wird ihn veranlassen, sich intensiv mit verschiedenen Maltechniken auseinanderzusetzen. Er kann sein Wissen über Maltechniken, Farben mischen etc. ebenso erweitern wie seine feinmotorischen Fähigkeiten, wenn er mit Pinsel und Farben agiert.
Ich gehe davon aus, dass Ergün aufgrund seiner Ansprüche an sich selbst und der ihm gebotenen Impulse, Herausforderungen entdeckt, die er erfüllen möchte. Hier kann er lernen, sich mit Anderen über ein Problem auszutauschen und verschiedene Lösungswege kennenlernen.
Jedes der beteiligten Kinder kann seine eigene Form des Ausdrucks finden und in Bilder umsetzen.
Der Austausch über ihre Werke ermöglicht es den Kindern, ihre eigenen Bilder und die der Anderen Wert zu schätzen.
Der Austausch über ihre Bilder schafft den Kindern den Rahmen, sich von Anderen inspirieren zu lassen und Ideen weiter zu entwickeln.
Ihr bereits vorhandenes Grundwissen über Farben, Mischen und Maltechniken können die Kinder durch Ausprobieren, meine Impulse und Austausch mit den anderen Kindern ebenfalls erweitern.

Durchführung

1. Treffen

Bereit stehen der CD-Spieler mit CD und die Figuren des Märchens als Stofftiere. Ergün hat – wie immer – alle Kinder in der Turnhalle versammelt.
Wir sprechen über unsere Treffen, bei denen wir selbst Musikgeschichten erfunden haben und ich erzähle ihnen, dass ich heute eine Musikgeschichte auf einer CD mitgebracht habe.

Ergün möchte wissen, welche Kinder diese Musikgeschichte erfunden haben und wie die Kinder es geschafft haben, davon eine CD aufzunehmen. Er schlussfolgert gleich, dass dann ja wohl jemand mit Mikrofon in die Kita gekommen sein muss.

Ich stelle klar, dass diese Musikgeschichte nicht von Kindern in einer Kita erfunden wurde, sondern von einem Mann. Hier sehe ich den passenden Moment, den Kindern von Sergej Prokofjev zu erzählen. Ich erzähle ihnen, dass Prokofjev vor über hundert Jahren geboren wurde und in Russland lebte. Schon als Kind spielte er Klavier und mit fünf Jahren komponierte er sein erstes Musikstück. „Peter und der Wolf“ schrieb er erst, als er selbst Kinder hatte.

In diesem Stück gibt es viele verschiedene Instrumente, jedes Instrument steht für ein Tier oder eine Person. Kevin fragt nach, was „komponieren“ bedeutet und Ergün erklärt: “Das ist Musik, die in dir ist, also meistens so im Bauch und Kopf, und die du dann aufschreibst, mit den Noten. Weißt du noch, mit den Noten haben wir mal ein Spiel gemacht.“ Kevin genügt diese Information, aber Ergün fragt mich: “Ja, und wie ist die Musik nun auf die CD gekommen? Hundert Jahre ist viel mehr als meine Oma alt ist und die hat gesagt, als sie klein war, gab es noch keine CD.“

Kommentar Kursleitung:
Diese Frage ist doch sehr bemerkenswert für einen Fünfjährigen: Er verknüpft hier mit Leichtigkeit diverses altes und neu aufgenommenes Wissen auf wirklich unglaubliche Art!

Ich erkläre ihm, dass dieses Musikstück auch heute immer noch von vielen Orchestern gespielt wird und diese Aufnahme vor zwei Jahren in einem Tonstudio gemacht wurde. Das Gespräch dreht sich noch eine Weile um Tonstudios und Aufnahmemöglichkeiten.

Yves und Tobias wissen, dass man auch mit dem Kassettenrekorder Stimmen oder Musik aufnehmen kann.

Ergün sagt: „Vor zwei Jahren, da war ich drei.“ Allmählich beginnt Ergün, sich mit dem Thema „Zeit“ intensiver auseinanderzusetzen, was mich sehr freut, da er bis vor kurzem hier noch nicht so weit war.

