von Petra Cohnen

 

In einer Literaturhausaufgabe im IHVO-Zertifikatskurs hatte ich mich u.a. mit Passagen aus:

„Zu Entwicklungsschwierigkeiten hoch begabter Kinder und Jugendlicher in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt“ (Barbara Schlichte-Hiersemenzel)

auseinander zu setzen.

Der Text legt dar, dass die frühe Erkennung eines besonders begabten Kindes wichtig ist. Das hat mich angeregt, über mögliche und notwendige Veränderungen in meiner Kita nachzudenken.

Schlichte-Hiersemenzel schildert anschaulich, welche psychischen Prozesse bei Kindern ablaufen, die mit ihrer Begabung nicht erkannt werden und sich im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Ausleben eigener Interessen befinden.

1.
Damit ein hoch begabtes Kind seine Fähigkeiten entfalten, seinen Wissensdrang ausleben und sich als Teil der Kita-Gruppe oder der Klassengemeinschaft erleben kann, ist eine nur selektive Förderung außerhalb der Gruppe nicht ausreichend. Das Kind braucht die Anerkennung und die Wertschätzung seiner Person als Teil einer Gemeinschaft. Erst dann erfährt das Kind sich als gleichwertiges Gruppenmitglied und kann sich mit seiner Begabung zeigen.

Deshalb denke ich daran, Spiel – und Lernangebote in unseren Kita-Gruppen so zu gestalten, dass unterschiedliche Schwierigkeitsgrade vorhanden sind.

So kann beim Thema „Luft – Fliegen“ für einige Kinder das Interesse darin bestehen, einfache Unterscheidungen zu treffen zwischen Dingen, die fliegen, und solchen Dingen, die es nicht tun.
Andere Kinder wollen vielleicht herausfinden, warum dies so ist und beschäftigen sich intensiver mit dem Thema. Hier ist es Aufgabe der Erzieherin oder später der Lehrerin, ein eigenständiges, im Schwierigkeitsgrad flexibles Lernen zu ermöglichen.

Wesentlich ist, dass die Kinder ihre Ergebnisse den anderen mitteilen und sie teilhaben lassen an dem, was sie entdeckt haben. Diesen Austausch zu ermöglichen, darin liegt eine wichtige Aufgabe der Erzieherin / Lehrerin. So entsteht eine Verbindung zwischen den Kindern, ein soziales Gefüge, welches zeigt, dass jeder mit seinem Wissen und seinen Fähigkeiten zu dem Ergebnis beigetragen hat. Als Methode eignen sich hierfür Infotheken meines Erachtens wunderbar.

Gelingt es der Erzieherin, selbst eine wissbegierige, tolerante Haltung einzunehmen, wird dem Kind damit vermittelt, dass es gut ist, zu fragen, zu zweifeln und nach Antworten zu suchen.

2.
Die Diskrepanz zwischen innerem Erleben und Aussagen von außen (Beispiel Till bei Schlichte-Hiersemenzel) halte ich für sehr bedeutsam. Wenn hoch begabte Kinder mit der Erwartung an eine neue Kita-Gruppe oder Klassengemeinschaft herangehen, dass es für sie dort „gut“ ist, sie aber erleben, dass sie nicht gesehen werden, sich langweilen und ausgegrenzt sind, stellt dies für die Kinder eine Belastung dar. Oft stellen sie sich selbst in Frage, da ihr Erleben nicht mit der Einschätzung der Eltern / Erwachsenen übereinstimmt.

Hier wird deutlich, wie notwendig es ist, dass die Eltern im Vorfeld klären, welche Möglichkeiten der Förderung eine Kita / Grundschule bietet und welche grundsätzliche Haltung die jeweilige Institution in Sachen individuelle Förderung einnimmt.

Für die Kita ist es wichtig, den Eltern diesen Gedanken nahe zu bringen und sie darin zu bestärken, diesen Aspekt bei der Kita- oder Schulwahl in den Vordergrund zu rücken.

3.
Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen Kita und Grundschule wird ebenfalls noch einmal deutlich.
Solange hoch begabte Kinder Lehrer durch ihr Verhalten und ihren Wissensdrang eher verwirren und den „regulären Ablauf“ im Unterricht stören, wird sich kein hoch begabtes – aber auch kein eher weniger begabtes – Kind in der Schule aufgehoben und anerkannt fühlen. So produziert Schule Ausgrenzung und Menschen mit problematischem Schul-Lebenslauf.