Als Lisa fragt, warum denn die ganzen Stofftiere da liegen, erzähle ich ihnen die Geschichte von „Peter und der Wolf“ mit Hilfe der Stofftiere. Myra und Lisa kennen die Geschichte. So können wir die Geschichte mit verteilten Rollen erzählen. Myra übernimmt den Vogel und Lisa die Ente.

Es folgt ein reger Austausch über das Gehörte: Tobias erklärt etwas umständlich, dass Peter dem Vogel geholfen hat und der Vogel Peter zum Schluss ebenfalls, als dieser den Wolf gefangen hat. „Ja, die beiden haben sich gegenseitig geholfen“, sagt Ergün, „meinst du das?“ Ich bin erfreut über Ergüns Verhalten und sage ihm das. Er bietet Tobias eine Erklärung freundlich an und fragt darüber hinaus noch nach, ob sie passend ist.

Kommentar Kursleitung:
Hier zeigt sich ein starkes Sozialverhalten – und gleichzeitig zeigt sich hier auch das starke Optimierungsprogramm, das in hoch begabten Kindern offenbar ständig wirkt und sie zu nicht-umständlichen, sogar eleganten Lösungen antreibt.

Tobias ist ganz zufrieden und so kann die Unterhaltung noch eine Weile weitergehen.

Die Kinder spekulieren darüber, welche Instrumente Prokofjev wohl verwendet hat. Yves sagt: „Für den Vogel bestimmt ein Instrument, was leise und hoch ist. So wie die Töne auf meiner Mundharmonika.“
Wir hören nun den ersten Teil der CD und klären im weiteren Verlauf anhand von Bildern die unterschiedlichen Instrumente, die Prokofjev den Figuren zuordnete.

Ergün bemerkt: “Die Streichinstrumente teilen sich die Melodie für Peter, jedes spielt nur einen Teil und erst, wenn alle zusammen spielen, ist die Melodie ganz.“

Auch die anderen Instrumenten-Figurenpaare werden noch besprochen und alle Kinder sind beteiligt. Lisa: “Für den Großvater werden tiefe Töne gespielt, weil der schon alt ist“. Tobias fällt auf, dass die Gewehrschüsse ein eigenes Instrument haben, obwohl sie nicht Tier und nicht Mensch sind. Hier beginnt er zu klassifizieren und sortieren, eine Fertigkeit aus dem mathematischen Bereich, die ich als Ziel so gar nicht in den Blick genommen habe. Ich freue mich über seine Feststellung und sage ihm dies.

Nun sind alle ganz gespannt auf das Musikstück und wir hören den zweiten Teil der CD. Zunächst sitzen alle Kinder und lauschen der Musik und Erzählung. Als der Wolf ins Spiel kommt, setzen sich Yves und Ergün auf die Bank, Lisa läuft um die Bank herum. Mir wird schnell klar, dass die drei Kinder spontan die Geschichte szenisch darstellen wollen. Sie tun dies und sind gleichzeitig intensiv mit Zuhören beschäftigt.

Da Kevin, Myra und Tobias nicht mitmachen, aber sich durch die drei auch offensichtlich nicht gestört fühlen, greife ich nicht ein. Mir scheint, diese Form ist für die drei jetzt die passende Verarbeitungsmethode.

Mit begeisterten Blicken tragen die Kinder ihre Eindrücke des sinfonischen Märchens zusammen. Wir beschäftigen uns mit Fragen wie:

    • Finde ich, dass Instrument und Tier / Person zusammenpassen?
    • Was war besonders aufregend?
    • Wann war die Musik leise, wann laut, wann schnell und wann langsam?

Besonders Peter und der Vogel begeistern die Kinder. „Peter hat gut nachgedacht und der Vogel war so mutig und hat ihm geholfen“, sagt Ergün. Natürlich wird auch diskutiert, wie Peter den Wolf sonst noch hätte fangen können. Alle waren sich einig, dass es gut war, dass der Wolf noch lebt, da die Ente ja noch in seinem Bauch steckt.

Tobias, der erst kürzlich wegen einer Mandeloperation im Krankenhaus war, sagt: „Ich weiß, wie das mit einer Operation geht: erst kommt die Betäubung, danach merkst du nichts mehr, ist fast wie schlafen.“

Wäre das Gespräch nicht so anregend verlaufen, hätte ich folgende Impulse gegeben:
– Aus der Sicht einer der Figuren erzählen und über deren Gefühle berichten.
– Nachfragen: „Was denkt ihr über den Vogel, als er den Wolf ärgert?“
Da die Kinder aber ein reges Gespräch führen und deutlich ihre Gefühle über das Stück zum Ausdruck bringen, ist dies nicht notwendig. In einer abschließenden Runde sage ich ihnen, dass ich für das nächste Treffen Papier und Farben mitbringen werde, damit sie zur Musik malen können. Yves: “Ja, dann male ich den Wolf“, worauf Ergün sagt: “Und ich male, wie der Wolf wütend ist, dass er den Vogel nicht bekommt! Dafür brauche ich ganz viel Rot!“

2. Treffen

Zu unserem nächsten Treffen habe ich Wasserfarben, Borsten- und Haarpinsel, Papier und Pappteller zum Farben mischen bereit gestellt. Yves fehlt, ansonsten sind alle Kinder da. Sie möchten die Musikgeschichte hören und währenddessen malen.

Ganz bewusst lege ich nicht fest, wer was malt, sie sollen ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Die Kinder arbeiten konzentriert länger als eine Stunde. Es entstehen Bilder, die ausschließlich aus Farbflächen bestehen, Bilder in ganz kräftigen Farbtönen, aber auch Bilder, die aus zarten Farbtönen bestehen.

Es entstehen aber auch gegenständliche Bilder. Myra malt mehrere Bilder von der Ente. Jedes Mal ist die Ente in einer anderen Position, zuletzt ist sie inmitten eines großen, grauen Ovals zu sehen.

Während des Malens wird kaum gesprochen. Alle Kinder haben Vorerfahrungen mit Wasserfarben und auch mit dem Mischen von Farben, sodass ich nicht viel vorweg erklären musste.

Während unserer abschließenden Erzählrunde frage ich Myra, wo sich die Ente auf dem Bild mit dem grauen Oval befindet. „Die ist im Bauch vom Wolf und der ist innen und außen grau!“ Myra hat den Grauton mischen müssen, da kein Grau vorhanden war.

Kevin malt vier Bilder, die alle Fußspuren des Wolfes enthalten: “Der Weg vom Wolf ist so lang, da musste ich so viele Bilder malen“, sagt Kevin. Diese Äußerungen der Kinder zeigen mir, dass sie sich intensiv mit dem sinfonischen Märchen auseinandergesetzt haben und ihre Eindrücke gut verarbeiten konnten.

Ergün malt während der gesamten Stunde ausschließlich an einem einzigen Bild. Er malt, wie angekündigt, das Bild vom wütenden Wolf. Er hat verschiedene Rottöne gemischt und viel Zeit auf das Mischen verwendet. Sein Bild wirkt sehr lebendig und zeigt ineinander übergreifende Flächen unterschiedlicher Rottöne. In der Mitte ist das Rot sehr intensiv, darin sind zwei schwarze Punkte zu sehen. Ergün erklärt: “Hier in der Mitte sitzt die schlimmste Wut und auch die Augen vom Wolf.“

Tobias malt mit Borsten- und Haarpinsel abwechselnd, was eine unterschiedliche Linienführung auf dem Papier hinterlässt. Davon ist er so fasziniert, dass er mehrere mehrfarbige Bilder dieser Art malt. Auf meine Frage, wie es beim nächsten Treffen weitergehen soll, sagen die Kinder, dass sie noch viele Ideen haben und weiter malen wollen.

Weitere Treffen

Wir treffen uns in den folgenden Wochen regelmäßig ein- bis zweimal die Woche.