Hier erscheinen mir Lehrerfortbildung und ein grundlegender Wandel in der Lehrerausbildung dringend nötig. Der persönlichkeitsbildende Aspekt von Schule wird meines Erachtens häufig zugunsten der reinen Wissensvermitlung als zweitrangig betrachtet.

Dass es auch anders geht, erlebe ich mit unserer benachbarten Grundschule. Wir haben Vereinbarungen zum Übergang von der Kita zur Grundschule entwickelt. Ein Schwerpunkt hierbei ist, die individuellen Lernwege der Kinder, die in unserer Kita ihren Raum haben, auch in der Schule fortzusetzen. Auch diese Schule unterliegt den allgemeinen Lehrplänen und zeigt trotzdem, dass Beides miteinander zu vereinbaren ist: kindbezogene, individuelle Förderung und das Einhalten von allgemeinen Lernzielen.

Als nächsten Baustein unserer Zusammenarbeit planen wir die zeitweilige Teilnahme von besonders begabten Kita-Kindern an Unterrichtsstunden in der Schule.

4.
Wesentlich ist für mich auch die Begleitung der Eltern. Durch den Artikel von Schlichte-Hiersemenzel wird für mich sehr deutlich, dass Eltern hoch begabter Kinder sich oft allein gelassen fühlen. Der Anpassungsdruck lastet nicht nur auf ihren Kindern, sondern häufig auch auf den Eltern. Wer möchte schon, das sein Kind immer „aus dem Rahmen fällt“? Durch ihre eigene Irritation, bezogen auf die hohe Begabung ihres Kindes, sind sie oft nicht in der Lage, ihrem Kind die nötige Unterstützung zu geben.

So erleben sich hoch begabte Kinder manchmal als Belastung für ihre Eltern. Hier brauchen Eltern Informationen über Fördermöglichkeiten für ihr Kind. Auf jeden Fall brauchen sie aber adäquate Gesprächspartner, um mit ihren eigenen Ängsten, Befürchtungen und auch Hoffnungen, die mit der Hochbegabung zusammenhängen, nicht allein zu sein, sondern Beratung zu finden.

Diese Unterstützung der Eltern kann – nach entsprechender Fortbildung – durch Erzieherinnen in der Kita geschehen. Die Transaktionsanalyse, so wie viele weitere Ansätze bieten da gute Möglichkeiten…

Auch unter dem Aspekt der Zunahme von Kleinfamilien und der damit verbunden geringeren Chance, innerfamiliär auf Kinder mit gleichem Begabungspotential zu treffen, bietet die Kita begabten Kindern umso mehr ein Forum – vor allem dann, wenn in der Kita deutlich mehr als die statistisch zu erwartenden 2-3 % hoch begabte Kinder betreut werden.

Deshalb werde ich das, soweit wir es beeinflussen können, für unsere Kita anstreben.

Ich wünsche mir, dass diese Einsicht in den meisten Kitas um sich greift.
Hier gibt es sicher noch Aufklärungs- und Handlungsbedarf, hoch begabte Kinder zu erkennen und sie im Kontext ihrer Familie zu fördern, wobei der Aspekt der Förderung sich nicht ausschließlich auf die Bereiche der hohen Begabung bezieht, sondern ebenfalls auf die Befähigung, sich als Mitglied einer Gemeinschaft erleben zu können. Dies setzt natürlich voraus, dass es eine Gemeinschaft (Gruppe) gibt, die dieses Zugehörigkeitsgefühl zulässt.

Womit eine weiteres Ziel benannt wäre, nämlich die Förderung der Toleranz und Sensibilität aller Kinder einer Gruppe / Kita / Schule. Hoch begabte Kinder denken, reden und handeln anders – sie brauchen die Toleranz der anderen.

Und dies, so bin ich überzeugt, lässt sich am besten durch die eigene Haltung der Erzieherin / Lehrerin erreichen.

 

Datum der Veröffentlichung: September 2013
Copyright © Petra Cohnen, siehe Impressum