Ergün ist es jedes Mal ein Anliegen, gemeinsam mit mir die Vorbereitungen zu treffen. Farben und Papiere müssen besorgt, Tische getragen und Stühle organisiert werden, damit alle gut malen können. Ihm ist diese Zeit mit mir allein wichtig und er stellt viele Fragen zum Musikstück und äußert viele Ideen zu Bildern, die er noch malen will. So sagt er: “Frau Cohnen, wenn der Herr Prokofjev (den Namen hatte er behalten!) so tolle Musik geschrieben hat, muss er ganz viele Farben in sich haben.“ Auf meine Frage, warum er so denkt, sagt Ergün: “Weißt du, die Musik geht in meine Ohren rein und mein Kopf macht daraus Farben, vielleicht ist das bei Herrn Prokofjev auch so!“ Ich bin begeistert von seiner Erklärung und freue mich für ihn, dass er so empfindet. Mindestens genauso erfreut bin ich aber auch darüber, dass er mir diese Gedanken mitteilt. Ich sage ihm, wie froh ich darüber bin und dass Musik auf mich eine ähnliche Wirkung hat. Wir unterhalten uns noch eine Weile darüber, wie wir Töne wahrnehmen und ich erzähle ihm, dass der Maler Kandinsky ebenfalls Töne in Farben umsetzen konnte. Ergün: “Dann sind wir ja schon drei Leute, die das spüren.“ Er wirkt sehr zufrieden und widmet sich dann seiner Aufgabe, die anderen Kinder zu holen.

Dieses kurze Gespräch zeigt mir noch einmal eindrucksvoll, dass hoch begabte Kinder anders denken und in diesem Fall intensiver oder oft auch anders empfinden.

Während eines weiteren Treffens malen die Kinder auf dicker Pappe mit dicker Malfarbe. Nachdem alle Kinder beim letzten Mal intensiv Farben gemischt haben, sind sie nun sicherer darin, bestimmte Mischfarben aus den Grundfarben herzustellen und tun dies auch mit Begeisterung.

Ergün und Lisa reicht das allein nicht aus und sie beginnen, eine Farbskala zu entwerfen, ähnlich dem Farbkreis von Itten.

Ich greife ihre Idee lobend auf und die anderen Kinder betrachten die Arbeit von Ergün und Lisa mit Interesse. Nun wird die Farbskala der beiden gerne benutzt, um die Grundfarben für komplizierte Mischfarben, wie Blaulila zusammenzustellen. Auch hier wird wieder deutlich, dass Ergün und Lisa die gestellte Aufgabe nicht nur erfüllen, sondern aus eigenem Antrieb erweitern und eine eigene Systematik schaffen.

Lisa hat auf ihrer Mischpalette eine dicke Farbschicht aufgetragen und fährt mit dem Borstenpinsel immer wieder darüber. “Guck mal, Ergün“, sagt sie, „der Pinsel macht ganz feine Linien!“ Ergün schaut ihr zu, entdeckt einen Bleistift und zieht mit dem oberen Ende des Stiftes Linien durch die dicke Farbschicht. „Schau mal, Lisa, ich kann mit dem Bleistift weiße Linien in der braunen Farbe malen“. Beide sind von ihrer Entdeckung sehr angetan und bald beginnen Yves, Ergün, Lisa und Tobias Kratzbilder zu malen.
Ergün: “Aber eigentlich ist das kein Malen, weil ich die Farbe ja wieder wegmache. Das sind bunte Bilder und trotzdem sieht es aus, als wäre Nebel auf dem Bild.“

Ich frage, ob er mir das genauer erklären kann und er sagt: “Ja, schau mal, ich male ein Haus, aber das Haus hat keine Farbe, so ist das auch bei Nebel, da sehen alle Dinge farblos aus.“ Ich bin (wieder einmal) begeistert von seiner präzisen Beobachtung, seiner Kombinationsgabe und seinen sprachlichen Fähigkeiten.

Weitere Bilder, die Ergün malt, zeigen einen Himmel, dessen Farbe er lange gemischt hat, weil er die Himmelsfarbe des aktuellen Tages präzise zu mischen versucht. Dies gelingt ihm nicht ganz und er wird ungeduldig. Mit Lisa und Tobias gemeinsam überlegt er, wie er weiter vorgehen soll. Nach einer Weile kommt er zu dem Schluss, dass es nicht ganz genau stimmen muss, schließlich sei es ja ein Bild und kein Foto! Erleichtert darüber, dass er sich selbst die Erlaubnis gibt, nicht perfekt sein zu müssen, sage ich ihm, dass dies für viele Erwachsene, die sich schon lange mit dem Malen beschäftigen, auch eine ganz schwierige Sache sei.

Unsere Treffen finden ihren Abschluss regelmäßig in einer Erzählrunde, zu der seit einer Weile auch immer Kekse und Kakao gehören. Dies war Tobias‘ Idee, der, wie er sagte, nach dem Malen immer sehr hungrig war. So übernahm er die Aufgabe, zum Ende hin aus der Gruppe das Nötige zu holen. Dies ist für mich ein Zeichen für den Zusammenhalt und die Verbundenheit, die diese Gruppe auszeichnet.

Ich selbst brauche nur wenige Impulse zu setzen, alle achten einander und aufeinander. Kevin wird unsere Kita am Jahresende verlassen, weil er umzieht. Bedauernd hat er schon festgestellt, dass er dann nicht mehr Musik machen und malen kann.

Während der Erzählrunden erklären die Kinder bereitwillig ihre Werke. Fast immer finden die anderen anerkennende Worte für ein Bild: “Du hast die Farben wunderschön gemischt“, sagt Yves, oder Myra: „So, wie du die Katze gemalt hast, kann man richtig sehen, dass sie schleicht“.

Kurz vor einem unserer Treffen entdeckt Ergün in meinem Büro ein neues Bild an der Wand. Es ist in der Form eines Triptychons gemalt und Ergün betrachtet es sehr nachdenklich, sagt aber nichts weiter. Während des Treffens sagt er dann, er brauche heute mehr Platz als sonst und drei Blätter. Ich ahne, was er plant.

Er arbeitet über eine Stunde lang intensiv an seinem Bild, auf dem der Baum und die Katze auf dem hohen Ast zu sehen sind. Die Sonne platziert Ergün so, dass sie exakt in der Mitte zweier Papierbögen liegt. Der Baumstamm befindet sich auf dem mittleren Bogen und die Äste reichen über alle drei Bögen hinweg.

Ergün arbeitet fast schweigend und sieht sehr zufrieden aus. Den fragenden Kindern sagt er, er wolle erst fertig malen, dann erklären. Das tut er dann am Ende auch und die Kinder freuen sich mit ihm über sein tolles Bild. Yves, Tobias und Lisa wollen beim nächsten Mal ebenfalls ein solches Bild probieren und bitten Ergün, ihnen dabei zu helfen. Ergün ist sehr gerne bereit, dies zu tun.

Da die Kinder immer noch neue Ideen haben und diese umsetzen wollen, ist das Projekt noch nicht beendet. So kann die in der Aufgabenbeschreibung (für den Zertifikatskurs) geforderte Analyse lediglich ein Zwischenergebnis darstellen.
Folgende Fragen erscheinen mir zur „Zwischenbilanz“ des Projektes sinnvoll:
1. Wie gefallen dir unsere Treffen bis jetzt?
2. Möchtest du weiter mitmachen?
3. Wenn ja: Was möchtest du noch machen?
4. Wenn nein: Gibt es etwas, was du brauchst, um weiter mitzumachen oder ist es für dich jetzt einfach gut so?
5. Was hast du Neues entdecken können?
6. Was hast du geschaffen?
7. Was konntest du ganz alleine tun, wobei brauchtest du Hilfe?
8. Wenn du Hilfe brauchtest, von wem hast du sie erhalten?
9. War die Hilfe so, dass du danach alleine weitermachen konntest?
10. Wie gefällt dir die Zusammenarbeit mit den anderen Kindern?
11. Wer konnte was besonders gut?

Siehe auch: Förderung in Projekten.

Ähnlich unseren Erzählrunden am Schluss eines Treffens, besprechen wir in lockerer Folge die einzelnen Fragen. Es wird deutlich, dass alle Kinder weiter mitmachen möchten. Da Kevin unsere Kita verlässt, kann er nicht weiter mitmachen. Darum antwortet er auf die vierte Frage, dass wir ihn in der neuen Kita anrufen sollen, wenn wir uns treffen, damit er kommen kann. Ergün erklärt ihm, dass das wohl nicht gehen wird, da er ja nicht alleine zu uns kommen kann und seine Eltern ja arbeiten gehen. Kevin gefällt das nicht besonders, er ist aber halbwegs zufrieden, als er von mir hört, dass er im neuen Kindergarten sicher auch malen und Musik hören kann.

Auffällig ist, dass die Kinder auf die 8. Frage häufig Ergün benennen. Mich freut das, da Ergün also mit seinen Fähigkeiten von den anderen Kindern gesehen wird. Darüber hinaus zeigt diese Antwort, dass sie ihre Kompetenzen untereinander sehr wohl zu nutzen wissen und nicht häufig auf mich als Erwachsene zurückgreifen mussten.
Unterschiedliche Kompetenzen werden auch bei Frage 11 benannt. So sagt Myra, dass Lisa die Geschichte gut erzählen konnte und Yves benennt Tobias‘  Farbauswahl.
Ergün beteiligt sich intensiv an dem Gespräch und benennt als neue Entdeckung die vielen Farben in seinem Kopf, wenn er „solche“ Musik hört. Er möchte noch ausprobieren, ob man auch gut auf Steinen und Holz malen kann und welche Farben dazu benutzt werden können. Außerdem haben wir vor längerer Zeit über Höhlenmalerei gesprochen. Er weiß noch, dass einige dieser Farben aus Pflanzen gemischt wurden, auch das möchte er ausprobieren. Aber: Zusammen mit den anderen Kindern, weil es so „gemütlich“ ist, sagt Ergün.
Wow! Die Kleingruppenerfahrungen haben ihm ein neues, positives Bild vom Zusammenwirken mit anderen Kindern beschert.

Reflektion

Ich bin der Auffassung, meine Ziele zu einem großen Teil erreicht zu haben. Die Kinder haben mit Freude das neue Musikstück gehört, die Instrumente kennengelernt und sind über die Instrument-Figur-Zuordnungen intensiv ins Gespräch gekommen. Sie haben argumentiert, sich ausgetauscht, die Meinung der Anderen angehört und sich eine eigene Meinung gebildet.
Die für die Kinder neue Musik haben sie begeistert aufgenommen und die daraus entstandenen Eindrücke vielfältig umgesetzt.
Ergün selbst hat eine Fülle von Maltechniken ausprobiert und zeigte deutlich die intensivste Auseinandersetzung mit dem gesamten Thema. Wie ich vermutete, suchte er selbst nach einer für ihn passenden Herausforderung: Das Malen eines Triptychons.

Besonders freut mich, dass er diese Erfahrungen im Austausch mit den anderen Kindern gemacht hat und angibt, dass ihm dies auch für die Zukunft wichtig ist. Somit hat meines Erachtens ein sozialer Lernprozess stattgefunden. Ergün wurde als Experte von den anderen Kindern angefragt, konnte aber ebenso gut die Unterstützung der anderen annehmen, als er unzufrieden über die Farbe seines Himmels war. Also ein echtes Geben und Nehmen.

Ich denke, die Reaktionen der Kinder zeigen, dass meine Angebote und Impulse ausreichend und angemessen waren, sowohl für Ergün, als auch für die anderen Kinder.
Da es offene Anregungen waren, konnte jedes Kind gemäß seinem Entwicklungsstand und seiner Neigung die Aufgaben angehen. Ich selbst hatte Probleme, mich zu bremsen, um die Kinder nicht mit weiteren Impulsen zu überfrachten, aber: ich lerne.
So hat sich durch diese Projektphase eine Lernmöglichkeit für alle Beteiligten ergeben, die auch Auswirkung auf die anderen Kinder der Kita hat. Die Projektkinder erzählten in den Gruppen begeistert von ihrem Tun. Ihre Kunstwerke wurden gemeinsam angeschaut und fanden ihren Platz in den Gruppen.

Bei der geplanten Veränderung unserer Arbeit hin zum Teiloffenen Konzept wird die Einrichtung eines Ateliers sicher eine große Rolle spielen und diese Kinder werden als Experten an der Einrichtung des Ateliers sicher beteiligt.

 

Datum der Veröffentlichung: Januar 2014
Copyright © Petra Cohnen, siehe Impressum